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Ja zu Sozialleistungen – aber nicht für alle

Hanna Janssen
14th November 2019

Sollen alle in der Schweiz lebenden Personen von Sozialleistungen profitieren oder sollten diese lediglich Schweizer*innen vorbehalten sein? Im Rahmen meiner Bachelorarbeit habe ich die Einstellungen der Bevölkerung zu Sozialleistungen für Immigrant*innen untersucht. Dabei zeigt sich die Polarisierung der politischen Landschaft der Schweiz deutlich.

Innerhalb der letzten Jahrzehnte machte die politische Landschaft der Schweiz einen starken Wandel durch. Immigration, Deindustrialisierung und eine weitreichende Bildungsexpansion haben neue Gewinner*innen und Verlierer*innen geschaffen. Während gut gebildete Personen aus dem Dienstleistungssektor – sogenannte soziokulturelle Spezialist*innen wie beispielsweise Lehrer*innen oder Ärzt*innen – von diesen Veränderungen profitierten, gelangten Arbeiter*innen aus Industrie und Dienstleistung zunehmend ins Hintertreffen.

Die neuen Verhältnisse wirken sich auch auf die politischen Einstellungen der Menschen aus: Während in den 1970er-Jahren Arbeiter*innen die Hauptwählerschaft der SP ausmachten, wählen sie heute hauptsächlich SVP. Die SP hingegen erhält ihre Stimmen mittlerweile vor allem von soziokulturellen Spezialist*innen.

Im Zusammenhang mit diesen Veränderungen in den Parteiwählerschaften steht auch die starke Polarisierung der parteipolitischen Landschaft. Sowohl die SP als auch die SVP nehmen zunehmend stark auseinander liegende Positionen ein (Bochsler et al. 2015, Hug und Schulz 2007).

Mittlerweile gilt die SVP als rechtspopulistische Partei, deren Hauptanliegen eine restriktivere Immigrationspolitik ist. Gemäss ihrem Parteiprogramm sollen Immigrant*innen von gewissen sozialpolitischen Unterstützungsmassnahmen - beispielsweise im Bereich der Sozialhilfe - ausgeschlossen werden, um eine angebliche Zuwanderung ins Schweizerische Sozialsystem zu stoppen (Ennser-Jedenastik 2018).

Die Meinungen gehen auseinander

Wie meine Analysen zeigen, befürworten soziokulturelle Spezialist*innen Sozialleistungen für Immigrant*innen spätestens nachdem diese ein Jahr gearbeitet haben mit einer Wahrscheinlichkeit von über achtzig Prozent. Bei Industriearbeiter*innen liegt die Wahrscheinlichkeit bei 62 Prozent, während 38 Prozent Immigrant*innen mindestens bis zur Einbürgerung gänzlich vom Wohlfahrtsstaat ausschliessen möchten. Auch Dienstleistungsarbeiter*innen und Manager*innen weisen eine deutlich tiefere Wahrscheinlichkeit auf, Sozialleistungen für Immigrant*innen zu befürworten (siehe Abbildung).

Abbildung: Wahrscheinlichkeit verschiedener Berufsgruppen, Sozialleistungen für Immigrant*innen zu befürworten

Datenbasis: Vierte (2008) und achte Welle (2016) des European Social Surveys.
Ja zu Sozialleistungen – aber nicht für alle

Nun stellt sich die Frage, wodurch diese Einstellungen motiviert werden. In der entsprechenden Analyse zeigen sich die wohlfahrtschauvinistischen Einstellungen der Industrie- und Dienstleistungsarbeiter*innen: Grundsätzlich befürworten sie zwar Sozialleistungen wie Renten und Arbeitslosengelder, möchten aber nicht, dass auch Immigrant*innen davon profitieren.

Wohlfahrtschauvinismus
Der Begriff Wohlfahrtschauvinismus beschreibt die Ansicht, dass lediglich die einheimische Bevölkerung vom Sozialstaat profitieren soll. Sozialleistungen und Umverteilung werden dabei aber nicht grundsätzlich abgelehnt. Es geht spezifisch darum, Immigrant*innen vom Sozialstaat auszuschliessen oder diese zumindest gegenüber Einheimischen schlechterzustellen.

Die Rechten werden rechter

Ein Zeitvergleich hat zudem zu Tage gebracht, dass es in dieser Frage zwischen 2008 und 2016 zu einer Polarisierung der Einstellung kam. Während es 2008 noch keine signifikanten Unterschiede zwischen soziokulturellen Spezialist*innen und den anderen sozialen Klassen gab, sind 2016 klare klassenspezifische Einstellungen zu sehen. Dies obwohl sich die Einstellungen der soziokulturellen Spezialist*innen über diesen Zeitraum kaum verändert haben. Es sind also nicht die immigrationsfreundlichen Kräfte, welche Sozialleistungen für Immigrant*innen über die Zeit noch stärker befürworten, sondern hat in den letzten zehn Jahren eine deutliche Abnahme der Solidarität mit Immigrant*innen in gewissen gesellschaftlichen Gruppen (insbesondere Arbeiter*innen und Manager*innen) stattgefunden. Diese Polarisierung wird durch den immigrationskritischen Pol deutlich vorangetrieben.

Ein tiefer Graben zwischen links und rechts

Die Frage, ob Immigrant*innen den gleichen Zugang zu Sozialleistungen wie Schweizer*innen erhalten sollen, enthält sowohl eine ökonomische als auch eine kulturelle Komponente. Dadurch veranschaulicht sie die tiefe Spaltung zwischen den beiden grossen politischen Lagern in der Schweiz besonders gut. Das links-liberale Lager (und die ihm zugewandten sozialen Gruppen) befürwortet sowohl Sozialleistungen als auch Immigration, während das rechts-autoritäre Lager beides ablehnt und damit sowohl staatskritische als auch immigrationskritische Gruppen ansprechen kann. Wie der Zeitvergleich zeigt, darf man in näherer Zukunft wohl kaum mit einer Annäherung der beiden Lager rechnen. Eher zeigt die vorliegende Studie, dass in den vergangenen zehn Jahren ein Teil der Schweizer Bevölkerung noch empfänglicher für wohlfahrtschauvinistische Positionenen wurde.

Klassenschema

Das in diesem Artikel verwendete Klassenschema stammt von Daniel Oesch (2006). Er unterscheidet einerseits vertikal zwischen zwei verschiedenen Hierarchiestufen (höhere vs. tiefere Bildung) und andererseits horizontal zwischen vier verschiedenen Arbeitslogiken:


Quellen

  • Bochsler, Daniel; Hänggli, Regula und Häusermann, Silja (2015): Introduction: Consensus Lost? Disenchanted Democracy in Switzerland, Swiss Political Science Review 21(4): 475- 490. 
  • De Koster, Willem; Achterberg, Peter und van der Waal, Jeroen (2012): The new right and the welfare state: The electoral relevance of welfare chauvinism and welfare populism in the Netherlands. International Political Science Review 34(1), 3-20.
  • Ennser-Jedenastik, Laurenz (2018): Welfare chauvinism in populist radical right platforms: The role of redistributive justice principles. Social Policy & Administration 52 (1), 293-314.
  • Hug, Simon und Schulz, Tobias (2007): Left-Right Positions of Political Parties in Switzerland. Party Politics 13(3), 305-330.
  • Oesch, Daniel und Rennwald, Line (2010): The Class Basis of Switzerland’s Cleavage between the New Left and the Populist Right. Swiss Political Science Review 16(3), 343–71.
  • Oesch, Daniel (2006): Coming to Grips with a Changing Class Structure: An Analysis of Employment Stratification in Britain, Germany, Sweden and Switzerland. International Society 21(2), 263-288.
  • Rennwald, Line (2014): Class (Non)Voting in Switzerland 1971-2011: Ruptures and Continuities in a Changing Political Landscape. Swiss Political Science Review 20(4), 550-572.
  • Spier, Tim (2006): Populismus und Modernisierung. In: Decker, Frank (Hrsg.): Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 33-58.
     
     

Bild: Shutterstock