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Im Schatten des Wolfes

Elisa Frank, Nikolaus Heinzer
8th May 2019

Die Wölfe sind zurück in der Schweiz. Dies führt zu intensiven Debatten und zeigt, dass die Rückkehr dieser Tiere auch die Lebenswelten von Menschen ausserhalb der Schafzucht und Jagd berührt. Mit der Wolfsfrage hängen viele andere Konflikte, die die Schweiz beschäftigen, eng zusammen.

„Der Wolf ist ein Stellvertreterkonflikt.“ Dieser Aussage begegnet man oft, wenn man mit Menschen in der Schweiz spricht, die sich in ihrem Alltag beruflich oder privat mit den Wölfen auseinandersetzen. Damit wird üblicherweise erklärt, warum die Debatten rund um die Rückkehr dieses Wildtiers in der Schweiz so hohe Wellen schlagen.

Bedeutet diese Aussage, dass es bei den Diskussionen rund um die wilden Rückkehrer eigentlich gar nicht um Wölfe geht? Dass „der“ Wolf lediglich ein Symbol für andere Dinge und selbst gar nicht relevant ist? Das Gegenteil ist der Fall. Die zurückkehrenden Wölfe – natürlich auch als symbolisch aufgeladene und im kulturellen Gedächtnis fest verankerte Tiere – lösen heftige Reaktionen in der Gesellschaft aus. Und dies, obwohl die Beutegreifer doch scheinbar nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung ein direktes Problem darstellen.

Wölfe: Wissen und Praxis

Elisa Frank und Nikolaus Heinzer sind Projektmitarbeitende des durch den Schweizerischen Nationalfonds geförderten, am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK) – Populäre Kulturen (Universität Zürich) angesiedelten und von Prof. Dr. Bernhard Tschofen geleiteten Forschungsprojekts «Wölfe: Wissen und Praxis. Ethnographien zur Wiederkehr der Wölfe in der Schweiz» (Nr. 162469). Das Projekt interessiert sich für die Wolfsrückkehr als sozialen und kulturellen Prozess und untersucht in diesem Zusammenhang gesellschaftliche Umgangsweisen mit Natur.

Im Rahmen ihrer Promotion führen Frank und Heinzer eine auf qualitativen Methoden (Feldforschung, Interviews, Diskurs- und Medienanalyse) basierende ethnografische Studie von Wissensbeständen und Praktiken durch. Auf einer praxeologischen und relationalen theoretischen Grundlage aufbauend wird das sogenannte „Wolfsmanagement“ als ein komplexes Akteur-Netzwerk konzeptualisiert. Es werden sowohl die offizielle, institutionalisierte Verwaltung der Wölfe als auch weniger naheliegende Bereiche wie z.B. Tourismus, Hundehaltung oder Tierpräparation sowie individuelle, populäre und alltägliche Auseinandersetzungen mit Wölfen kulturwissenschaftlich erforscht.

Doch beim Wolf geht es um mehr. Im Windschatten des Wolfes werden alte und neue Konflikte ausgespielt, Probleme reformuliert und politische Forderungen gestellt, Interessen definiert und Grenzen aktualisiert, demografische Entwicklungen und gesellschaftliche Verhältnisse neu thematisiert. Der Beutegreifer hält die Schweiz auf Trab.

Wenn der Wolf aus Bern kommt

Das Plakat einer im Wallis eingereichten Initiative namens „Für einen Kanton Wallis ohne Grossraubtiere“ zeigt die Umrisse des Kantons. Innerhalb dieser Umrisse sind weisse Schafe – keine Unbekannten auf politischen Plakaten – zu sehen. Die nördliche Kantonsgrenze, die das Wallis vom Rest der Schweiz, der „Üsserschwiiz“, trennt, ist durch eine weiss-rote Schranke verstärkt. Der grimmige, blutrünstige Wolf sitzt auf der anderen Seite dieser Barriere: im Unterland, in Bern, im Machtzentrum.

Plakat der im Wallis eingereichten Initiative namens „Für einen Kanton Wallis ohne Grossraubtiere“

Quelle: bazonline.ch

Das Gefühl der politischen Bevormundung von „oben“, das hier zum Ausdruck kommt, wird oft verknüpft mit Forderungen, den Kantonen mehr Kompetenzen in Bezug auf Grossraubtiere zu übertragen. Solche Forderungen referieren nicht zufällig immer wieder auf das föderalistische „Schweizer Erfolgsmodell“, das helfen soll, die Konflikte rund um Wölfe zu entschärfen, indem je nach kantonalem Kontext unterschiedliche, regional angepasste Lösungen gefunden werden sollen. Demgegenüber stehen Positionen, die betonen, dass ein so mobiles und grossräumig lebendes Tier wie der Wolf nicht sinnvoll innerhalb von Kantonsgrenzen gemanagt werden könne. So werden, angestossen durch die Wölfe, auch Sinn und Unsinn des Schweizer Föderalismus neu ausgehandelt.

(Alpine) Zukunftsszenarien

Die Schranke auf dem Plakat der Walliser Initiative trennt jedoch nicht nur einen Kanton von der Bundeshauptstadt, sondern ebenso Unterland und Berggebiet. Damit betritt man ein sozial und ideologisch besonders sensibles Terrain, sind doch die Alpen seit langem eine Projektionsfläche für die Sehnsüchte moderner Gesellschaften. Gerade in der Schweiz spielen sie für das nationale Selbstverständnis eine spezifische Rolle. Die Diskussionen verlaufen dabei jedoch nicht ausschliesslich konfrontativ, sondern es wird ebenso auf die Tradition der Solidarität des Unterlandes mit den Bergregionen rekurriert. Der Wolf bietet eine fokussierte Perspektive auf Dynamiken zwischen peripherem Alpenraum und urbanen Machtzentren und auf die aktuelle Rolle des Berggebiets in der Schweiz.

Eine Frage, die dabei im Zentrum steht, ist jene nach der Rolle von Wildnis. Für manche steht Wildnis im Widerspruch zur stark genutzten Kulturlandschaft sowie zur dichten und kleinräumigen Besiedelung der Schweiz. Könnte die von Wölfen verkörperte Wildnis aber womöglich in ausgewiesenen Zonen existieren, wie der Verein Lebensraum Schweiz ohne Grossraubtiere vorschlägt, oder kann sie in Naturparks erhalten werden? Oder zeugen im Gegenteil die sich in der Schweiz niederlassenden Wolfsrudel gerade von einer Wildnis, die der Zivilisation gar nicht so gegenläufig ist, sondern ihr vielmehr folgt, sich ihr anpasst und ihren Weg zu finden weiss, wenn man sie nur lässt?

Bei diesen Fragen geht es letztlich auch darum, wie sich die Schweiz über ihren Umgang mit der Natur als fortschrittliche, (post-)moderne Nation darstellt, die auf der Höhe ihrer Zeit ist. Für die einen bedeutet Fortschritt, das Wachstum der Wolfsbestände zu kontrollieren, um das drohende Ende der Schaf-Alpwirtschaft zu verhindern und die befürchtete Verwilderung der Alpen aufzuhalten; denn dies würde den Verlust alpiner Biodiversität und die Entvölkerung der Bergregionen vorantreiben. Für die anderen wäre es in Zeiten von Klimawandel und Anthropozän zeitgemäss, der Natur ihren Platz einzuräumen und eine Koexistenz mit ihr anzustreben.

Aushandlungen des Sozialen

Es ist vielleicht etwas überspitzt zu sagen, dass sich über die Wolfspolitik ein ganzes Land definiert. Doch auf dem Rücken des Wolfes wird Gesellschaft ausgehandelt. Dabei geht es nicht nur um interne sozio-politische Verhältnisse, nachhaltige Traditionen und um Fragen der Selbstbestimmung und -repräsentation, sondern auch um den Umgang mit dem Anderen, dem Fremden, das von aussen kommt oder gar aufgezwungen wird: Kontrolle oder Koexistenz, Ausschluss oder Integration, Grenz- oder Willkommenspolitik? Der Wolf erhöht dabei die Sichtbarkeit von Akteuren und gibt ihnen eine laute Stimme, ihrem Wort Gewicht. Er ermöglicht es, ökologische und ökonomische, politische und kulturelle, gesellschaftliche und historische Zusammenhänge zuzuspitzen und in einer prominenten Arena mögliche Zukünfte der Schweiz mit unmittelbarer Dringlichkeit zur Diskussion zu stellen. Im Schatten des Wolfes wird unser Land also weiterhin in Bewegung bleiben.

 

Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 28. Dezember 2018 erstveröffentlicht.


 

Bild: Felix Brönnimann