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Wie Kultur und Klasse ethnische Identitäten verändern

Oliver Strijbis
17th Oktober 2018

Die ethnische Zusammensetzung einer Gesellschaft ist politisch von grossem Interesse. Es zeigt sich jedoch, dass die ethnische Selbstwahrnehmung keinesfalls statisch ist: In Ecuador beispielsweise hat sich ein Viertel der Bevölkerung innert zehn Jahren einer anderen ethnische Kategorie zugeordnet.

Man könnte meinen, dass eine Person während ihres Lebens immer derselben ethnischen Gruppe angehört. Denn ethnische Identität basiert in erster Linie auf der Vorstellung von gemeinsamer Abstammung. Diese Vorstellung wiederum ist typischerweise mit nur schwer veränderbaren persönlichen Eigenschaften wie dem Aussehen (Phänotyp), Namen, Religionszugehörigkeit und Sprache verbunden.

Ethnische Identitäten sind aber weniger stabil als man annehmen könnte. Insbesondere für die USA und Länder Lateinamerikas wurde gezeigt, dass sich die Kriterien für die Einteilung in "weiss", "schwarz", "indigen" und anderen Kategorien über die Zeit hinweg verändern können. Und selbst wenn die Kriterien gleich bleiben, so können Individuen ihre ethnische Identität im Verlauf ihres Lebens ändern. Dies führt dazu, dass über die Jahre auch unabhängig von Migration und unterschiedlichen Mortalitätsraten die ethnische Zusammensetzung eines Landes verändern kann. So wurde gemäss Volkszählungen zum Beispiel die Bevölkerung von Puerto Rico anfangs des 20. Jahrhunderts innerhalb von nur zehn Jahren um etwa 8 Prozent "weisser" (Loveman und Muniz 2007).

Zugehörigkeit verändert sich

In der Literatur werden insbesondere zwei Gründe dafür genannt, weshalb Individuen ihre ethnische Identität ändern. Erstens wird davon ausgegangen, dass Individuen sich zunehmend einer anderen ethnischen Gruppe zugehörig fühlen, wenn sie sich assimilieren, d.h. deren kulturelle Merkmale übernehmen. Als zweiter Grund für eine Änderung der ethnischen Identität gilt soziale Mobilität. So konnte zum Beispiel für Brasilien nachgewiesen werden, dass sich Personen mit demselben Phänotyp eher als Weisse identifizieren, wenn sie einer oberen sozio-ökonomischen Schicht angehören (Schwartzman 2007).

Bis anhin ist jedoch noch unklar wie relevant Assimilierung und soziale Mobilität für eine Änderung der ethnischen Selbstwahrnehmung sind. In einer neuen Studie habe ich daher getestet, wie bedeutend diese beiden Erklärungen für Veränderungen in der ethnischen Zusammensetzung einer Gesellschaft sind (Strijbis 2018).

Daten und Methoden
Für die vorliegende Analyse wurden Individualdaten aus den ecuadorianischen Volkszählungen von 2001 und 2010 verwendet. Denn erstaunlicherweise sind für die beiden Volkszählungen die Individualdaten aller Einwohner Ecuadors (in anonymisierter Form) zugänglich. Um Veränderungen im Antwortverhalten auf individueller Ebene analysieren zu können, wurde auf Basis von detaillierter Information über demographische Merkmale versucht, die Befragten aus dem 2001 Zensus in der Volksbefragung neun Jahre später wieder zu identifizieren. Dies ist für etwa 340'000 Personen gelungen. 

In meinen Analysen bin ich zum Resultat gekommen, dass etwa 23 Prozent der Bevölkerung zwischen den beiden Volkszählungen die ethnische Identität gewechselt hat. Allerdings ist eine überwiegende Mehrheit dieser Änderungen von oder zu einer Mischlingskategorie geschehen (siehe die Abbildung). Änderungen in ethnischer Identität zwischen den Kategorien „indigen“, „schwarz“ und „weiss“ kamen jedoch nur sehr selten vor.

Abbildung: Netto Veränderungen in ethnischen Identitäten von etwa 340'000 EcuadorianerInnen zwischen 2001 und 2010

Assimilierung als treibender Faktor

Die Analyse hat ausserdem ergeben, dass diese Wechsel  der ethnischen Identitäten wesentlich besser mit dem Faktor Assimilierung als mit sozialer Mobilität erklärt werden können. Im Falle Ecuadors hat insbesondere das Erlernen des Spanischen oder einer Indigenensprache einen starken Effekt auf die Identität. So änderten viele Personen, welche 2001 nur eine Indigenensprache beherrschten und bis 2010 spanisch lernten, ihre Selbstkategorisierung von „indigen“ zu „mestizo“ („Mischling“). Ebenfalls – und dies spricht für die Rolle sozialer Mobilität – kategorisieren sich Personen, welche zwischen 2001 und 2010 ihr Bildungsniveau verbesserten, in der Tendenz auch 2010 noch als „weiss“, während viele andere zu einer gemischten Kategorie wechselten.

Insgesamt zeigt die Studie, dass ethnische Identitäten weniger statisch sind, als man meinen könnte. Unter anderem ändern Individuen ihre ethnische Zugehörigkeit aufgrund einer Veränderung ihrer kulturellen Eigenschaften und ihrer Klassenzugehörigkeit. Man sollte diese Flexibilität in den ethnischen Kategorisierungen jedoch auch nicht überschätzen. Nur eine Minderheit der Bevölkerung ändert die ethnische Identität und dies typischerweise auch nur in Bezug darauf, ob sie sich einer "reinen" oder einer Mischkategorie zugehörig fühlt.


Literatur:

  • Loveman, Mara, and Jeronimo O Muniz. 2007. “How Puerto Rico Became White: Boundary Dynamics and Intercensus Racial Reclassification.” American Sociological Review 72 (6): 915–39. https://doi.org/10.1177/000312240707200604.
  • Schwartzman, Luisa Farah. 2007. “Does Money Whiten? Intergenerational Changes in Racial Classification in Brazil.” American Sociological Review 72 (6): 940–63.
  • Strijbis, Oliver. 2018. “Assimilation or Social Mobility? Explaining Ethnic Boundary Crossing between the Ecuadorian 2001 and 2010 Census.” Ethnic and Racial Studies, online first. https://doi.org/10.1080/01419870.2018.1518535.

Bild: commons.wikimedia.com