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Direkte Demokratie in der ursprünglichen Fassung der Aargauer Kantonsverfassung vom 25. Juni 1980

Thomas Pfisterer
29th March 2019

Aarauer Demokratietage

150 Jahre direkte Demokratie im Aargau – Beginn 1869

Nicht Napoleon, sondern die aargauische Bevölkerung hat den Aargau geschaffen und schafft ihn heute weiter. Eine ihrer Leistungen war der Aufbau einer der direkten Demokratie – zusammen mit anderen Kantonen und dem Bund.

Im Wesentlichen entwickelte sich der Aargau von 1831 bis 1869 zur direkten Demokratie. Höhepunkt und vorläufiger Abschluss waren zwei Volksentscheide: im Grundsatz am 26. September 1869 und im Einzelnen am 24. April 1870 zur Einführung des obligatorischen Referendums für Gesetze, Staatsverträge und Konkordate, alle wichtigen Finanzbeschlüsse (samt Budget und Steuern) sowie ein Referendum durch einen Viertel der Grossratsmitglieder, weithin in der Staatsverfassung 1885 übernommen.

Der Reformbedarf 1973 – 1980

Nach fast einem Jahrhundert unter der Herrschaft der ausgleichenden Staatsverfassung 1885 schien es angezeigt, Demokratie und Regierungssystem zu überdenken und den Veränderungen in Gesellschaft und Staat anzupassen. Sie haben das Gesetz und damit das Referendum ausgehöhlt: durch Dekrete des Grossen Rates), Verordnungen des Regierungsrates sowie Verlagerung der Entscheidungen ins Vorfeld (z.B. die Planung) und in den Nachgang (Finanzbeschlüsse) des Gesetzes.

Dem neuen Verfassungstext liegt ein Demokratieziel zugrunde: „Der Aargau soll eine halbdirekte Demokratie mit weitgehenden Volksrechten sein.“ In der geänderten Wirklichkeit verlangt dies eine Verwesentlichung des Referendums und eine Stärkung der Stellung des Grossen Rates. „halb-direkt“ meint einen politischen Prozess des Ausgleichs zwischen Volk und Behörden. Referenden sollen das ganze politische System prägen. Zugleich ist das Volk auf die Partnerschaft mit den Behörden angewiesen und wirkt mit ihnen zusammen. 

Die neue Kantonsverfassung ist in einem umfangreichen Prozess, geprägt von fünf Volksentscheiden und einer erstaunlichen, kreativen Leistung des Verfassungsrats entstanden. Entsprechend sind die Dokumente aus der Arbeit des Verfassungsrats für das Verständnis wichtig. Die Arbeiten haben von der Verfassungsentwicklung der Schweiz   gewonnen, haben sie aber auch stark beeinflusst; der Aargau hat eine gewisse Pionierrolle erfüllt.

Kern der Verfassungsreform: obligatorisches oder fakultatives Gesetzesreferendum?

Von Anfang an wurde hauptsächlich debattiert, ob das Obligatorium des Gesetzesreferendums fortzuführen oder durch ein Fakultativum abzulösen sei.

Das Obligatorium wurde namentlich gesamtaargauische Klammer (im 19. Jahrhundert für die Konfessionen) und mit Blick auf Tradition und Ideal der Versammlungsdemokratie vertreten. Fakultativum: Leistungsstaat und Ausdehnung des Referendums.

Das Fakultativum wurde hauptsächlich mit dem Wandel vom Ordnungsstaat zum Leistungs- und Gestaltungsstaat begründet, mit seinem Bedarf nach mehr Gesetzen, nach Effizienz und dem wachsenden Bedarf, Bundesrecht umzusetzen. Es sollte zudem das Referendum auf weitere Gegenstände auszudehnen, vor Umgehungen schützen und die Stimmberechtigten vor unnötigen Urnengängen verschonen.

Konzept: Festhalten an einem ergänzten Obligatorium in Partnerschaft mit den Behörden
Das Volk soll über die „wichtigen“ Inhalte entscheiden

Dazu ist das Volk besser zu beteiligen durch Anhörungen und Vorschlagsrechte, Akteneinsichtsrecht, Öffentlichkeitsgebote  sowie Informationspflichten.

Damit baut die Verfassung Wege zur Konkordanz, zu Verhandlungen und Einigungen.Der Inhalt des Gesetzes muss so ausgestaltet werden, dass er möglichst mit dem Volkswillen übereinstimmt. Dazu sind möglichst alle wesentlichen Kräfte und Anliegen einzubeziehen, sodass die Stimmberechtigten vom Inhalt überzeugt sind oder ihm sonst zustimmen (bzw. ihn ablehnen).

Massnahmenpaket: obligatorisches Gesetzesreferendum mit fakultativen Erweiterungen und Schutz gegen Umgehungen

Der Verfassungsrat bemühte sich, in ein Massnahmenpaket. die politischen Rechte zu „verwesentlichen“  dabei betritt sie „mit Behutsamkeit Neuland“.

Zuerst setzt die Verfassung bei Erweiterungen des Referendums an: Das obligatorische Referendum wird zwar beschränkt (nur noch Verfassung, Gesetz usw.), aber auch in seiner Rolle ausgebaut (Übernahme neuer Aufgaben ) und durch verschiedene fakultative Referenden ergänzt: einerseits im Vorfeld des Gesetzes (Planungsreferendum), andererseits im Nachgang dazu (Ausgaben- und Anleihensreferendum). Ergänzt wird das Referendum auch durch eine gewisse Regelung des Verhältnis zum Bund (und die Mitwirkung im Bund) sowie auf interkantonale und internationale Verträge (und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit).

Dann bemüht sich die Verfassung, das Referendum gegen Umgehungen zu schützen. Das dem Referendum unterstellte Gesetz muss „alle wichtigen Bestimmungen“ enthalten; Dekrete des Grossen Rates und Verordnungen des Regierungsrats sind nur dem Gesetz nachgeordnet und inhaltlich beschränkt sowie Ausgaben- und Anleihensbeschlüsse  mit Begrenzungen gegen überbordende Delegationen zugelassen.

Volk und Behörden im Zusammenwirken

Die Stimmberechtigten üben die Volkssouveränität Partnerschaft mit den Behörden aus. Mehr Referenden heisst nicht weniger Behörden, mehr Grosser Rat nicht weniger Volk. Volk, Grosser Rat und Regierungsrat sollen zugleich gewinnen. Die Verfassung will kein Nullsummenspiel. Sie sucht die Kräfte in einem rational begründeten, sinnvollen Zusammenwirken zu optimieren. Direkte Demokratie verlangt nicht möglichst viele Volksentscheide, das Volk nicht, jede Woche zur Urne gerufen zu werden. Sie erwarten eine Ordnung, in der ihre Entscheide durch Unterstützung der Behörden für das Gesamtwohl möglichst gut, effizient und akzeptabel werden.

Schon 2002: Übergang zu einem fakultativen (Behörden-)Referendum mit Rest-Obligatorium

1979 hatte das Volk es abgelehnt, im Wesentlichen zum fakultativen Gesetzesreferendum überzugehen und (wohl) darum den ersten Verfassungsentwurf abgelehnt. Nach der Rückkehr zum Obligatorium hiess das Volk die  Kantonsverfassung 1980 gut. Diese Ordnung hielt nur gut 20 Jahre. Dann ging die Kantonsverfassung weitgehend zum Fakultativum über, und zwar in der Form eines Referendums durch eine Parlamentsminderheit, nicht durch Unterschriftensammlungen.