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Mitentscheider oder doch nur Mitläufer? Kantonale Parlamente in der interkantonalen Zusammenarbeit

Alexander Arens
4th Oktober 2018

Interkantonale Vereinbarungen sind so notwendig wie umstritten: Sie ermöglichen es Kantonen Aufgaben selber zu lösen, folgen aber einer anderen Entscheidungslogik als innerkantonale Politik. Kantonale Exekutiven handeln interkantonale Vereinbarungen aus, kantonale Parlamente können diese ohne inhaltliche Änderungen in corpore annehmen oder ganzheitlich ablehnen. Aber: Wie berechtigt ist hier die Kritik eines Demokratiedefizits wirklich?

Verkehrte Rollen?

Gewaltenteilung ist ein zentrales Merkmal demokratischer Regierungsformen. Danach werden Rechtsetzung, Vollzug und Rechtsprechung durch unterschiedliche Staatsorgane – Legislative, Exekutive und Judikative – wahrgenommen. Vor allem interkantonal gelten hier andere Regeln: Regierungen handeln interkantonale Vereinbarungen (Konkordate) aus, Parlamente können sie ohne inhaltliche Änderungen in corpore – also nur ganzheitlich – annehmen oder ablehnen.

Schnell ist die Rede von «Gouvernokratie» (Möckli 2009: 6) oder «Demokratieabbau» (Rhinow 2003: 6). Parlamentsmitglieder selbst sprechen zum Teil gar von einer «Ohnmacht der Parlamente»[1]. Beat Vonlanthen, ehemaliger CVP-Staatsrat (Freiburg), gab im Anschluss an das Bildungskonkordat HarmoS zu bedenken, dass die «Kantonsparlamente keine Konkordate mehr akzeptieren [würden]». Zu gross sei die Skepsis, zu stark der Wunsch nach aktiver inhaltlicher Mitwirkung.[2] Aber: Wie sehen die Mitwirkungsrechte der Parlamente an interkantonalen Vereinbarungen tatsächlich aus?

Index der formalen parlamentarischen Beteiligung

Abbildung 1 zeigt den Index der formalen parlamentarischen Beteiligung bei kantonalen Aussenbeziehungen. Dieser setzt sich aus vier Indikatoren zusammen (Schwarz et al. 2014): Mitwirkungsrechte, Kommissionswesen, Regelungsebene und Ressourcenaufwand.[1] Alle Indikatoren sind positiv miteinander verbunden[2] und bilden einen gemeinsamen Faktor[3]. Kantone mit ausgebauten Mitwirkungsrechten, z.T. gar auf Stufe Verfassung kodifiziert, besitzen tendenziell auch spezifische Kommissionen für Aussenbeziehungen, sind Teil interparlamentarischer Organe und stellen die nötigen Ressourcen zur Mitwirkung bereit. Während fast überall Informations- und Konsultationsrechte bestehen und ad-hoc Kommissionen zur Vorberatung die absolute Ausnahme sind, variieren die Kantone besonders bezüglich interparlamentarischer Organe und Ressourcenaufwand. Insgesamt weisen vor allem die Kantone der Westschweiz und der Nordwestschweiz überdurchschnittliche Indexwerte (Ø = 0,55) auf. Dies erstaunt wenig: Mit dem ParlVer[4] einerseits und der IPK[5] andererseits haben beide Kantonsgruppen neben weitreichenden innerkantonalen auch interparlamentarische Regelungen. Tiefe Indexwerte bestehen dagegen für die aktiven und ehemaligen Landsgemeindekantone. Aber auch hier sind Bemühungen zur stärkeren Einbindung der Parlamente zu erkennen. So wurden im Kanton Glarus per Juli 2018 formale Beteiligungsrechte des Landrats an den Ausssenbeziehungen festgeschrieben.

 

Abbildung 1: Index der parlamentarischen Beteiligung nach Kanton, 2017

Quelle: eigene Zusammenstellung auf Basis der kantonalen Gesetzessammlungen (2017) und Budgets (2016) sowie Strebel (2014) und Bundi et al. (2017).

 

Theorie und Praxis

Die bisherige Forschung kann bestätigt werden, wonach «alle Kantone […] heute Abläufe eingeführt [haben], um diese [(die Parlamente)] besser in die interkantonale Zusammenarbeit einzubeziehen» (Iff et al. 2010: 38; siehe auch Strebel (2014)). Die Analyse zeigt jedoch, dass es nicht nur einzelner Rechte bedarf, sondern dass parlamentarische Mitwirkung vielmehr ganzheitlich stattfindet. So ist auch ein Votum von Patrick Hafner (SVP/BS, Grossrat) zu verstehen, der von den Abgeordneten ein «selbstbewussteres Auftreten […] gegenüber Regierungen» (SGP 2009: 18) einfordert.

 


[1] Samuel Ramseyer (SVP/ZH, ehem. Kantonsrat) in der Plenumsdiskussion vom 22. August 2005 zur Interpellation «Auswirkungen der Neugestaltung des Finanzausgleichs (NFA) auf die Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments» (Nr. 331/2003)

[2] Beat Vonlanthen (CVP/FR, Ständerat, ehem. Grossrat und Staatsrat) im Interview «Kantonsparlamente akzeptieren keine Konkordate mehr», geführt von Davide Scruzzi und veröffentlicht in Neue Zürcher Zeitung vom 14.10.2014, S. 13.

[3] Mit Mitwirkungsrechten sind Informations- und Konsultationsrechte sowie der Kodifizierung ebendieser auf Verfassungsstufe gemeint. Beim Kommissionswesen wird zwischen Systemen mit nicht-ständigen Kommissionen, ständigen Fachkommissionen und solchen mit spezifischer Kommission für Aussenbeziehungen unterschieden. Bei der Regelungsebene wird überprüft, ob rein innerkantonale oder gar interkantonale, interparlamentarische Strukturen bestehen. Zuletzt ergibt sich der Ressourcenaufwand als zusammengesetzte Grösse aus den Ausgaben zugunsten des Parlaments relativ zur Anzahl Parlamentsmitglieder und dem mittleren Arbeitsaufwand der Abgeordneten. Aus der Verrechnung aller Komponenten resultiert ein Index der parlamentarischen Beteiligung, wobei gilt, dass je höher der Indexwert, desto stärker die parlamentarische Beteiligung.

[4] Im paarweisen Vergleich zeigt sich, dass alle vier Grössen mindestens auf dem 10-Prozent-Niveau miteinander verbunden sind. Cronbach’s Alpha beträgt 0,78, was bedeutet, dass die vier Variablen auf einer intern konsistenten, gemeinsamen Skala liegen (Kaiser-Meyer-Olkin-Kriterium (KMO) = 0,74)

[5] Aus der Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse) ergibt sich nur ein Faktor mit Eigenwert > 1. Der Scree-Test bestätigt, dass die Datenreduktion zu einem einzigen Faktor die optimale Lösung darstellt.

[6] Westschweizer Vertrag über die Mitwirkung der Kantonsparlamente bei der Ausarbeitung, der Ratifizierung, dem Vollzug und der Änderung von interkantonalen Verträgen und von Verträgen der Kantone mit dem Ausland (ParlVer) zwischen Freiburg, Waadt, Wallis, Neuenburg, Genf und Jura

[7] Interparlamentarische Konferenz der Nordwestschweiz (IPK) zwischen Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern und Solothurn.

 

Referenz:

Arens, Alexander (2018). Mitentscheider oder doch nur Mitläufer? Kantonale Parlamente in der interkantonalen Zusammenarbeit, in: Vatter, Adrian (Hg.): Das Parlament in der Schweiz. Macht und Ohnmacht der Volksvertretung. Zürich: NZZ Libro.

Literatur:

  • Bundi, Pirmin, Daniela Eberli und Sarah Bütikofer. 2017. Between Occupation and Politics: Legislative Professionalization in the Swiss Cantons. Swiss Political Science Review 23(1): 1–20.
  • Iff, Andrea, Fritz Sager, Eva Herrmann und Rolf Wirz. 2010. Interkantonale und interkommunale Zusammenarbeit. Defizite bezüglich parlamentarischer und direktdemokratischer Mitwirkung. Bern: Kompetenzzentrum für Public Management (KPM).
  • Möckli, Silvano. 2009. Parlamente und die Interkantonalisierung der Politik. Parlament. Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen 12(3): 5–11.
  • Rhinow, René. 2003. Auswirkungen der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) auf die Parlamente. Parlament. Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen 6(3): 5–9.
  • Schwarz, Daniel, Reto Steiner und Jan Fivaz. 2014. Mitwirkungsmöglichkeiten des Urner Landrats bei er Ausarbeitung von Konkordaten und anderen Vereinbarungen. Bern: Kompetenzzentrum für Public Management (KPM).
  • SGP – Schweizerische Gesellschaft für Parlamentsfragen. 2009. Parlamente und die Interkantonalisierung der Politik/Les parlements face à «l’intercantonalisation» de la politique. Parlament. Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen 12(3): 12–18.
  • Strebel, Michael. 2014. Exekutivföderalismus in der Schweiz? Baden-Baden: Nomos.

Bild: www.be.ch