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Kampf der Narrative: Diskursive Antworten auf die Coronavirus-Pandemie

Leslie Ader
4th Mai 2020

In dieser Zeit der Pandemie gab es heftige Debatten um das Coronavirus (COVID-19), von seiner hohen Infektionsrate bis hin zu den Massnahmen zur Eindämmung und der Verfügbarkeit von Tests. Unter diesen heftig debattierten Themen hat sich die Herkunft des Virus als eines der umstrittensten durchgesetzt, was Frustration und Schuldzuweisungen an "Andere" provozierte. Dieses Schuldzuweisungsspiel zeigte sich bei Spitzenbeamten bis hin zur durchschnittlichen Person, die in sozialen Medien postet. Daher stellt sich die Frage: Welches sind diese Diskurse und Narrative?

Im Verlauf der Menschheitsgeschichte sind Pandemien gekommen und gegangen, vom Schwarzen Tod (1347-51; 200 Millionen Tote) über die Pocken (1520; 56 Millionen Tote) bis zur Spanischen Grippe (1918-19; 50 Millionen Tote) (LePan 2020). Jede dieser Pandemien hat entweder ihre Spuren bei den Menschen und in der Geschichte hinterlassen und einer bestimmten Gruppe geholfen, eine andere zu besiegen, oder der Menschheit geholfen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, um uns auf das nächste Supervirus vorzubereiten. Dies lässt sich daran ablesen, wie die Menschen im Laufe der Zeit Immunität gegen bestimmte Viren erlangt haben und wie die Gesellschaft gelernt hat, Superbakterien abzuschwächen oder kontrollieren. Gegen was die Menschen jedoch nicht immun sind, sind Angst und Panik. Dies sind die treibenden Kräfte, die die Menschen dazu bringen, sich gegeneinander zu wenden, Schuld zuzuweisen oder, in gesellschaftspolitischer Hinsicht, den Feind zu schaffen.

Erschaffung des Feindes

In Zeiten von Unsicherheit und Schock ist es eine menschliche Reaktion, jemandem die Schuld für etwas zu geben, besonders wenn "es" bedrohlich ist, wie Stanley Cohen in seiner Theorie der moralischen Panik nannte, "ein Zustand, eine Episode, eine Person oder eine Gruppe, die zu einer Bedrohung gesellschaftlicher Werte wird oder als solche definiert wird (Cohen, Stanley 2011)". Historisch gesehen waren oder sind solche Gruppen das jüdische Volk, die Roma, die Afroamerikaner und viele andere (Pettigrew und Tropp 2008). Im Fall des Coronavirus ist der Feind jedoch ein Virus, das schwer zu begreifen und zu verstehen ist. Die Menschen neigen dazu, einen greifbaren und sichtbaren Feind zu finden, der in der gegenwärtigen Situation zwischen zwei herrschenden Nationen bestimmt wird: China und den USA.

Diskursmuster: Panik und Schuldzuweisung auf der Makroebene

Als sich die weltweite Verbreitung von COVID-19 abzeichnete, reagierten viele Länder unterschiedlich auf die Entwicklung der Pandemie. Während die europäischen Länder sich einschlossen, um das Virus möglichst einzudämmen, verfolgten die USA den entgegengesetzten Ansatz. Am 16. März schuf Präsident Trump einen Feind, den die Menschen über einen Tweet akzeptieren konnten. In diesem Tweet gab er China die Schuld, indem er COVID-19 als fremdes Virus titulierte. Am selben Tag noch behauptete er an einer Pressekonferenz, dass es sich bei dem Virus um ein "chinesisches Virus" handle. Dieser Kommentar löste auf Social-Media-Plattformen heftige Debatten darüber aus, ob der Kommentar rassistisch oder fremdenfeindlich war.

Im Gegenzug gab die chinesische Regierung Erklärungen in den sozialen Medien und im staatlichen Fernsehen heraus und versuchte, das Narrativ neu zu gestalten und zu kontrollieren, indem sie die Schuld wieder auf die USA abwälzte. In diesen Erklärungen behaupteten sie, dass "die USA das Virus während militärischer Übungen nach China gebracht haben". Diese Behauptung wurde von einem chinesischen Regierungsbeamten auf Twitter weiter hervorgehoben. Andere Beamte behaupteten, das Virus sei in einem Militärlabor erzeugt worden, so der chinesische Botschafter in den USA, Cui Tiankai. Der Kampf um die Kontrolle der Erzählungen über die Ursprünge des Virus dauert an (Anon 2020).

Machtsicherung anstelle von ermächtigenden Sicherheitsmassnahmen

Ähnliche Reaktionen auf das Virus zeigten sich in Ungarn. Am 13. März erklärte Ministerpräsident Viktor Orbán gegenüber der Presse, dass das Virus aufgrund von Migration und Ausländern nach Ungarn gelangt sei. Er versicherte, dass "unserer Erfahrung nach vor allem Ausländer die Krankheit eingeschleppt haben und dass sie sich unter Ausländern ausbreitet", und fügte später hinzu: "Es ist kein Zufall, dass das Virus zuerst unter Iranern aufgetaucht ist". Dies führte zur Ausweisung von zwei iranischen Studenten aus Ungarn, weil sie "die Quarantäne verletzt und das Krankenhaus ohne Schutzausrüstung verlassen hatten". Am selben Tag schloss Ungarn seine Grenzen. Die Begründung des Ministerpräsidenten lautete: "Wir führen einen Zwei-Fronten-Krieg, die eine Front heisst Migration und die andere ist das Coronavirus. Zwischen beiden besteht ein logischer Zusammenhang, nämlich, dass sich das Virus mit der Migrationsbewegung verbreitet (AFP 2020; Gall 2020)".

Auch wenn der Premierminister die Realität, dass die Welt globalisiert ist und die Menschen mobil sind, nicht akzeptieren mag, so hat er doch die politische Chance, die ihm die Krise bietet, um seine Macht zu festigen, nicht ignoriert. Als die Fälle in Ungarn zunahmen, brachte Orbán am 21. März einen Gesetzentwurf ins Parlament ein, der seine Notstandsbefugnisse auf unbestimmte Zeit ausdehnt und es ihm erlaubt, per Dekret zu regieren und Strafen für die Förderung dessen zu verhängen, was seine Regierung als "Fake News" betrachtet (Edr 2020; Zalan 2020). Zu diesen gefälschten Nachrichten würde in diesem Fall jede Person gehören, die dem Narrativ von Fidesz nicht zustimmt und würde dementsprechend lange Gefängnisstrafen erhalten. Leider wurde dieser Gesetzesentwurf Ende März vom Parlament angenommen.

Die Neigung bestimmter politischer Führer, in Krisenzeiten Schuld zuzuweisen und einen Sündenbock zu finden oder zu schaffen, ist nicht ungewöhnlich. Diese Fälle illustrieren gut, wie moralische Panik neben der Nutzung des immigrantenfeindlichen Diskurses zur Förderung von Narrativen der nationalen Zugehörigkeit in Zeiten der Unsicherheit auftritt. Dies bezeichnet Michael Billig als "Banalen Nationalismus", während andere, wie Ruth Wodak, diese Art von Diskursen als "Politik der Angst" oder "die populistischen Diskurse der Rechtsextremen" bezeichnen würden (Billig 2010; Mudde 2019; Wodak 2013, 2015). Solche Diskursen fokussieren sich auf nationale Identität, also die Welt entlang von National- und Grenzlinien oder durch die Politik des "Als-Andere-Abstempelns" zu sehen, oder darum, wer Teil der "in-group" und wer Teil der "out-group" ist. Sowohl Trump als auch Orbán sind perfekte Beispiele für diese Phänomene.

Pandemien sind Herausforderungen für die menschliche Solidarität

Unabhängig von Alter, Klasse, Nationalität oder Glaubensbekenntnis kann man sehen, dass Pandemien das Schlimmste im Menschen herausholen können. Aber diese Ausnahmesituationen zeigen auch die "Bereiche der Verbesserung" für jedes Land auf, sei es in der Aussenpolitik, im Gesundheitssystem oder in der Perspektive bezüglich der Einwanderung. Als globale Gesellschaft können wir entweder zulassen, dass dieses Virus schneller über uns hereinbricht, indem wir anderen die Schuld geben und Ressourcen horten, oder wir können gemeinsam nach Lösungen suchen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern.


Dieser Beitrag erschien am 28. April 2020 als Beitrag auf nccr – on the move.


Bibliographie:

 

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