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Populismus und Gewalt – wie Bolsonaro Rückhalt im Zorn des Volkes findet

Delia Brändli
13th August 2019

Populismus ist auf dem Vormarsch. In Europa sowie weltweit. Allgegenwärtige Beispiele sind der Front National in Frankreich, die AfD in Deutschland und die Trump-Regierung in den USA. Seine grösste Kraft aber entfaltet der Populismus in Lateinamerika, wo er eine lange Tradition hat und eigentlich schon fast als Markenzeichen des gesamten Kontinents bezeichnet werden kann. Bekannte Beispiele von Populisten des 21. Jahrhunderts sind Hugo Chávez und Alberto Fujimori, Ex-Präsidenten von Venezuela bzw. Peru. Und aktuell ist in Brasilien mit Jair Bolsonaro ein Ultra-Rechtspopulist an der Macht. Doch warum hat Populismus eigentlich so viel Erfolg? Und was ist Populismus überhaupt?

Populismus ist einer der Begriffe, der in politischen Debatten häufig benutzt aber selten erklärt wird. Dies liegt wohl teilweise daran, dass sich populistische Bewegungen in vielen Hinsichten unterscheiden, und es deshalb schwierig ist, eine einheitliche Definition zu finden. Sein Wortursprung lässt schliessen, er sei «fürs Volk» und auch wenn dies nicht wirklich der Fall sein mag, bekräftigen es Populisten von links bis rechts immer wieder in ihren politischen Diskursen. Ganz egal ob es der Verdruss über die Eliten, ein Gefühl von Heimatsverlust oder der Frust über eine verfehlte Wirtschaftspolitik ist; Populismus findet Rückhalt im Zorn des Volkes und verspricht nichts Geringeres als die Veränderung des Status Quo. Die Rhetorik ist dabei oft dieselbe: vereinfacht, opportunistisch, volksnah und dramatisch. Und genau darauf spricht die breite Masse wohl an.

Gewalt als Zündstoff

In Lateinamerika ist die brennende Wut des Volkes oft auf Gewalt zurückzuführen. Die Zahlen sprechen für sich: 33 Prozent aller Morde weltweit geschehen in Lateinamerika, obwohl in dieser Region nur acht Prozent der Weltbevölkerung leben. Eines von fünf Mordopfern weltweit ist entweder Brasilianer, Kolumbianer oder Venezolaner. Mord-Hauptstadt der Welt ist Caracas mit 120 Tötungsdelikten pro 100’000 Einwohner. In Brasilien starben 2014 mehr Zivilisten durch Gewalt als in den Krisengebieten Afghanistan, Irak, Syrien und Ukraine zusammen. 43 der 50 gefährlichsten Städten weltweit sowie sechs der zehn tödlichsten Länder in Friedenszeiten liegen in Lateinamerika.

Angesichts der desaströsen Zahlen wächst nicht nur die Verzweiflung der Bürger und Bürgerinnen, sondern auch jene der Regierung, die schlicht machtlos gegen die skrupellose Gewalt ist. Kriminelle Gangs kontrollieren Nachbarschaften, Städte oder im Fall von El Salvador und Honduras praktisch das ganze Land. Selbstjustiz greift um sich und die Mord- und Kriminalitätsraten steigen weiter an. Statistiken zeigen einen bisher unbemerkten Gewaltexzess.

 

Populistische Präsidentschaftskandidaten in Lateinamerika versprechen nicht selten, radikal gegen die skrupellose Gewalt vorzugehen und punkten während dem Wahlkampf sogar mit menschenrechtsverachtenden Aussagen. Aber sind es wirklich nur Zorn und Verzweiflung, die Bürger und Bürgerinnen dazu verleiten, die Missachtung von Menschenrechten in Kauf zu nehmen oder gar zu unterstützen, damit Gewalt effizient reduziert werden kann?

«Eiserne Hand» als Schutz

Laut dem chilenischen Politikwissenschaftler Giancarlo Visconti spielt ausserdem eine wichtige Rolle, ob eine Person Gewalt selbst erlebt hat oder nicht. In einer kürzlich veröffentlichten Arbeit belegt Visconti wissenschaftlich, dass Opfer einer Gewalttat eher für sogenannte «iron-fist crime reduction policies» stimmen als Menschen, die noch nie Opfer einer Straftat geworden sind. Wie der Begriff andeutet, gehen diese «iron-fist crime reduction policies» mit «eiserner Hand» gegen Straftäter vor und implizieren eine Verschlechterung oder Verwässerung derer Verfahrensrechte. Beispiele solcher Massnahmen sind extralegale Inhaftierung, willkürliche Bestrafung und die militärische Besetzung ganzer Stadtteile. Gemäss Visconti steigt die Wahrscheinlichkeit, solche Massnahmen zu unterstützen, mit dem Opfer-Werden für jede Person um ganze sieben Prozentpunkte. Er erklärt dies damit, dass man, wenn man Gewalt selbst erlebt hat, dazu neigt, das politische System infrage zu stellen. Denn der Staat hat es versäumt, seine Bürger zu beschützen. Opfer einer Gewalttat legen aus diesem Grund weniger Wert auf demokratische Grundprinzipien als Nicht-Opfer und nehmen somit die Missachtung von Menschenrechten – ein grundlegendes Prinzip in jeder Demokratie – in Kauf oder unterstützen diese sogar.

Visconti konnte dies anhand von Paneldaten zu Kriminalität und politischen Einstellungen aus den beiden brasilianischen Städten Juiz de Fora und Caxias do Sul beweisen. Da die beiden Städten zu den sichereren in Brasilien gehören, kann angenommen werden, dass in gefährlicheren Städten wie Salvador oder São Paulo jene Relation zwischen zum-Opfer-von-Gewalt-Werden und Befürwortung von harten Massnahmen gegen Straftäter noch stärker ist. Visconti zeigt ausserdem mit einem Vergleich zu Daten aus 18 weiteren Ländern in Lateinamerika, dass diese Hypothese nicht nur für Brasilien, sondern für den ganzen Kontinent gilt.

Die Wahl Bolsonaros, die kurze Zeit nach der Finalisierung der Studie erfolgte, scheint wie eine Bestätigung der Befunde Viscontis. Während seinem Wahlkampf erklärte Bolsonaro, er wolle den Zugang zu Waffen erleichtern und wichtige Ministerien durch Militärs besetzen. Politischen Gegnern drohte er mit Gewalt und Gefängnis. Auch schreckte er nicht davor zurück, öffentlich mit der Militärdiktatur der 60er bis 80er Jahre – einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte Brasiliens – zu sympathisieren. Sein wohl wichtigstes Wahlversprechen an die Bevölkerung war die radikale Vorgehensweise gegen Kriminelle – und genau dieses Versprechen gab ihm wohl den Rückhalt der Bevölkerung. Trotz seinen schockierenden Äusserungen ist er für viele Brasilianer und Brasilianerinnen ein Hoffnungsträger; denn von ihm versprechen sie sich den ersehnten Systemwechsel.

 


Bild: Wikimedia Commons