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Dabei und doch nicht mittendrin: die Fraktionslosen

Hans-Peter Schaub
7th December 2019

Konkordanz wird oft als Einbezug aller wichtigen Kräfte in die Entscheidungsfindung verstanden – was aber ist mit den «unwichtigen» Kräften? Bringt es das Selbstverständnis der Schweiz als Konkordanzdemokratie mit sich, dass sich im Parlament sogar so periphere Akteure wie die Fraktionslosen wirksam einbringen können? Oder hört auch und gerade in einem konkordanten System niemand auf derart «unwichtige» Kräfte? Die letzten 25 Jahre Schweizer Parlamentspraxis legen nahe, dass eher Letzteres zutrifft.

Zu den „unwichtigsten“ Kräften im Parlament dürften die Fraktionslosen gehören – jene Parlamentsmitglieder also, die nicht genügend gleichgesinnte Parlamentskolleg*innen finden können oder wollen, um mit ihnen eine Fraktion zu bilden. Denn erstens sind sie fast zwangsläufig gering an Zahl, zumal ab fünf Gleichgesinnten eine Fraktion gebildet werden kann. Zweitens ist es ein Hauptzweck von Fraktionen, dass sie bei der Vorbereitung der Parlamentsentscheide mitwirken – von dieser wichtigen Phase sind Fraktionslose per Definition ausgeschlossen. Und drittens besetzen sie im Parteienspektrum oft eine besondere Nische, vertreten also auch politisch schwer anschlussfähige Ideen.

Institutionelle Bevorzugung von Fraktionen

Fraktionen geniessen im Bundesparlament verschiedene institutionelle Rechte, die Fraktionslosen vorenthalten bleiben. Erstens haben im Nationalrat nur Fraktionsmitglieder Zugang zu den Kommissionen. Damit bleiben Fraktionslose vom wohl wichtigsten Stadium der Entscheidungsfindung im schweizerischen Arbeitsparlament ausgeschlossen. Zweitens sind nur die Fraktionen im Ratsbüro vertreten, das den parlamentarischen Prozess über die Bestimmung des Sessionsprogramms oder die Zusammensetzung der Kommissionen massgeblich prägen kann. Drittens steht Fraktionslosen in vielen Plenardebatten weniger Redezeit zu als den Fraktionssprecher*innen, bei manchen Geschäften dürfen sogar ausschliesslich diese das Wort ergreifen. Und viertens erhalten nur Fraktionen einen finanziellen Beitrag für ein Fraktionssekretariat – mit heute 270’000 bis 2 Millionen Franken pro Fraktion und Jahr bringt dieser einen beträchtlichen Ressourcenvorsprung.

Für diese Besserstellung der Fraktionen gibt es durchaus legitime Argumente: Indem die Fraktionen die parteipolitischen Meinungen kanalisieren und vorstrukturieren, erleichtern sie eine rationelle Geschäftsabwicklung sowie das Schmieden von Kompromissen und Mehrheiten. Für die Effizienz eines Parlaments nehmen Fraktionen damit eine wichtige Funktion wahr. Fraktionslose haben demgegenüber die Stärke, dass sie sich nicht ins Korsett eines Fraktionsgefüges einordnen müssen und so freier und eigenständiger auftreten können – und im Idealfall das Parlament mit Positionen beleben, die kleineren Gruppen der Bevölkerung wichtig sind und in den Fraktionen untergehen.

Parlament ohne Fraktionslose – von der Ausnahme zum Normalzustand?

Im neuen Parlament sind, wie schon in der gesamten letzten Legislatur, sämtliche Parlamentarier*innen auch Mitglieder einer Fraktion. Selbst die Vertreterinnen von Kleinparteien wie etwa der PdA, der BDP oder der EDU, die für eine eigene Fraktion zu klein sind, haben Anschluss an die Fraktion einer grösseren Partei gesucht und gefunden. Historisch betrachtet, ist dies eine Seltenheit: Seit 1923 gab es fast immer mindestens ein fraktionsloses Parlamentsmitglied, das Maximum lag bei deren elf im Nationalrat und drei im Ständerat (1941). Vor allem seit 1991 ging ihre Anzahl aber deutlich zurück, seit Ende 2013 liegt sie nun bei null.

Abbildung 1: Sitzanteile von Fraktionslosen in National- und Ständerat, 1923-2019 (in Prozent)

Dabei waren die Fraktionslosen meist nicht Parteilose, sondern Angehörige von Kleinparteien. Seit 1991 können 44% von ihnen dem nationalkonservativen Rand zugeordnet werden, 37% entfielen auf Linksaussenparteien. Deutlich seltener (19%) waren fraktionslose Mittepolitiker. Gerade den Vertreterinnen von Parteien an den linken und konservativen Rändern des Spektrums dürfte es seit den 1990er-Jahren leichter fallen, sich einer grösseren Fraktion anzuschliessen, weil die grossen Polparteien im Zug der Polarisierung selbst stärker an die Ränder gerückt sind, sich also gewissermassen den Randparteien angenähert haben.

Ein zweiter Faktor für das Verschwinden der Fraktionslosen dürfte sein, dass die Parlamentsreform von 1991 die Bedeutung der Kommissionen verstärkt hat (Lüthi 2014). Damit wurde indirekt der Anreiz erhöht, sich einer Fraktion anzuschliessen, da im Nationalrat nur Fraktionsmitglieder Zugang zur Kommissionsarbeit haben.

Drittens dürfte auch die steigende Geschäftslast im Parlament die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit und Arbeitsteilung in Fraktionen erhöht haben: Fraktionen werden nicht nur durch ein subventioniertes Fraktionssekretariat unterstützt, sondern können die Arbeit auch unter den Fraktionsmitgliedern aufteilen. Fraktionslose sind demgegenüber auf sich allein gestellt.

Unterdurchschnittliche Nutzung der parlamentarischen Einflussmöglichkeiten

Ein Blick auf die Parlamentspraxis ab 1995 untermauert, dass die Fraktionslosen – als es sie noch gab – hartes Brot zu essen hatten. Denn auch jene institutionellen Rechte, die ihnen als Parlamentsmitgliedern zustanden, vermochten sie in der Regel weniger stark zu nutzen als dies ihre Kolleg*innen mit Fraktionsmitgliedschaft taten.

Abbildung 2: Über- und unterproportionale Nutzung parlamentarischer Instrumente durch Fraktionslose, 1995-2015

Lesebeispiel: In der Legislatur 2011-2015 hielten die Fraktionslosen nur etwa halb so viele Voten, wie es ihrem Sitzanteil entsprochen hätte. Hingegen entsprach ihr Anteil an allen Unterzeichnenden von Vorstössen in der Legislatur 2003-2007 gerade ihrem Sitzanteil im Parlament.

Wie Abbildung 2 zeigt, meldeten sich Fraktionslose deutlich unterproportional zu Wort, stellten viel weniger Anträge und wurden weniger häufig als Mitunterzeichnende an Vorstössen anderer Parlamentarier*innen beteiligt. Eigene Vorstösse reichten sie zwar überdurchschnittlich oft ein, allerdings war ihre Erfolgsrate so gering, dass ihr Anteil an den angenommenen Vorstössen wieder unterproportional war. Diese Befunde gelten praktisch ausnahmslos für alle fünf untersuchten Legislaturen.

Diese geringe Präsenz und scheinbare Passivität der Fraktionslosen dürfte vor allem mit ihrer geringeren Vernetzung und ihrer Ressourcenknappheit zu erklären sein. Diese Ressourcenknappheit war einerseits schlicht durch ihre geringe Zahl begründet, andererseits aber auch durch die oben erwähnten institutionellen Nachteile (kein Zugang zu den Nationalratskommissionen, keine Unterstützung für ein Fraktionssekretariat etc.).

Konkordanz: ein hartes Pflaster für «unwichtige» Kräfte

Als Fazit bleibt, dass Konkordanz für periphere Akteure wie die Fraktionslosen eine zweischneidige Sache ist. In dem Mass, in dem die fraktionenübergreifende Zusammenarbeit in den Kommissionen tragfähige Vorlagen hervorzubringen vermag – und dieses Mass ist in der Regel nach wie vor hoch (Porcellana 2019) –, sind Voten und Anträge im Plenum, wo auch die Fraktionslosen mitgestalten könnten, weitgehend chancenlos. Je besser also die «pragmatische» Konkordanz zwischen den grossen Kräften funktioniert, desto weniger notwendig und auch weniger wahrscheinlich wird eine «maximalistische» Konkordanz mit einem ernsthaften Einbezug von peripheren, «unwichtigen» Akteuren wie den Fraktionslosen.


Referenz:

Schaub, Hans-Peter (2019): Dabei und doch nicht mittendrin: die Fraktionslosen. In: Konkordanz im Parlament. Zürich: NZZ Libro, Reihe „Politik und Gesellschaft in der Schweiz“.

Bibliographie:

  • Lüthi, Ruth (2014): «4. Kapitel: Kommissionen, Art. 42». In: Graf, Martin; Theler, Cornelia; von Wyss, Moritz (Hg.): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung. Basel: Helbing Lichtenhahn, S. 355–365.
  • Porcellana, Diane (2019): Von Konkordanz zu Konflikt? Die Rolle der parlamentarischen Kommissionen bei der Suche nach Kompromissen. In: Konkordanz im Parlament. Zürich: NZZ Libro.

Bild: Parlamentsdienste, 3003 Bern.