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Wie die coronabedingten Schulschliessungen die soziale Ungleichheit in der Schweiz verstärken

Valentina Petrovic
11th Mai 2020

Die Schulschliessungen Mitte März brachte viele Familien in grosse Schwierigkeiten. Trotz Fernunterricht und grossen Anstrengungen von Seiten der Schule und Lehrerschaft hat diese Ausnahmesituation die sozialen Ungleichheiten zwischen den Kindern mit und ohne Migrationsvordergrund in der Schweiz noch weiter verschärft. 

Auch wenn sich der Alltag für ausnahmslos alle Familien seit dem 16. März verändert hat, bestehen enorme Unterschiede hinsichtlich der Auswirkungen des Ausnahmezustands auf die Kinder. Nebst Haushalt und Home Office mussten viele Eltern von einem Tag auf den andern auch die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer übernehmen. Dies überfordert aber viele Familien, vor allem jene, welche der deutschen Sprache nicht mächtig sind oder ihre Ausbildung nicht in der Schweiz absolviert haben, also in erster Linie Migrantinnen und Migranten.

„Der Traum eines jeden Bauern ist es, dass sein Kind Arzt wird.“[1]

Heute sind es nicht mehr Bauern, die diese Hoffnung hegen, sondern Migrantinnen und Migranten. Sie selber gehören häufig der Arbeiterklasse an und haben einen niedrigeren Ausbildungsstand. Oftmals überlappen sich ihre unsicheren und prekären Arbeitsverhältnisse mit einem niedrigen Bildungsniveau. Somit haben ihre Kinder mit einer doppelten Ungleichheit zu kämpfen. Sie weisen sowohl weniger ökonomisches Kapital als auch ein niedrigeres Bildungsniveau auf.

Die Ausganglage der Kinder innerhalb einer Klasse ist somit ungleich, denn es haben eben nicht alle Kinder die gleichen Möglichkeiten. Die geselllschaftliche Institution Schule wird deswegen von vielen Familien als Chance für einen sozialen und ökonomischen Aufstieg ihrer Kinder gesehen. Durch die Schulausbildung in der Schweiz und das Beherrschen der Landesprache erhoffen sich die Eltern, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden, und nicht niedrigqualifizierte oder körperliche Schwerstarbeit leisten müssen. Damit dies aber möglich ist, sind Eltern stark auf das Funktionieren des täglichen Schulsystems und deren Lehrerinnen und Lehrer angewiesen. Besonders in Zeiten des landesweiten Stillstands kommen diese Mechanismen der Bildungsinstitution zum Vorschein.

Das Coronavirus hat auch das Bildungssystem unerwartet getroffen.

Lehrerinnen und Lehrer hatten nach der bundesrätlichen Ankündigungen, die Schulen zu schliessen, nur wenig Zeit, provisorische Lösungsansätze für den Fernunterricht bereitzustellen. Doch auch wenn Umstellung auf den digitale Unterricht im Grunde genommen klappte, müssen Kinder die erteilten Aufgaben alleine lösen. Klar ist, dass dabei Kinder, welche in Familien aufwachsen, in denen die Eltern Deutsch sprechen, das Schulsystem der Schweiz oder benachbarter Länder kennen und selber besser gebildet sind, einen Vorteil haben.

Ungleichheit wird in Zeiten des Coronavirus reproduziert. Die individuelle Bewältigung der Situation durch die Kinder hängt darum nicht zuletzt vom Faktor Glück ab, d.h. davon, ob beispielsweise jemand in der Nachbarschaft bereit ist, unentgeltlich Nachhilfe geben. Dagmar Rösler, die Zentralpräsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, sagt es so: „In der Tat bereitet dies den Lehrerinnen und Lehrer die grösste Sorge. Die verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen der Familien, welche wir Lehrer geahnt haben, kommen nun in der Krise an die Oberfläche. Ich hoffe ganz stark, dass sich die Politik dazu bereits angefangen hat, Gedanken zu machen.“[2]

Die Wiedereröffnung der Schulen löst das Problem nicht automatisch

Ab heute, dem 11. Mai, können die Kinder in der Schweiz nach vielen Wochen zu Hause wieder zur Schule gehen. Auf Grund der qualitativ unterschiedlichen Bewältigung des Home Schooling wäre es wichtig, staatliche Ressourcen bereit zu stellen, um die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft darin zu unterstützen, den Faden nicht ganz zu verlieren. Dies könnte beispielsweise in Form zusätzlicher Förderungsstunden ober durch Nachhilfeunterricht erfolgen.

Dies würde auch Dagmar Rösler begrüssen, denn die Erfahrung zeigt, dass individuelle Betreuung sehr viel Nutzen bringt: „Früher gab es in vielen Kantonen Heilpädagogen, welche Familien über längere Zeit zu Hause unterstützt haben. Leider wurde dies aus Kostengründen gestrichen.“[2]

Es wäre dabei aber von ungeheurer Wichtigkeit, jetzt eine Diskussion anzuregen und Lösungsvorschläge zu präsentieren, damit das Schulsystem die benötigten Strukturen aufbauen kann. Ansonsten wird die soziale Ungleichheit zwischen den Kindern durch die vom Coronavirus ausgelösten Krise nicht nur bestehen bleiben, sondern zunehmen.

Im Sinne der zukünftigen Generation wäre es angebracht, nicht nur über Milliardenkredite für Unternehmen zu debattieren, sondern auch die Situation derer zu betrachten, die selten gehört oder gesehen werden. Nicht zu vergessen, dass das Home Office für Familien wenig privilegierter Schichten größtenteils nicht gilt: Arbeiten im niedrigqualifizierten Dienstleistungssektor, in der Baubranche, in der Pflege oder in der Reinigung werden zu einem grossen Teil von eben diesen Eltern verrichtet, ohne die es in den letzten Wochen in der Schweiz nicht gegangen wäre.


[1] Zitat aus einem persönlichen Gespräch mit Fawwaz Traboulsi, Professor für Politikwissenschaft und Geschichte an der AUB (American University Beirut), Datum?

[2] Persönliches Interview der Autorin mit Dagmar Rösler (via Zoom, 03.04.20)


 Bild: Pädagogische Hochschule Zürich