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Dezentralisierung oder demokratische Frustration? Kommunalwahlen in Tunesien

Jan-Erik Refle
4th Mai 2018

Wenn die Tunesier am 6. Mai an die Urnen gehen, entscheiden sie nicht nur über den Ausgang der langersehnten Kommunalwahlen, sondern auch über die Zukunft der noch jungen tunesischen Demokratie.

Eigentlich hätte die Wahl, bei welcher 350 Kommunalräte in Tunesien ernannt werden, 2016 stattfinden sollen, um die lokale Politik in Tunesien demokratisch zu legitimieren. Allerdings wurde – von der Zivilgesellschaft stark kritisiert – das Wahldatum mehrmals verschoben und 2017 die Zusammensetzung der unabhängigen Wahlbehörde geändert. Die Wahlen sollen nicht nur zeigen, wie lebendig die tunesische Demokratie ist, sondern auch ob die Dezentralisierung, wie sie in der neuen Verfassung niedergeschrieben ist, eine Chance im Zentralstaat Tunesien hat.

Die Kommunalwahlen könnten den demokratischen Enthusiasmus der tunesischen Bevölkerung wiederherstellen oder aber zu demokratischer Frustration führen. Zwar war Tunesien das erste arabische Land, das vom Freedom House Index als frei gewertet wurde (Freedom House 2018) und von einigen Forschern als etablierte Demokratie bezeichnet wird (Brownlee et al. 2015:171). Allerdings gibt es auch vermehrt Forscher, die die Möglichkeit einer Wiederherstellung der alten Ordnung diskutieren (Allal/Vannetzel 2017:11ff.; Klaus 2017:49ff.). Angesichts der 2017 erfolgten Annahme des Gesetzes zur Rekonziliation, das eine Amnestie für eine Reihe von Geschäftspersonen, die vom System Ben Ali profitiert haben beinhaltet und durch die Zivilgesellschaft als Schritt weg von der Demokratie bewertet wird  könnte die Kommunalwahl auch antidemokratische Kräfte stärken.  

Insgesamt sieht die Zivilgesellschaft laut zahlreichen vom Autor durchgeführten Interviews die lokale Demokratisierung nicht nur als wichtigen Schritt zur Vervollständigung der Demokratisierung, sondern auch als Möglichkeit auf lokaler Ebene Mitbestimmung und sogar teilweise finanzielle Unabhängigkeit vom Zentralstaat zu verankern. Die vielen Verschiebungen der Wahlen haben allerdings Zweifel an der Durchsetzung lokaler Unabhängigkeit aufkommen lassen und kurz vor den Wahlen scheint der Ausgang mit Hinblick auf die Stimmenverteilung komplett offen.

Forschungsprojekt
Im Rahmen eines Forschungsprojektes (Succès des mouvement sociaux en Tunesie) an der Universität Lausanne wird die Rolle der Zivilgesellschaft in Tunesien nach 2011 näher beleuchtet. Während eine Reihe von Studien die Rolle sozialer Bewegungen für die ursprünglichen Proteste in 2010/2011 analysiert, fokussiert das Forschungsprojekt auf die Zeit nach 2011, die sich als Phase der demokratischen Konsolidierung beschreiben lässt.

Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden eine Reihe zivilgesellschaftlicher Leader aber auch eine Reihe von gehobenen Staatsbediensteten zu ihrer Perspektive auf die Demokratie in Tunesien, sowie zu der Interaktion zwischen Zivilgesellschaft und Staat befragt. Ziel des Projektes ist es, über eine Netzwerkanalyse einzelner Akteure, sowie deren Perspektive auf die Demokratie, nachzuvollziehen an welchen Punkten Akteure interagieren. Zudem interessiert, in wie weit die Visionen der Akteure einer tunesischen Demokratie durch diese Netzwerke beeinflusst werden.

Mit Bezug auf verschieden Theorien sozialer Bewegungen (framing, networks, outcomes), sowie mit Hilfe von Interviews und einer Medienanalyse soll geklärt werden, welche Zugangspunkte spezifischen Akteuren der Zivilgesellschaft offenstehen und in wie weit diese erfolgsversprechend sind, um die Politik zu beeinflussen. Die Forschung wird von der Universität Lausanne, sowie der Fondation de l’Université gefördert.

Tunesien hat bereits eine Reihe von Herausforderungen im Demokratisierungsprozess gemeistert, sei es die Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung, die ersten freien Parlamentswahlen nach Ben Ali, die darauffolgenden Präsidentschaftswahlen oder zahlreiche Reformen der politischen Prozesse. Nichtsdestotrotz bleiben noch zahlreiche weitere Herausforderungen wie die Terrorismusbekämpfung (Labidi 2014; Fatafta 2016:3), Korruption (Ratka/Roux 2016:78; International Crisis Group 2015:11ff.) oder die anhaltende wirtschaftliche Stagnation (Trabelsi 2015:256f.; Hmed 2016:140; Beinin 2016:59),  die den Demokratisierungsprozess beeinflussen.

Speziell die Situation im tunesischen Hinterland ist schwierig, da Arbeitslosigkeit, Armut und fehlende wirtschaftliche Entwicklung fortbestehen. Torelli hat bereits darauf hingewiesen, dass die Probleme der peripheren Gebiete auch politisch auf  lokalem Level und nicht seitens der Zentralregierung zu lösen seien (Torelli 2016). Hierbei ist die Relevanz der demokratischen Legitimierung lokaler Akteure hervorzuheben. Tunesien bedarf starker regionaler Versammlungen, die auch mehr Verantwortung einfordern, wenn die Dezentralisierung Wirklichkeit werden soll.

Volpi et al. (2016:377) haben darauf hingewiesen, dass die Verschiebung der Kommunalwahlen darauf zurückzuführen ist, dass ein politischer Wettbewerb vermieden wird. Demnach ist die De-Priorisierung der Kommunalwahlen auf ad-hoc Konstrukte wie Spezialdelegationen bzw. die Neuordnung oder Beibehaltung existierender Räte (je nach Machtkonstellation) zurückzuführen, die bislang nicht (de-)legitimiert wurden (Volpi et al. 2016 :380).  Dieser Interpretation folgend wäre es kein Wunder, wenn die bereits sechs Mal verschobenen Wahlen (ursprünglich 2016, dann Beginn, dann Herbst, dann Dezember 2017, dann auf unbestimmte Zeit, darauffolgend März 2018 und Mai 2018) zu weiteren Konflikten zwischen dann alten und neugewählten Räten führt.

Die Situation in Tunesien

Nach dem durch den Arabischen Frühling erzwungenen Ende Regimes von Ben Ali 2010 fanden zunächst Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung statt. Diese erarbeitete die inzwischen in Kraft getretene Verfassung. 2014 fanden zudem die ersten freien, demokratischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt, die von der Partei Nida Tounes, respektive deren Anführer Beji Caid Essebsi, gewonnen wurden. Bei den Parlamentswahlen schaffte es Ennahdha, eine Partei mit religiösen Wurzeln, auf den zweiten Rang. Inzwischen ist Ennahdha sogar die stärkste Fraktion im Parlament, nachdem sich eine Partei von Nida Tounes 2016 abgespalten hat. Die Regierung wird aus einer Mischung von Nida Tounes, Ennahdha und weiterer kleinerer Parteien gebildet.

Seit dem Ende des Regimes von Ben Ali besteht bereits die 8. Regierung (kleinere Änderungen nicht mitgezählt). Während einige Institutionen wie die Wahrheitskommission oder die Medienkontrollinstanz bereits gegründet wurden, sind andere wie das Verfassungsgericht noch nicht existent. Tunesien kämpft zudem mit einer mangelnden Entwicklung der Wirtschaft, die stark vom Tourismus abhängig ist. Aber auch der Terrorismus und Sicherheitsfragen werden von der Bevölkerung als wichtig wahrgenommen.

Vieles deutet darauf hin, dass der Status quo auf lokaler Ebene im Interesse einer Reihe von Akteuren ist, die ihre lokale Macht durch Wahlen verlieren könnten. Mit Hinblick auf die jetzigen Akteure wird es politisch spannend, ob diese auch die Wahlen in allen Regionen akzeptieren oder ob einige Akteure auf die bestehenden, nicht demokratisch legitimierten Arrangements insistieren. Die Demokratisierung könnte so zurückgeworfen werden, falls das Wahlergebnis tatsächlich nicht akzeptiert würde.

Auch die Parteien auf nationalem Level könnten ein Interesse daran haben, einer Dezentralisierung entgegenzuwirken, gerade wenn die Zusammensetzung der lokalen Räte nicht den Machtkonstellationen auf nationaler Ebene entspricht. Ein weitreichender Sieg nur einer Partei ist nicht zu erwarten, da die beiden größten Parteien Nida Tounes und Ennahdha, aber auch kleinere Parteien wie die Front Populaire oder die UPI Stimmen auf sich vereinen werden; sicher werden auch zahlreiche unabhängige Listen einen relevanten Stimmanteil erhalten. Bei einer Wahlumfrage Mitte 2017 wurden die unabhängigen Listen von 54% der Teilnehmenden als die Listen genannt, welche sie wählen werden (Kapitalis 2017). Ob diese die politische Landschaft prägen können oder ob die großen Parteien die Zeit seitdem genutzt haben, um ihre Wähleranteile auszubauen, bleibt abzuwarten, da repräsentative Umfragen in Tunesien nicht regelmäßig durchgeführt werden.

Auch auf nationaler Ebene könnte eine Verschiebung der Stimmen gegenüber den letzten nationalen Wahl eine Regierungsumbildung nach sich ziehen, bevor 2019 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anstehen. Immerhin deuten die Statistiken zu den Kandidaten für die Kommunalwahlen mit über 50% der Kandidaten unter 35 Jahren und nahezu 50% Frauen darauf hin (Attia 2018), dass die neuen lokalen Räte die oft kritisierte Unterrepräsentation jüngerer Bevölkerungsgruppen und Frauen in der Politik beheben könnten. Schließlich wird die Frage, ob lokal gewählte Politikerinnen und Politiker in der Lage sind, mehr Kompetenzen einzufordern, effektiv lokale Politiken umzusetzen und eine Lösung mit dem tunesischen Zentralstaat zu finden, nicht nur über den Erfolg der Dezentralisierung, sondern auch über den Erfolg der tunesischen Demokratie entscheiden.

 


 

Bibliographie

  • Allal, Amin and Vannnetzel, Marie (2017). Des lendesmains qui déchantent? Pour une sociologie des moments de restauration, in : Politique africaine, no.146, 2017/2, pp. 5-28.
  • Attia, Syrine (2018). Tunisie : quelles nouveautés pour les élections municipales de 2018 ? , in: Jeune Afrique, verfügbar online:
  • http://www.jeuneafrique.com/549026/politique/tunisie-quelles-nouveautes-pour-les-elections-municipales-de-2018/ (19.4.018)
  • Beinin, Joel (2016).Workers and thieves. Labor movements and popular uprisings in Tunisia and Egypt, Standford University Press, Stanford.
  • Brownlee, Jason; Masoud, Tarek and Reynolds, Andrew (2015). The Arab Spring. Pathways of Repression and Reform, Oxford University Press, Oxford.
  • Fagan, Sebastian (2015). Tunisia declared free by freedom house, verfügbar unter: http://www.tunisia-live.net/2015/02/11/tunisia-declared-free-by-freedom-house/ (20.03.015).
  • Fatafta, Marwa (2016). Beyond Closing Mosques and shutting down facebook pages. How Tunisia can address the threat of online and offline terrorist recruitment, in: DGAPkompakt, no. 24, verfügbar online : https://dgap.org/en/think-tank/publications/dgapanalyse-compact/beyond-closing-mosques-and-shutting-down-facebook-pages (19.9.2017).
  • Freedom House (2018). Tunisia, verfügbar unter: https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2018/tunisia (20.04.2018).
  • Hmed. Choukri (2016). Au-delà de l’exception tunisienne : Les failles et les risques du processus révolutionnaire, in :  Pouvoirs, no. 156, pp. 137-147.
  • International Crisis Group (2015). Réforme et stratàgie sécuritaire en Tunsie, Rapport Moyen-Orient/Afrique du Nord no. 161, verfügbar online : https://www.crisisgroup.org/fr/middle-east-north-africa/north-africa/tunisia/reform-and-security-strategy-tunisia (24.1.2017).
  • Kapitalis (2017). Sondage : Nidaa et Ennahdha font toujours la course en tête, verfügbar online : http://kapitalis.com/tunisie/2017/03/08/sondage-nidaa-et-ennahdha-font-toujours-la-course-en-tete/ (20.9.2017).
  • Klaus, Enrique (2017). La restauration autoritaire au prisme des instruments de propaganda. Le cas de l’agence Tunis Afrique Presse (TAP), in : Politique africaine, 2/2017, no. 146, pp. 49-71.
  • Dahmani, Frida (2017). Tunisie : l’instance électorale est-elle vraiment remise sur pied ? , in : Jeune Afrique, verfügbar online : http://www.jeuneafrique.com/mag/498502/politique/tunisie-linstance-electorale-est-elle-vraiment-remise-sur-pieds/ (19.12.2017).
  • Labidi, Moez (2014). Terrorism and the economy in Tunisia, verfügbar online : http://www.atlanticcouncil.org/blogs/menasource/terrorism-and-the-economy-in-tunisia (10.08.2017).
  • Ratka, Edmund and Roux, Marie-Christine (2016). Dschihad statt Demokratie. Tunesiens marginalisierte Jugend und der islamistische Terror, in : Konrad Adenauer Stiftung (Ed.). Globalisierung des Terrorismus, Auslandsinformationen, No. 1/2016, pp. 68-98, verfügbar online :  http://www.kas.de/wf/doc/kas_44744-544-1-30.pdf?160510123259 (23.9.2016).
  • Torelli, Stefano M. (2016). Tunisia: Do not take it for granted, verfügbar online : http://www.ispionline.it/it/pubblicazione/tunisia-do-not-take-it-granted-15196 (22.11.2016).
  • Trabelsi, Mohamed Ali  2014). Post-Political transitions in Arab Spring Countries: the challenges, in: Procedia- Social and Behavioral Sciences, no. 109, pp.250-256.
  • Volpi, Frédéric, Merone, Fabio and Loschi, Chiara (2016). Local (R)evolutions in Tunisia, 2011-2014: Reconstructing municipal political authority, in: The Middle East Journal, vol. 70, no.3, pp. 365-381g wahrgenommen.

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