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Problemdruck oder politischer Einfluss? – Gemeindefusionen in Volksabstimmungen

Michael A. Strebel
13th Mai 2019

Warum scheitern Gemeindefusionen in Volksabstimmungen? Das fragen sich nicht nur Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten, die nach mehrjährigem Planungsprozess in der alles entscheidenden Abstimmung ein ablehnendes Votum zur Kenntnis nehmen müssen. Dieser Beitrag zeigt die Gründe für das Scheitern von Gemeindefusionen in Volksabstimmungen auf.

In der Regel werden zwei Ansätze zur Erklärung von Gemeindefusionen herangezogen: Problemdruck und politischer Einfluss. Einerseits werden Fusionen als Lösung für Probleme wie die Besetzung von Milizämtern, hohe Kosten für die Bereitstellung von Dienstleistungen, oder eine nicht professionalisierte Verwaltung gesehen. Ein hoher Problemdruck sollte also mit einer höheren Fusionswahrscheinlichkeit einhergehen.

Andererseits bedeutet eine Fusion für die betroffenen Bürger*innen aber auch, dass sie ihre Entscheidungsmacht in lokalen Belangen künftig mit mehr Leuten teilen müssen. Im Extremfall bedeutet es sogar, dass die eigene Gemeinde in einer anderen Gemeinde aufgeht. Letzteres kann Widerstände hervorrufen und Gemeinden, die durch eine Fusion besonders viel politischen Einfluss zu verlieren drohen oder für welche ein solcher Verlust besonders schmerzhaft ist, werden einer Fusion wohl eher skeptisch gegenüberstehen.

Immer weniger Gemeinden in der Schweiz

In der Schweiz ist die Zahl der Gemeinden seit dem Jahr 2000 aufgrund von Fusionen kontinuierlich gesunken (siehe Abbildung 1). Die Mehrheit der Fusionsprojekte war erfolgreich und wurde in den jeweiligen Abstimmungen von allen Gemeinden angenommen. Ein nicht unwesentlicher Teil der Fusionsprojekte wurde jedoch vom Volk abgelehnt.

Abbildung 1: Fusionsprojekte und Gemeindezahl (2000-2016)

Die Kantone Bern, Freiburg, und Waadt, auf die wir uns im Folgenden konzentrieren, hatten seit dem Jahr 2000 besonders viele Fusionsprojekte zu verzeichnen.

Tabelle 1: Fusionsentscheide Bern, Freiburg, Waadt (2000-2017)

Tabelle 1 zeigt die Anzahl Gemeinden, die von 2000 bis 2017 an einem Fusionsprojekt, das zur Abstimmung kam, beteiligt waren, und ob sie es angenommen oder abgelehnt haben. Im Durchschnitt haben die Stimmenden jeder siebten involvierten Gemeinde das Fusionsprojekt am Ende abgelehnt.

Wie können Fusionsentscheide erklärt werden?

Diese Entscheide können mit dem Problemdruck, dem eine Gemeinde ausgesetzt ist, und dem politischen Einfluss, den sie verlieren würde oder zu verlieren glaubt, in Verbindung gebracht werden. Als Indikatoren für Problemdruck dienen die Gemeindegrösse sowie die finanzielle Situation der Gemeinden (Verschuldung und Steuerfuss). Kleine Gemeinden haben mehr Probleme, Ämter zu besetzen und können weniger von Skaleneffekten in der öffentlichen Verwaltung profitieren. Ärmere Gemeinden sehen in der Fusion womöglich einen Ausweg aus der finanziellen Misere.

Die Bedeutung des politischen Einflusses wird über den SVP-Stimmenanteil, die Bevölkerungsfluktuation und das Grössenverhältnis der Gemeinde zur neuen fusionierten Gemeinde angenähert. Der SVP-Stimmenanteil dient als Indiz für die Empfänglichkeit der Wähler*innen für einen Diskurs über (lokale) Fremd- und Selbstbestimmung und für das Mobilisierungspotential von Fusionsgegner*innen in einer Gemeinde.

Die Bevölkerungsfluktuation (Zu- und Abwanderung/Total der Bevölkerung), eine Annäherung an die durchschnittliche Länge der Wohndauer, dient als Indiz für den Zusammenhalt in einer Gemeinde. Die Annahme ist, dass der Zusammenhalt geringer ist, je mehr sich die Bevölkerung verändert. Bei geringem Zusammenhalt ist auch die Bindung der Bürger*innen an ihre Gemeinde geringer, was wiederum die Bedeutung der politischen Einflussnahme auf der lokalen Ebene reduziert.

Das Bevölkerungsverhältnis der existierenden zur neuen, fusionierten, Gemeinde beschreibt den möglichen Verlust an Mitsprache in der fusionierten Gemeinde: je kleiner dieses Verhältnis, desto grösser ist die Bedeutungsabnahme der individuellen Stimme und desto grösser der Verlust des politischen Einflusses.

Methodisches Vorgehen
Für die Untersuchung wird ein hierarchisches logistisches Regressionsmodell verwendet, mit Gemeinden als erster und Fusionsprojekten als zweiter Untersuchungsebene. Dadurch können mögliche unbeobachtete Gemeinsamkeiten der Gemeinden, die Teil desselben Fusionsprojektes sind, aufgefangen werden. Die 543 Gemeinden waren Teil von 166 Fusionsprojekten. Von diesen 166 Projekten scheiterten 50 an der Urne. 19 dieser 50 Projekte wurden von mehr als einer Gemeinde und 8 dieser 19 sogar von mehr als der Hälfte aller Gemeinden in der Abstimmung abgelehnt. In den allermeisten Fällen fanden diese Abstimmungen zum gleichen Zeitpunkt statt, weshalb die Ergebnisse der Abstimmungen in den jeweiligen Gemeinden einander nicht gegenseitig beeinflussen können. Fusionsabstimmungen können sowohl an der Urne als auch in Gemeindeversammlungen stattfinden. Es wurde deshalb kontrolliert, ob eine Gemeinde eine Parlaments- oder eine Versammlungsgemeinde ist, um einen möglichen Einfluss des Abstimmungskontextes einzufangen (dabei handelt es sich nur um eine Annäherung, da auch Versammlungsgemeinden Urnenabstimmungen zu Fusionen durchführen können). Als weitere mögliche Faktoren wurden die Steuerfussdifferenz zwischen den Gemeinden, die Verschuldungsdifferenz, der Unterschied in der politischen Zusammensetzung der Wähler*innenschaft, die Höhe der Pro-Kopf-Zahlungen vonseiten des Kantons (Fusionsbeitrag), ob eine Gemeinde früher schon einmal Teil eines Fusionsprojektes war (Fusionserfahrung), sowie ob mehr als zwei Gemeinden in ein Fusionsprojekt involviert sind, in die Untersuchung einbezogen. Abgesehen von der Steuerfussdifferenz (je höher, desto eher wird ein Projekt abgelehnt) und der Fusionserfahrung (wenn eine Gemeinde früher Teil eines gescheiterten Projekts war, ist es wahrscheinlicher, dass die Stimmenden eine Fusion annehmen), hat keiner dieser alternativen Erklärungsfaktoren einen Einfluss auf das Abstimmungsergebnis.

 

Abbildung 2: Die Rolle von Problemdruck und politischem Einfluss bei Fusionsentscheiden

Abbildung 2 zeigt den Einfluss der verschiedenen Indikatoren auf die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fusionsprojekt abgelehnt wird. Drei verschiedene Modelle werden in dieser Grafik verglichen: ein Modell mit nur Problemdruck-, ein Modell mit nur politischen Einfluss-, und ein Modell mit allen Indikatoren. Die Abbildung zeigt die geschätzten Koeffizienten, sowie den Unsicherheitsbereich der Schätzung (95%-Konfidenzintervall). Weder Verschuldung noch Steuerfuss scheinen eine Rolle zu spielen für die Wahrscheinlichkeit, eine Fusion abzulehnen.

Hingegen ist in grösseren Gemeinden die Wahrscheinlichkeit ein Fusionsprojekt abzulehnen höher – besonders wenn für politischen Einfluss kontrolliert wird. Das Bild bei den politischen Einflussindikatoren ist komplexer. Das Modell zeigt signifikante Effekte in der erwarteten Richtung (höherer SVP-Stimmenanteil, geringere Bevölkerungsfluktuation, und kleineres Bevölkerungsverhältnis gehen alle mit einer höheren Ablehnungswahrscheinlichkeit einher), aber nur wenn die Problemdruckindikatoren ins Modell einbezogen werden.

Dies deutet darauf hin, dass die Problemdruck- und die Einflussindikatoren die Ablehnungswahrscheinlichkeit gemeinsam beeinflussen, also miteinander interagieren. Weitere Analysen haben gezeigt, dass die Bevölkerungsgrösse der entscheidende Faktor für die Interaktion ist. Dies ist in Abbildung 3 illustriert.

Abbildung 3: Der bedingte Effekt von politischem Einfluss auf Fusionsentscheide

Sie zeigt den Unterschied in der Ablehnungswahrscheinlichkeit (y-Achse) für Gemeinden mit sehr tiefem (P10) und sehr hohem (P90) a.) SVP-Stimmenanteil, b.) Bevölkerungsfluktuation und c.) Bevölkerungsverhältnis – aufgegliedert nach sehr kleinen und eher grossen an Fusionsprojekten beteiligten Gemeinden. In kleinen Gemeinden gibt es keine Unterschiede in der Ablehnungswahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von den drei politischen Einflussindikatoren, in grossen hingegen schon. Dies deutet darauf hin, dass der Problemdruck – hervorgerufen durch die Kleinheit – in sehr kleinen Gemeinden das Bedürfnis nach politischem Einfluss schlicht dominiert.

In grösseren Gemeinden hingegen fliessen beide Faktorgruppen in die Abwägung der Stimmenden ein. Der Wunsch nach politischem Einfluss beziehungsweise die Angst vor Einflussverlust kann ein Abstimmungsergebnis durchaus kippen wie die Beispiele von SVP-Stimmenanteil und Bevölkerungsverhältnis zeigen.

Was bedeutet dies nun für Gemeindepräsident*innen, die ihre Wähler*innen von einer Fusion überzeugen möchten? In kleinen Gemeinden scheinen sie leichtes Spiel zu haben, dort reicht es wohl meist, auf den Problemdruck und die (vermeintliche) Milderung desselben durch die Fusion hinzuweisen, um die Stimmenden zu überzeugen.

In grösseren Gemeinden ist die Sache hingegen komplexer. Hier sind die gängigen Argumente für Fusionen – grössere Einheiten erlauben Kosteneinsparungen, bessere Dienstleistungen, und eine professionalisierte Verwaltung – nicht ausreichend. Vielmehr müssen Wege gefunden werden, um die Ängste der Bevölkerung vor politischem Einflussverslust zu zerstreuen – beispielsweise indem bei der Aushandlung des Fusionsvertrags den kleineren Fusionspartnerinnen für eine Übergangsfrist eine feste Anzahl Sitze im Gemeinderat zugesichert werden.


Referenz

Strebel, Michael A. (2019). Why Voluntary Municipal Merger Projects Fail: Evidence from Popular Votes in Switzerland. Local Government Studies.

 

Bild: Agglomeration Obersee