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Migra­tion und Gleichberechtigung

Francesca Falk
21st Juni 2019

Migration wird heute oft als Gefahr für die Gleichberechtigung der Geschlechter gesehen. Ein Blick in die Schweizer Geschichte zeigt allerdings, dass Migration im Gegenteil viel dazu beigetragen hat, die Verhältnisse in Arbeitswelt, Bildung und Politik zugunsten von Frauen zu verändern.

Die Sichtweise, dass sich Migration nachteilig auf die Geschlechterverhältnisse auswirke, ist nicht nur auf die heutige Zeit beschränkt. Sie prägte die öffent­li­chen Debatten seit den 1960er-Jahren.

In dieser Zeit wurden Italie­ne­rinnen und Italiener ähnlich wahr­ge­nommen wie die musli­mi­sche Bevöl­ke­rung heute. Mit Unbe­hagen blickte man damals auf die vergleichs­weise höhere Kinder­zahl italie­ni­scher Fami­lien und sprach von der drohenden Italia­ni­sie­rung der Schweizer Bevöl­ke­rung. Auch erregte es Unmut, dass viele Italiener Bahn­höfe als Treff­punkte nutzten – denn sie standen im Ruf, Schwei­ze­rinnen zu beläs­tigen. 1983 weigerte sich eine Imbiss­stube in der Stadt Wil, italie­ni­sche Gäste im vorderen Teil der Räum­lich­keiten zu bedienen – mit der Begrün­dung, dass unbe­glei­tete Frauen es sonst nicht wagen würden, einzu­treten.

Die Emanzipationsgeschichte wird einseitig erzählt

Vor diesem histo­ri­schen Hinter­grund ist es wenig erstaun­lich, dass die Nach­kriegs­mi­gra­tion in der wissen­schaft­li­chen Lite­ratur lange als einsei­tige Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schichte erzählt wurde: Italie­ni­sche Frauen hätten demnach erst in der moder­neren Schweiz ihre Frei­heit entdeckt. Dabei ging und geht vergessen, dass Frauen in Italien in vielen Berei­chen besser­ge­stellt waren als in der Schweiz. Das Frau­en­stimm­recht galt dort seit Ende des Zweiten Welt­kriegs und auch die Geschlech­ter­gleich­heit wurde viel früher in der Verfas­sung veran­kert. Die Italie­ne­rinnen trafen also in der Schweiz in vielerlei Hinsichten auf eine rück­stän­dige Situa­tion.

In Sachen Gleich­stel­lung war und ist die Schweiz in vielerlei Hinsicht eine Nach­züg­lerin, wobei in der wissen­schaft­li­chen Lite­ratur allge­mein ange­nommen wird, dass die sogenannte Gast­ar­beit die tradi­tio­nellen Geschlech­ter­rollen und ein bürger­li­ches Fami­li­en­mo­dell noch verstärkt habe. Doch auch diese Geschichte lässt sich anders erzählen, denn der Anteil der Auslän­de­rinnen an der weib­li­chen Erwerbs­ar­beit belief sich zwischen 1950 und 1960 auf drei Viertel. In den Boom-Jahren der 1960er stellte sich die Frage nach der Verein­bar­keit von Beruf und Familie also gerade in migran­ti­schen Fami­lien.

Ausbau der Krippeninfrastruktur dank Migration in die Schweiz

Eine direkte Folge des hier viru­lenten Verein­bar­keits­pro­blems war, dass ausser­häus­liche Betreu­ungs­struk­turen für Kinder ausge­baut wurden. Zwar öffneten bereits im 19. Jahr­hun­dert Krippen für Arbei­ter­kinder, doch mit den Auslän­der­kin­dern wuchs der Bedarf signi­fi­kant. Noch bevor sich die gesell­schaft­li­chen Werte wandelten – die Fremd­be­treuung von Kindern war damals in der Schweiz stark stig­ma­ti­siert –, bestand also ein prak­ti­scher Zwang für den Ausbau von Krippen, weil die auslän­di­schen‘Arbei­ter­frauen in der Wirt­schaft gebraucht wurden.

Mit den Auswir­kungen der Ölkrisen in den 1970er Jahren änderte sich die Situa­tion; in diesen Rezes­si­ons­jahren mussten zahl­reiche Migran­tinnen und Migranten in ihre Heimat­länder zurück­kehren. Die im Zuge der Nach­kriegs­mi­gra­tion etablierte Betreu­ungs­struktur wurde nun vermehrt von der Schweizer Mittel­schicht genutzt und im Laufe der 1980er-Jahre langsam breiter akzep­tiert.

Die Exis­tenz von Kinder­krippen führte also, zusammen mit anderen Einflüssen wie etwa der neuen Frau­en­be­we­gung, dazu, dass es im Laufe der Zeit zu einer Norma­li­sie­rung ausser­häus­li­cher Kinder­be­treuung kam. Zusam­men­fas­send lässt sich fest­halten, dass verän­derte Lebens­stile, auch unfrei­willig prak­ti­zierte, zum Ausbau von Infra­struk­turen beitragen können und sich Dyna­miken entfal­teten, die lang­fristig eine Verän­de­rung der gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Situa­tion bewirken können.

Zugang zur Hoch­schul­bil­dung und poli­ti­sche Parti­zi­pa­tion

Die Schweiz hat als eines der ersten Länder Europas Frauen den Zugang zu Univer­si­täten gewährt. Es waren aller­dings Studen­tinnen aus Russ­land, die sich in der Schweiz den Zugang zur höheren Bildung erkämpften. An der Univer­sität Zürich waren es zudem vor allem geflüch­tete deut­sche Profes­soren, die sich für das Frau­en­stu­dium stark machten. Auch wenn es zu diesen Vorgängen inzwi­schen exzel­lente Studien gibt, ist dieses Wissen nur partiell in die deutungs­mäch­tigen Über­blicks­werke einge­flossen.

Die frühen Akade­mi­ke­rinnen standen oft an der Spitze des femi­nis­ti­schen Denkens, einige der ersten Studen­tinnen wurden später Schlüs­sel­fi­guren im Kampf um poli­ti­sche Parti­zi­pa­tion. Dass viele Frau­en­stimm­recht­spio­nie­rinnen Migra­ti­ons­er­fah­rung aufweisen, wurde bisher nicht syste­ma­tisch reflek­tiert und ist nicht Teil unseres Geschichts­bildes geworden. Die feder­füh­rende Betei­li­gung von Frauen mit verschie­denen Arten der Migra­ti­ons­er­fah­rung am Kampf für das Frau­en­stimm­recht kann anhand mehrerer Ikonen der Schweizer Frau­en­stimm­rechts­be­we­gung aufge­zeigt werden, so zum Beispiel an Ottilia Paky-Sutter.

Ottilia Paky-Sutter
Stell­ver­tre­tend für andere soll das Beispiel von Ottilia Paky-Sutter genannt werden, die im Appen­zell Inner­rhoden lebte, in jenem Kanton also, der als letzter im Jahr 1990 und erst auf Druck des Bundes­ge­richts das Frau­en­stimm­recht einführte. 1978 grün­dete Ottilia Paky-Sutter eine Frau­en­gruppe mit dem Ziel, das Frau­en­stimm­recht in Appen­zell Inner­rhoden einzu­führen. Paky-Sutter gehörte zu einer der bekann­testen Fami­lien in Appen­zell, denn sie besass ein Gast­haus, in dem sich die lokale Intel­li­gen­zija traf. An der Landes­aus­stel­lung 1939 in Zürich traten die noch unver­hei­ra­tete Ottilia Sutter und ihre Schwester mit dem Fest­spiel „Me sönd halt Appe­zöller“ auf. Als auch noch ein Heimat­film („I han en Schatz gha“, 1941) folgte, verkör­perten die jodelnden Schwes­tern für ein breites Publikum lokale Tradi­tionen. Nur wenige Jahre später änderte sich die Situa­tion für Ottilia Paky-Sutter aller­dings dras­tisch, denn sie verlor 1947, nach ihrer Heirat mit einem Öster­rei­cher, ihre Schweizer Staats­bür­ger­schaft. Laut Aussagen ihrer Tochter war dies der entschei­dende Faktor für das poli­ti­sche Enga­ge­ment der Mutter – zumal für Ottilia Paky-Sutter diese Verän­de­rung auch einen sozialen Abstieg nach sich zog. Ihre ganze Familie musste wieder­ein­ge­bür­gert werden, eine sowohl ernied­ri­gende als auch kost­spie­lige Prozedur. Es war mit anderen Worten diese indi­rekte Migra­ti­ons­er­fah­rung, die ihr poli­ti­sches Enga­ge­ment entfachte.

Das Beispiel Ottilia Paky-Sutter zeigt, dass es produktiv sein kann, auch solche indi­rekten Migra­ti­ons­er­fah­rungen und ihre Auswir­kungen in die histo­ri­sche Analyse einzu­be­ziehen. Heute werden in der Schweiz weniger als die Hälfte der Ehen zwischen Schweizer Bürge­rinnen und Bürgern geschlossen. Auch daher ist es wichtig, die Impli­ka­tionen der Migra­tion umfas­sender zu denken. Migra­ti­ons­po­litik betrifft weit mehr Menschen als dieje­nigen, die gemeinhin als Migrierte gelten.

Wie die Vergan­gen­heit erzählt und die Zukunft vorge­stellt wird

Geschichte, die aus der Migra­ti­ons­per­spek­tive erzählt wird, kann das Selbst­ver­ständnis eines Landes wie der Schweiz verän­dern. Dabei geht es nicht einfach um das Hinzu­fügen einer Migra­ti­ons­ge­schichte zur so genannten Allge­meinen Geschichte. Migra­tion ist nicht nur in den Blick zu rücken, wenn explizit Migra­tion darauf steht. Wir brau­chen nicht in erster Linie eine Migra­ti­ons­ge­schichte, die sich in Beiträgen findet, die dieses Thema spezi­fisch adres­sieren, viel­mehr brau­chen wir eine Migran­ti­sie­rung der gesamten Geschichts­schrei­bung.

Den Zusam­men­hang zwischen Migra­tion und der Geschichte der Gleich­be­rech­ti­gung in der Schweiz zu unter­su­chen, heisst nicht, Migra­tion zu glori­fi­zieren oder behaupten zu wollen, dass Migra­tion nie ein Hindernis für Eman­zi­pa­tion sein kann. Migra­tion per se ist weder gut noch schlecht.

Aber die Bedin­gungen, unter denen sie statt­findet, können eher gut oder eher schlecht sein. Diese Bedin­gungen sind nicht einfach gegeben, sondern sie werden gemacht, gestaltet. Die Art der Gestal­tung wiederum hängt auch davon ab, wie wir die vergan­gene und die gegen­wär­tige Migra­tion wahr­nehmen, ob wir zum Beispiel auch sehen, welchen Beitrag zur gesell­schaft­li­chen Entwick­lung sie leis­tete und leistet. Gerade deshalb ist es wichtig, diesen oft verges­senen Zusam­men­hang von Migra­tion und Eman­zi­pa­tion zu beleuchten.


Referenz:

Falk, Francesca (2019). Gender Innovation and Migration in Switzerland. Palgrave.

 

Hinweis:

Dieser Artikel wurde erstmals am 4. November 2018 auf Geschichte der Gegenwart veröffentlicht.