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Soll das Parlament ein Exekutivmitglied abwählen können? Eine brisante Frage im politischen System der Schweiz

Michael Strebel
3rd Februar 2020

Seit einigen Monaten wird rege diskutiert, ob ein Mitglied der Genfer Regierung zurücktreten muss oder nicht. Eine Regelung für eine Amtsenthebungsverfahren exisitiert im Kanton Genf nicht - dies im Gegensatz zu anderen Kantonen. Im Folgenden werden die in der Schweiz bestehenden Möglichkeiten zur Abberufung einer Exekutive analyisiert. 

Regelungen zur Amtsenthebung in den Kantonen

In einigen wenigen Kantonen bestehen Regelungen für die Abberufung von Exekutivmitgliedern. Grundsätzlich müssen systematisch zwei Varianten unterschieden werden: Bestimmungen in den Kantonsverfassungen (BE, UR, SO, SH, TG, TI) und in der einfachen Gesetzgebung. Der Unterschied ist von Bedeutung, weil sich Anwendbarkeit sowie Praktikabilität unterscheiden.

Verfassungsrechtlich ist festgeschrieben, dass die komplette Exekutive und/oder Legislative mittels einer Volksinitiative mit der jeweils nötigen Anzahl Unterschriften und anschließend erfolgreicher Abstimmung abberufen werden können. In der Praxis hat dieses Instrument keine Bedeutung.  

Affäre Maudet
Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Genfer Regierungsrat Pierre Maudet wegen Anfangsverdachts auf Vorteilsnahme. In dieser Causa sagte Maudet zuerst die Unwahrheit, was er später zugab und sein Bedauern darüber ausdrückte. Er sieht aber keinen Anlass, von seinem Regierungsamt zurückzutreten, da kein rechtskräftiges Urteil bestehe.

Im Gegensatz zu den Verfassungsbestimmungen bringt die Regelung auf Gesetzesstufe drei Vorteile: Erstens kann die Abberufung detaillierter erfasst werden. Zweitens können einzelne Exekutivmitglieder abberufen werden, und drittens ist eine Abberufung schneller möglich. Drei Kantone haben diesen Weg gewählt.

Im Kanton Graubünden ist in der Verfassung folgendes verankert: Das Gesetz regelt die Einstellung im Amt und die Amtsenthebung von Mitgliedern von Behörden und Gerichten. Basierend auf dieser Verfassungsbestimmung wurde auf Gesetzesstufe verankert, dass die Legislative mit einer Mehrheit von drei Viertel ein Mitglied des Parlaments oder der Regierung vor Ablauf der Amtsdauer des Amts entheben kann, wenn es:

  • vorsätzlich oder grob fahrlässig Amtspflichten schwer verletzt hat;
  • die Fähigkeit, das Amt auszuüben, auf Dauer verloren hat;
  • wegen eines Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurde.

Das Parlament leitet von Amtes wegen oder auf Anzeige hin ein Amtsenthebungsverfahren ein, wenn es von einem Amtsenthebungsgrund Kenntnis erhält. Die Instruktion des Einleitungsbeschlusses, die Durchführung der Untersuchung und die Instruktion des Entscheids obliegen der parlamentarischen Kommission für Justiz und Sicherheit.

Im Kanton Neuenburg war ein Regierungsmitglied aufgrund des Drucks der eigenen Partei zurückgetreten, weil der Verdacht auf Amtsmissbrauch bestand. Dieser Fall gab 2014 den Anlass, die Kantonsverfassung zu ergänzen: Nunmehr kann ein Gesetz die Entlassung von Mitgliedern des Staatsrates und der Justizbehörden sowie die Auflösung des Staatsrates vorsehen.

Im Gesetz wurde konkretisiert, dass die Legislative durch einen mit einer Mehrheit von drei Vierteln seiner Mitglieder erlassenen Beschluss ein Mitglied des Staatsrates aus triftigen Gründen absetzen kann. Als triftiger Grund gelten alle Umstände, auch unverschuldete, die nach den Regeln von Treu und Glauben die Fortsetzung des Mandats ausschließen. Insbesondere kann das Parlament ein Mitglied der Exekutive abberufen, wenn dieses:

  • dauerhaft nicht in der Lage ist, sein Amt auszuführen;
  • gegen die Pflichten seines Mandats in schwerwiegender Weise verstoßen oder die Würde seines Mandats vorsätzlich oder fahrlässig ernsthaft verletzt hat;
  • wegen einer Straftat verurteilt wurde, deren Art oder Schwere mit der Ausübung seines Mandats unvereinbar sind.

Die Initiative zur Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens obliegt der Regierung, der Geschäftsleitung des Parlaments oder der parlamentarischen Geschäftsprüfungskommission. Folgt das Parlament dem Vorschlag zur Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens, wird eine temporäre Ad-hoc-Kommission eingesetzt. Sobald das Amtsenthebungsverfahren eingeleitet ist, kann die Legislative die vorläufige Freistellung des Mitglieds der Regierung mit oder ohne Gehaltsentzug aussprechen.

Im Kanton Nidwalden ist die Legislative für die Abberufung von Mitgliedern des Parlaments, der von ihm gewählten Verwaltungsbehörden, des Verwaltungsgerichts, des Obergerichts sowie der Exekutive zuständig. Die Abberufung darf nur verfügt werden, wenn sich das Mitglied eine schwere Amtspflichtverletzung hat zuschulden kommen lassen und/oder schon wiederholt zu Disziplinarstrafen verurteilt worden ist. Die Bestimmungen in Nidwalden sind wie in Graubünden und Neuenburg detailliert ausgeführt und beschreiben verschiedene Stufen einer Abberufung.

Sinnvolle Amtsenthebung ohne parteipolitische Instrumentalisierung

Drei Kantone haben die Amtsenthebung von Exekutivmitgliedern geregelt. Dabei handelt es sich um fein austarierte rechtsstaatliche Verfahren, wie bei einer Amtsenthebung vorzugehen ist. Diese Bestimmungen wie die Motive für ihre Einführung bringen zum Ausdruck, dass eine politische Abwahl weder erwünscht noch beabsichtigt ist. Es sind rechtliche Verfahren und eben nicht politische Misstrauensvoten, dies ist ein systematischer Unterschied in der Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern.

Es gab kantonale Parlamente, die bewusst auf eine Regelung verzichteten, weil kein Handlungsbedarf erkannt wurde oder andere Mechanismen wie politischer Druck für ausreichend gehalten wurden. Der aktuelle Fall in Genf zeigt aber, wie problematisch es sein kann, wenn keine Regelungen für eine Abberufung bestehen.

Auch wenn am Ende keine strafrechtliche Verfehlung von Staatsrat Maudet vorliegt, wird durch die Affäre das Vertrauen in die Politik generell, in Politiker im Speziellen sowie in politische Institutionen beschädigt. Insofern sind die gesetzlichen Bestimmungen in den drei Kantonen, wonach die schwere Verletzung der Amtspflichten als ein Grund für eine Abberufung definiert wurden, folgerichtig.


Referenz:

 

Bild: wikicommons (Graffiti auf dem Pont de la Coulevrenière in Genf, Protest gegen die Politik von Regierungsrat Pierre Maudet).