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Wieso wir Referenden und direkte Demokratie entkoppeln sollten

Alice el-Wakil, Spencer McKay
14th Februar 2020

Welches Verhältnis haben Referenden und Initiativen zur Demokratie? Die meisten Antworten auf diese Frage lassen vermuten, dass diese Verfahren sich auf ein bestimmtes demokratisches Modell beziehen, nämlich das der direkten Demokratie, im Gegensatz zum Modell der repräsentativen Demokratie. Eine kürzlich erschienene Studie deutet jedoch darauf hin, dass dies irreführend ist. Dabei wird argumentiert, dass das Konzept der "direkten Demokratie" die Diskussionen über den Wert dieser politischen Verfahren eher verschleiert als beleuchtet.

Politische und akademische Diskussionen setzen im Allgemeinen eine Verbindung zwischen Initiativen und Referenden und der "direkten Demokratie" voraus. Da das politische System der Schweiz lokale und nationale Referendums- und Initiativverfahren umfasst, wird es beispielsweise oft als ein Modell der (halb-)direkten Demokratie angesehen. In Frankreich fordern die Gelbwesten die Einführung des Référendum d'Initiative Citoyenne (RIC), um damit den Weg zur direkten Demokratie freizumachen. Die Behörden befürchten allerdings, dass die Einführung solcher Instrumente die repräsentative Demokratie auslöschen würde. In Grossbritannien sagen Kommentarschreibende, dass der Brexit uns gezeigt hat, dass die direkte Demokratie nicht funktioniert. Und akademische Studien über Referenden und Initiativen bezeichnen sie im Allgemeinen als direktdemokratische Mechanismen.

Diese Diskussionen setzen also Referenden und Initiativen mit einem bestimmten Demokratiemodell, nämlich der direkten Demokratie, gleich. Diese Assimilierung ist jedoch problematisch, wenn man über das demokratische Potenzial dieser Verfahren nachdenkt.

Direktdemokratische Mechanismen

Das Modell der direkten Demokratie bezieht sich in den meisten Fällen auf ein politisches System, in dem die Bürger*innen alle Entscheidungen durch Abstimmungen in Abwesenheit einer Vertretung treffen. Das Fehlen von Repräsentatanten ist es, was dieses demokratische Modell direkt macht, und es steht in einem grundlegenden Gegensatz zum indirekten Modell der repräsentativen Demokratie.

Die Betrachtung von Referenden und Initiativen als Mechanismen der direkten Demokratie setzt voraus, dass diese Verfahren

  • ein bestimmtes ideales politisches System umsetzen sollen, nämlich das der direkten Demokratie ohne Repräsentation;
  • sich grundlegend von anderen politischen Verfahren unterscheiden, die als repräsentativ gelten.
"Direkt" versus "Repräsentativ"

Das Konzept von Referendums- und Initiativverfahren als Mechanismen der direkten Demokratie stellt somit den Konflikt zwischen direkter und repräsentativer Demokratie in den Mittelpunkt der Diskussion über die Erwünschtheit solcher Verfahren.

Auf der einen Seite argumentieren die Befürworter*innen der direkten Demokratie, dass Referenden eine absolute Form der Volkssouveränität wiederherstellen und das Wesen der Demokratie, die Selbstverwaltung der Bürger*innen, verwirklichen. Andererseits argumentieren die Befürworter*innen der repräsentativen Demokratie, dass Referenden und Initiativen uninformierter Bürger*innen zu einer unrealistischen, inkonsequenten oder sogar tyrannischen Politik führen, die nur in Anwesenheit von politischen Vertreter*innen vermieden werden kann.

Diese Debatten gehen nicht in die Tiefe. Diejenigen, die das direkte Modell befürworten, halten Volksabstimmungen und Initiativen für demokratisch; diejenigen, die das repräsentative Modell unterstützen, denken das Gegenteil. Aber das Problem liegt jenseits einer Uneinigkeit zwischen zwei unversöhnlichen Lagern: Es ist das Modell der direkten Demokratie selbst, welches das, was wir über den demokratischen Wert von Initiativen und Referenden lernen können, in zweierlei Hinsicht einschränkt. Einerseits stellt sie unrealistische Erwartungen in Bezug auf das, was Referenden und Initiativen erreichen sollen. Andererseits drängt sie uns, diese direkten politischen Verfahren im Gegensatz zu anderen repräsentativen Verfahren als grundlegend unterschiedlich wahrzunehmen - um die Ähnlichkeiten zwischen den politischen Prozessen zu verbergen.

Ein realitätsfernes Ideal

Erstens ist das Ideal der direkten Demokratie ohne Repräsentation ein unhaltbares Ideal. Sie ignoriert die Tatsache, dass Repräsentation nicht nur unvermeidlich, sondern konzeptionell notwendig für die Demokratie ist.

Wie viele politische Theoretiker*innen wie Lisa Disch, Jane Mansbridge, oder Michael Saward argumentiert haben, ist das Repräsentieren nicht nur eine Angelegenheit von gewählten Politiker*innen. Jede*r, der behauptet, die Interessen oder Forderungen anderer Personen oder Gruppen zu vertreten, wird zum Vertretenden. Diese Vertreter*innen und ihre Forderungen sind für unsere politische Mobilisierung von wesentlicher Bedeutung; durch ihre Forderungen werden wir in die Lage versetzt, unsere Präferenzen zu klären, uns zu organisieren, um uns bestimmten Gruppen anzuschliessen oder sich ihnen entgegenzustellen, und unsere Interessen gemeinsam zu verteidigen. Mit anderen Worten: keine Politik, geschweige denn demokratische Politik, ohne Repräsentation.

Folglich ist das Markenzeichen des Modells der direkten Demokratie, die mangelnde Repräsentation, unhaltbar. Damit löst sich der Gegensatz zwischen dem direkten und dem repräsentativen Modell auf. Das bedeutet nicht, dass die repräsentative Demokratie vorherrscht, sondern es bedeutet vielmehr, dass diese beiden Modelle nicht voneinander zu unterscheiden sind. Anstatt zu fragen, ob wir direkte oder repräsentative Demokratie bevorzugen sollten, ob Referenden und Initiativen ausreichend direkt sind oder ob sie repräsentative Verfahren untergraben, sollten wir uns daher eher fragen: Wie, wann, wo und warum sollten wir Referenden oder Initiativen in demokratischen Systemen einsetzen?

Übergeneralisierungen

Zweitens führt die Auffassung von Referenden und Initiativen als Mechanismen der direkten Demokratie im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie dazu, dass wir den Wert dieser Verfahren zu vorschnell beurteilen. In der Tat führt uns diese Konzeption zu einer Über- und Untergeneralisierung.

Zunächst einmal verallgemeinern wir, indem wir mehr auf den Gemeinsamkeiten dieser Mechanismen (dass sie direkt sind) als auf den Unterschieden bestehen - bis hin zur Verneinung der Tatsache, dass es sehr unterschiedliche Möglichkeiten gibt, diese Verfahren zu institutionalisieren (Initiativen oder Referenden, obligatorische oder fakultative Referenden, Zeit für die Sammlung von Unterschriften, Kampagnenregelungen usw.). Zum Beispiel wird beispielsweise der Brexit (der ein ganz besonderer Fall von Top-down-Referendum ist) dazu benutzt, alle Formen von Referenden und Initiativen abzulehnen. Dieser Ansatz führt zu falschen Schlussfolgerungen und hindert uns daran, über die Formen von Referenden oder Initiativen und die institutionellen Designs nachzudenken, die die Demokratie am besten stärken würden.

Sie wird dann mit der Behauptung untergeneralisiert, dass solche politischen Verfahren spezifische Probleme für demokratische Systeme aufwerfen, wodurch eine künstliche Trennung zwischen Problemen der direkten Demokratie und Problemen der repräsentativen Demokratie geschaffen wird. Es wird argumentiert, dass nur Referendumsverfahren zu Ergebnissen führen, die die Minderheitsrechte untergraben - wobei nicht berücksichtigt wird, dass repräsentative Regierungen dies manchmal auch tun. Und es wird suggeriert, dass die normalen Bürger*innen zu schlecht informiert sind, um wählen zu gehen - ohne die Legitimität der Wahlen in Frage zu stellen. Der Schutz der Minderheitsrechte und die Unwissenheit der Bürger*innen sind keine Probleme der Mechanismen der direkten Demokratie; sie gehören zu den Problemen, denen sich alle demokratischen Systeme stellen müssen.

Die Debatte neu gestalten

Die Verwechslung von Referenden und Initiativen mit der direkten Demokratie bietet einen schlechten Rahmen für die Diskussion über den demokratischen Wert derselben. Dieser Rahmen führt dazu, dass wir Erwartungen an diese Verfahren haben, die sich als unrealistisch (fehlende Repräsentation) und anders als die anderen politischen Verfahren in unseren demokratischen Systemen herausstellen. Sie erlaubt es uns daher nicht, die dringendsten Fragen zu Referenden und Initiativen zu beantworten: Welche dieser Abstimmungsverfahren können unsere demokratischen Systeme verbessern, und wie? Welche Rolle können sie in der demokratischen Arbeitsteilung einnehmen? Wie und wann stärken sie Repräsentationsprozesse? Was sind ihre Grenzen? Und wie können sie in einer Weise umgesetzt werden, die den demokratischen Idealen dient?

Die Abkoppelung von Referenden und Initiativen vom Modell der direkten Demokratie ist ein wesentlicher Schritt, um mit der Beantwortung dieser Fragen zu beginnen und sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in politischen Debatten darüber nachzudenken, welchen Platz wir diesen Verfahren in unseren demokratischen Systemen einräumen wollen.


 
Referenz:

 
Bild: Demonstration der "Gilets Jaunes", wikimedia commons.