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Was wollen die Bürger*innen von der Demokratie und wann wollen sie es?

Michael A. Strebel, Daniel Kübler, Frank Marcinkowski
23rd Juli 2018

Eine verbreitete Sichtweise zum politischen Interesse und Engagement ist, dass Bürger*innen der Möglichkeit demokratischer Beteiligung und der Qualität demokratischer Prozesse geringe Bedeutung zumessen, solange das politische Ergebnis stimmt und alles funktioniert. Wir untersuchen diese Behauptung und stellen fest, dass demokratische Partizipation und transparente Prozesse von den Bürger*innen geschätzt und als wichtig erachtet werden - unabhängig vom konkreten politischen Ergebnis.

In den letzten zehn Jahren hat der Bau des Flughafens Berlin Brandenburg  in der Öffentlichkeit grosse Aufmerksamkeit erregt und ist Gegenstand anhaltender Kontroversen über die (missbräuchliche) Verwendung öffentlicher Gelder und über die mangelnden Beteiligungsmöglichkeiten der Bevölkerung an Planungsprozessen. Die Flughafen Berlin Brandenburg GmbH (FBB), ein gemischtöffentliches Unternehmen welches die Bauaufsicht innehat, befand sich inmitten dieser Misswirtschaft und Korruptionsskandale und der öffentliche Druck führte zum Rücktritt mehrerer ihrer Vertreter, darunter des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit. Seitdem diese Probleme bekannt geworden sind, besteht ein anhaltendes öffentliches Interesse an den Geschehnissen rund um FBB und BER.

Eine verbreitete Behauptung: Bürger*innen wollen sich nicht in die Politik einmischen, wenn alles gut läuft

Diese Anekdote steht im Einklang mit einer verbreiteten Meinung darüber, wann sich die Öffentlichkeit in die Politik einmischen will, nämlich wenn etwas falsch läuft. Das ist die These der beiden amerikanischen Politikwissenschaftler*innen John R. Hibbing und Elizabeth Theiss-Morse in einem prominenten Buch namens „Stealth Democracy“. Die beiden argumentieren, dass sich die Bürger*innen nicht wirklich für demokratische Verfahren und Beteiligungsmöglichkeiten interessieren, solange sich politische Entscheidungsträger korrekt verhalten.

Wenn alles glatt läuft und die Leute von der Politik bekommen, was sie wollen, sehen sie keinen Grund, sich an ‚mühsamen‘ politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Anders ausgedrückt, die Befürworter der ‚Stealth Democracy‘ Theorie behaupten, dass den Leuten die ‚Outputs‘ und die Leistung des politischen Systems wichtig sind. Hingegen ist ihnen egal, wie diese Outputs zustande kommen – der ‚Input‘ ins und der ‚Throughput‘ durch das politische System ist für sie unwichtig. Nur wenn es ernsthafte Probleme mit den Outputs des politischen Systems gibt, wollen die Bürger*innen die Möglichkeit haben, durch demokratische Kontrollmechanismen einzugreifen.

Empirische Analyse: Ein Umfrageexperiment mit 5000 Befragten in vier westeuropäischen Ländern
Wir haben in einem Experiment geprüft, ob wir empirische Hinweise für diese Behauptung finden. In einer repräsentativen Umfrage mit 5.000 Personen aus acht Ballungsräumen in Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Grossbritannien, haben wir die Befragten mit einem fiktiven Szenario konfrontiert. Den Befragten wurde gesagt, dass eine Kommission eingesetzt werden soll, welche ein grosses Infrastrukturprojekt des öffentlichen Verkehrs in der jeweiligen Stadtregion plant und umgesetzt. Die Aufgabe der Befragten war, diese fiktiven Kommissionen zu bewerten.

Den Befragten wurden drei Auswahlaufgaben vorgelegt. Bei jeder Auswahlaufgabe mussten sie zwischen zwei Kommissionen wählen. Diese Kommissionen wurden nach dem Zufallsprinzip auf fünf verschiedenen Attributen variiert. Die Befragten mussten angeben, welche der beiden zufällig zusammengestellten Kommissionen sie bevorzugen. Dieses so genannte ‚Conjoint-Experiment‘ erlaubt es, über alle Befragten hinweg zu berechnen, wie wichtig ein bestimmtes Attribut für die Wahl einer Kommission ist. Wir können zum Beispiel sagen, wie sehr sich die Wahrscheinlichkeit, eine Kommission zu wählen, für die durchschnittliche Person ändert, wenn das Projektbudget nur um 0-10% statt um 20-30% überschritten wird.

Das Hauptziel unserer Analyse war es, zu beurteilen, wie wichtig die Leistung einer Kommission im Vergleich zu ihren demokratischen Qualitäten und ihrer Entscheidungsbefugnis ist. Zur Messung des Outputs haben wir das Ausmaß der Überschreitung des Projektbudgets variiert. Um die demokratische Qualität einer Kommission zu operationalisieren, haben wir zwei Attribute verwendet: i.) wie sich die Kommission zusammensetzt (aus direkt gewählten Vertretern, Vertretern der lokalen Regierung oder unabhängigen Experten), und ii.) wie transparent ihr Entscheidungsprozess ist (alles ist öffentlich, oder nur die endgültigen Entscheidungen sind öffentlich). Um schließlich die Entscheidungsbefugnis einer Kommission zu operationalisieren, haben wir die Art und Weise, wie die Kommission ihre Entscheidungen trifft (Mehrheitsregel oder einstimmig) variiert und ob sie ihre Entscheidungen ohne weitere Zustimmung der lokalen Regierungen in der Region umsetzen kann oder nicht.

Bürger*innen legen Wert auf demokratische Verfahren unabhängig vom Output

Die Hauptergebnisse sind in der folgenden Abbildung dargestellt (siehe Infobox für Details zum methodischen Vorgehen). Die x-Achse zeigt die Veränderung der Wahrscheinlichkeit, eine Kommission zu wählen, wenn ein Attribut von einer Ausprägung zur anderen wechselt. Beispielsweise hat eine Kommission mit einer Budgetüberschreitung von 0-10% eine fast 20 Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit, gewählt zu werden, als eine Kommission mit einer Budgetüberschreitung von 20-30%. Andere Attribute haben einen geringeren Einfluss auf die Präferenzen der Bürger*innen, aber auch sie spielen eine Rolle. Beispielsweise bevorzugen die Bürger*innen Kommissionen, die sich aus direkt gewählten Vertreter*innen zusammensetzen, gegenüber Kommissionen, die aus unabhängigen Expert*innen oder Delegierten der Lokalbehörden bestehen. Wenn es um die Frage geht, was die Bürger*innen von einer Demokratie erwarten, so legen unsere Ergebnisse nahe, dass ihnen zwar in erster Linie Outputs wichtig sind, dass aber demokratische Beteiligungsmöglichkeiten und transparente Prozesse wichtige Nebenaspekte sind.

Wollen die Bürger*innen eher in politische Prozesse eingebunden sein, wenn der Output schlecht ist? Um diese Frage zu beantworten, haben wir analysiert, ob die Kommissionszusammensetzung oder die Art und Weise, wie sie mit der Öffentlichkeit kommuniziert, an Bedeutung gewinnt, wenn das Budget überschritten wird. Wir finden keinen Hinweis darauf, dass dies der Fall ist, was dem oben dargelegten Argument der ‚Stealth Democracy‘ zuwiderläuft. Wir stellen jedoch fest, dass die Zusammensetzung einer Kommission für die Befragten wichtiger wird, wenn die Kommission ihre Entscheidungen umsetzen kann, ohne weitere Zustimmung der lokalen Behörden in der Region zu benötigen. Dies deutet weiter darauf hin, dass die Bürger*innen in der Lage sein wollen, Entscheidungsgremien zu beeinflussen und zu kontrollieren - unabhängig von deren Leistung.

Abbildung: Einflussfaktoren auf die Wahrscheinlichkeit der Zustimmung zu einer Kommission

Insgesamt zeigt unsere Analyse, dass sich die Bürger*innen - im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung - für demokratische Verfahren interessieren. Dies war auch der Fall beim Bau des Berliner Flughafens, noch vor den Terminproblemen, Budgetüberschreitungen und Korruptionsskandalen: Ein erheblicher Teil der Bürger*innen war an Demonstrationen gegen die geplanten Start- und Landebahnen und gegen den mangelnden Einbezug lokaler Interessen im Planungsprozess beteiligt.

Wenn wir also die öffentliche Unterstützung für unsere demokratischen politischen Systeme stärken wollen, sollten wir uns nicht nur auf die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen konzentrieren, sondern den Bürger*innen auch bedeutsame Möglichkeiten zur Teilnahme an demokratischen Prozessen bieten und sicherstellen, dass die demokratischen Verfahren respektiert werden.


Beitrag: Strebel, Michael A., Kübler, Daniel & Frank Marcinkowski (2018). “The importance of input and output legitimacy in democratic governance: Evidence from a population-based survey experiment in four West European countries”, European Journal of Political Research (Advance online publication).

Bild: Wikimedia Commons