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Eine Frage des Charakters

Markus Freitag
4th September 2019

Was nicht alles die Wahlentscheidung beeinflussen soll. Sind für einmal weder Geschlecht, Alter, Einkommen oder das Umfeld relevant, dann werden gerne Ereignisse wie die Flüchtlingskrise oder der Klimawandel für die Stimmung im Land verantwortlich gemacht. Doch was wäre, wenn allein unser Charakter die Wahlentscheidung bestimmen würde?

Informationen zu den Psychogrammen potentieller Wählerinnen und Wähler lassen sich anhand von fünf Charakterzügen beziehen. Unser Grad der Offenheit bemisst sich an unseren vielfältigen Interessen und unseren Vorlieben für das Ungewöhnliche und Verrückte. Gewissenhaft ist, wer bodenständig, regeltreu und zielstrebig und nicht allzu sorglos oder unzuverlässig agiert.

Der Charakterzug Extraversion zeigt, wie zurückgezogen oder wie gesellig und sozial dominant wir uns geben. Verträglichkeit wiederum informiert über unser Niveau an Gutmütigkeit und unser Bedürfnis nach Harmonie. Und Neurotizismus gibt Aufschluss über unsere emotionale Belast- und Verletzbarkeit. Diese fünf Wesenszüge sind zur Hälfte vererbt und mit zunehmendem Alter nur schwer veränderbar.

Schauen wir uns jetzt einmal Reto an. Reto ist seit jeher als bodenständig und wenig extravagant verschrien. Derartig veranlagt, sucht er nicht unentwegt Abwechslung und bevorzugt höchstwahrscheinlich ein strukturiertes, vorhersehbares und familiäres Umfeld. Durch Erfahrungen lernt er, dass Traditionen, Regelmässigkeiten, formale Übereinkünfte und unverrückbare Vorstellungen probate Mittel darstellen, um das Leben und dessen Herausforderungen zu meistern.

Menschen wie Reto entwickeln sehr wahrscheinlich bewahrende, will sagen konservative Einstellungen und suchen sich Weggefährtinnen und Weggefährten, die ähnlich ticken und die ihre Wert- und Glaubenssysteme nicht ständig und unnötig herausfordern. Es ist auch naheliegend, dass ihre politischen Präferenzen bei den Akteuren und Organisationen liegen, welche die Überschaubarkeit der Lebensbedingungen zum politischen Programm ausrufen.

Ein anderes Beispiel ist Carmen. Sie gilt seit Kindesbeinen als verständnisvoll und zuvorkommend und kann diesbezüglich nicht aus ihrer Haut heraus. Sie geht Konflikten gerne aus dem Weg und favorisiert eine harmonische, hilfsbereite und vertrauensvolle Umgebung. Im Laufe ihres Lebens lernt sie dessen Tücken durch Zurückhaltung, Bescheidenheit und Toleranz zu meistern.

Menschen wie Carmen hingegen suchen nicht unbedingt die politische Auseinandersetzung und den Wettbewerb ideologisch gefärbter Argumente. Sofern sie überhaupt ein politisches Interesse hegen, sympathisieren sie am ehesten noch mit Parteien, die für Kompromissbereitschaft und respektvolles Miteinander stehen oder den sozialen Ausgleich und die solidarische Bewahrung individueller Lebenschancen verfolgen.

Abbildung 1: Anteile der Persönlichkeitseigenschaften in der Schweiz

Quellen: Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Umfragen «Politik und Gesellschaft in der Schweiz» (PUGS) 2012; «Freiwilligen-Monitor Schweiz» (FWM) 2014; «Schweizer Wahlstudie» (Selects) 2015; «Demokratie und Gesellschaft in der Schweiz» (DUGS) 2016.

Auswertungen zu mehreren tausend Charakterprofilen in der Schweiz legen nahe, dass sich rund die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer mit Reto verbunden fühlt und rund 40 Prozent die Seele Carmens in sich tragen. Darüber hinaus attestiert sich ein Viertel eine gewisse Offenheit und weniger als ein Fünftel hält sich für extrovertiert.

Erstere tendieren politisch nach links, letztere nach rechts. Nicht einmal fünf Prozent schätzen sich als neurotisch ein und präferieren ebenso das linke Politspektrum. Unterm Strich weist die charakterliche Verteilung auf ausgeglichene Kräfteverhältnisse hin. Wenn also niemand im Oktober aus seiner Haut schlüpft, dann wird trotz allseitiger Erwartungen kein politisches Lager ein anderes nennenswert überragen. Und wenn doch: Wäre das ein Zeichen von Charakterschwäche?

 

Hinweis: Dieser Beitrag erschien am 27. August 2019 in der Neuen Zürcher Zeitung.

 Referenz:

Freitag, Markus (2017): Die Psyche des Politischen. Was der Charakter über unser politisches Denken und Handeln verrät, Zürich: NZZ Libro: 72.

 

Bild: Truity