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Wer für die Bilateralen ist, ist noch lange nicht für die EU

Anna-Lina Mueller
23rd October 2018

Ob jemand die Bilateralen gut findet oder nicht, sagt nichts über die Einstellung dieser Person zur EU aus. Während die Haltung zur EU stark von der Einstellung zu kultureller Öffnung und zur Bewahrung der institutionellen Eigenheiten der Schweiz geprägt ist, scheint die Befürwortung der Bilateralen weniger politisiert zu sein. Dies zeigt eine Bachelorarbeit.

Ob Kündigungsinitiative, „fremde Richter“ oder institutionelles Rahmenabkommen – Aussenminister Ignazio Cassis spricht fast täglich irgendwo über die Schweiz und Europa. Er tut dies mit klarer Absicht: Im schweizerischen politischen System der halbdirekten Demokratie ist es von grosser Wichtigkeit, dass sich die Bevölkerung zu politischen Sachvorlagen eine Meinung bildet. Doch welche Faktoren bestimmen die Einstellung der Schweizerinnen und Schweizer zur Europapolitik?

Acht von zehn finden die Bilateralen gut, aber nur eine von zehn Personen will in die EU

Die Europapolitik der Schweiz ist kein eindimensionales Phänomen. Zumindest scheint es im öffentlichen Diskurs um zwei gänzlich unterschiedliche Dinge zu gehen, wenn über die Haltung zur EU bzw. über die Haltung zu den bilateralen Abkommen der Schweiz mit der EU diskutiert wird. Darauf deuten auch Resultate von Bevölkerungsbefragungen hin: Während in einer Umfrage im Jahr 2015 lediglich gut zehn Prozent der Schweizer Stimmbürger*innen angaben, sich bei einer jetzigen Abstimmung für den Weg eines EU-Beitritts auszusprechen, äusserten sich über achtzig Prozent der Befragten positiv zu den bilateralen Abkommen (FORS 2015).

Meine Untersuchung zeigt, dass in Bezug auf die Europapolitik zwischen zwei verschiedenen Dimensionen unterschieden werden muss: Spricht man von der Befürwortung der EU, diskutiert man nicht automatisch die Befürwortung der Bilateralen. Dies gilt auch umgekehrt. Folglich muss man die Einstellung einer Person zur Schweizerischen Europapolitik grundsätzlich getrennt untersuchen: Welche Gründe bestimmen die Befürwortung der EU? Und welche Faktoren bestimmen die Befürwortung der Bilateralen?

Die Haltung zur EU ist stark politisiert

Meine Analyse zeigt, dass die Befürwortung oder Ablehnung der EU massgeblich von der Position einer Person auf zwei polarisierten gesellschaftlichen Konfliktachsen abhängt: von der kulturellen Einstellung einerseits und dem sogenannten konstitutionellen Patriotismus andererseits.

Ist es einer Person wichtig, die institutionellen Eigenheiten, wie Neutralität und Föderalismus, zu bewahren, ist sie der EU gegenüber kritischer eingestellt als eine Person, die darauf weniger Wert legt. Noch wichtiger für die Erklärung der Haltung zur EU ist jedoch die kulturelle Einstellung einer Person. Sieht eine Person beispielsweise Immigrant*innen als eine Gefahr für das Weiterbestehen der einheimischen schweizerischen Kultur, ist sie der EU gegenüber negativ eingestellt. Nimmt eine Person Immigration eher als Bereicherung einer multikulturellen Gesellschaft wahr, befürwortetet sie die EU stark.

 

Abbildung 1: In dieser Darstellung sind die Erklärungsfaktoren der Haltung zur EU abgebildet. Es zeigt sich, dass die kulturelle Einstellung („Kult“) klar als entscheidende Erklärung heraussticht. Als zweiter Faktor trägt auch die konstitutionelle Patriotismus („Patr“) zur Erklärung bei. Alle weiteren Erklärungsfaktoren sind vernachlässigbar. 
Die Bilateralen bleiben bisher von einer starken Politisierung verschont

Die Einstellung zu kulturellen Fragen – die in der Schweizer Bevölkerung seit den 1990er Jahren stark polarisiert ist – ist auch bei der Haltung zu den bilateralen Abkommen das stärkste Erklärungselement. Allerdings ist die kulturelle Einstellung einer Person weniger prägend für die Haltung zu den Bilateralen, als dies bei der EU der Fall ist.

Die Identifikation einer Person mit der Neutralität, dem Föderalismus und der direkten Demokratie spielt bei den Bilateralen zudem keine Rolle. Die bilateralen Abkommen sind demnach in geringerem Masse Teil dieser beiden polarisierten Konfliktachsen und scheinen demnach weniger politisiert zu sein. Dies ist insofern bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass die Abkommen in ihrem Inhalt und ihren Auswirkungen einer weitreichenden europäischen Integration der Schweiz gleichkommen.

Die Haltung zu den Bilateralen kann durch andere Merkmale erklärt werden als die Haltung zur EU. Erklärungskraft erhält beispielsweise, ob eine Person eine hohe oder tiefe Bildung hat, ob sie die volkswirtschaftliche Lage der Schweiz als positiv bewertet und ob sie ihre berufliche Anstellung als gesichert betrachtet.

Abbildung 2: Hier zeigt sich, dass die kulturelle Einstellung („Kult“) ebenfalls, wie bei der Befürwortung der EU, ein sehr wichtiger Erklärungsfaktor der Haltung zu den Bilateralen ist. Die Erklärungskraft ist allerdings kleiner als bei der Befürwortung der EU. Der konstitutionelle Patriotismus („Patr“) spielt zudem überhaupt keine Rolle. Dafür haben sozioökonomische Merkmale, wie Bildung oder Beruf („beru“, „bild“), ein stärkeres Gewicht.
Zur Zukunft der Schweizerischen Europapolitik

Was bedeuten diese Erkenntnisse konkret für den europapolitischen Weg der Schweiz? Die zugrundeliegenden Einstellungen der Befürwortung der Bilateralen und der EU zeigen in gewisser Weise die Möglichkeiten und Grenzen sowie den Handlungsspielraum der politischen Akteure in der aktuellen Europapolitik der Schweiz auf. Betrachten wir die deutlich höhere Zustimmungsrate zu den bilateralen Abkommen als zur EU, dürfte es für die Befürworter*innen der Bilateralen, einschliesslich des Bundesrats, wichtig bleiben, dass die Wahrnehmung der Abkommen als eher technisches Konstrukt gestützt wird und die Bilateralen nicht stärker entlang der zwei bestimmenden Konfliktachsen politisiert werden.

Sollte die Befürwortung der Bilateralen jedoch stärker entlang der Konfliktachsen des konstitutionellen Patriotismus und der kulturellen Einstellung politisiert werden, könnte dies zu einer abnehmenden öffentlichen Zustimmung zu den bilateralen Abkommen führen. Die Erklärungen der Haltung zu den Bilateralen würden sich dann stärker denjenigen der Haltung zur EU annähern.

Dies wird etwa bei einer bevorstehenden europapolitischen Abstimmung von Relevanz sein: So dürfte der Erfolg eines allfälligen institutionellen Rahmenabkommens davon abhängen, ob dessen Ausgestaltung mit einer dynamischen Rechtsübernahme und eines Streitschlichtungsverfahren die Konfliktlinie des konstitutionellen Patriotismus tangieren würde und wie dies in der Bevölkerung wahrgenommen würde. Der weitere europapolitische Weg der Schweiz dürfte demnach nicht zuletzt davon mitbestimmt werden, wie die erklärenden Einstellungen der Befürwortung der EU und der Bilateralen in ihrer Stärke und Relevanz in Zukunft ausgestaltet sein werden und wie es den politischen Akteuren gelingen wird, die Salienz der relevanten Konfliktdimensionen zu beeinflussen.


Referenzen:

  • Boomgaarden, Hajo G., Andreas R.T. Schuck, Matthijs Elenbaas, und Claes H. De Vreese. 2011. ‘Mapping EU attitudes: Conceptual and empirical dimensions of Euroscepticism and EU support’, European Union Politics, 12: 241-66.
  • Christin, Thomas, und Alexander H. Trechsel. 2002. ‘Joining the EU? Explaining public opinion in Switzerland’, European Union Politics, 3: 415-43.
  • FORS. 2015. ‘MOSAiCH’ (Lausanne).
  • Hobolt, Sara B, und Catherine E de Vries. 2016. ‘Public support for European integration’, Annual Review of Political Science, 19: 413-32.
  • Hooghe, Liesbet, und Gary Marks. 2005. ‘Calculation, community and cues: Public opinion on European integration’, European Union Politics, 6: 419-43.
  • Kitschelt, Herbert. 1994. The transformation of European social democracy (Cambridge University Press: New Work).
  • Safi, Katayoun. 2010. ‘Swiss Euroskepticism: economically or culturally determined?’, in Hanspeter Kriesi, und Simon Hug (Hrsg.) Value Change in Switzerland (Lexington Books: Landham, Md.).

 

Bild: Bundesverwaltung