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Was die Demokratie von der Landsgemeinde lernen kann

Lukas Leuzinger
17th April 2018

Die weitgehenden Mitspracherechte an der Landsgemeinde können anderen Demokratien als Inspiration dienen. Zugleich steht auch die Landsgemeindedemokratie selbst vor der Frage, wie sie weiterentwickelt werden soll.

Abstimmungen in Glarus und Appenzell Innerrhoden stossen auf überproportional grosses Interesse in der Schweiz und im Ausland. Der Grund liegt im Verfahren: Die Landsgemeinden am letzten Sonntag im April (Appenzell) und am ersten Sonntag im Mai (Glarus) ziehen jedes Jahr zahlreiche Besucherinnen und Besucher, und Beobachtende von ausserhalb in ihren Bann. Und wenn die Glarner über ein Burkaverbot abstimmen, steigert sich der Rummel nochmals, sodass nationale und internationale Medien der Versammlung seitenfüllende Reportagen und Experteneinschätzungen widmen.

Die Landsgemeinde als Urform der Demokratie, als jahrhundertealte Institution (in Glarus fand die erste belegte Landsgemeinde 1387 statt), als schöne Tradition – das macht wohl einen wichtigen Teil der Faszination für dieses Modell aus. Allerdings: Die Landsgemeinde auf ihr Alter, auf ihren urtümlichen Charakter zu reduzieren, wird ihrer Bedeutung nicht gerecht. Die Glarner und Appenzeller haben die Landsgemeinde nicht deshalb bis heute beibehalten, weil sie Freude an der Tradition haben. Sondern weil sie die Möglichkeit zur direktdemokratischen Mitsprache schätzen.

Keine Flut von Anträgen

Die Landsgemeinde steht für eine eigenständige Auffassung der Demokratie, mit spezifischen Eigenschaften, mit Nachteilen, aber auch Vorteilen. Die direkte Begegnung unter den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern bringt eine einzigartige politische Kultur hervor. Sobald der Glarner Landammann mit den Worten «Ds Wort isch frii» (Das Wort ist frei) die Diskussion zu einem Sachgeschäft eröffnet, kann jeder Versammlungsteilnehmende ans Rednerpult treten und zu seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern sprechen. Ein einziger Bürger kann mit einem Memorialsantrag ein Anliegen auf die politische Bühne bringen. In Glarus kann zudem jeder und jede zu allen Geschäften, die behandelt werden, Änderungsanträge stellen. Die ausgebauten Antragsrechte machen den Kern der Landsgemeindedemokratie aus – und sie können anderen Demokratien als Inspiration dienen.

Das Antragsrecht an der Landsgemeinde ist im internationalen Vergleich eigentlich ausgesprochen radikal.[1] Trotzdem werden die Behörden nicht mit Anträgen überflutet, und die Antragsstellenden können ihre Anliegen meist vernünftig begründen. Das zeigt: Wenn man den Bürgern Verantwortung überträgt, verhalten sie sich verantwortungsvoll. Betrachtet man sie als störendes Element, werden sie sich auch so verhalten.

Man muss nicht gleich so weit gehen wie in Glarus, wo jede Bürgerin und jeder Bürger eine Volksabstimmung auslösen kann. Doch die meisten Demokratien gewähren gar keine Mitwirkungsmöglichkeit ausserhalb von Wahlen. Dass sie wenigstens zusammen mit einer gewissen Anzahl Mitbürger ein Thema auf die politische Agenda bringen können, wäre in vielen Ländern bereits eine markante Stärkung der direkten Mitbestimmung. Auch der Einbezug im Gesetzgebungsprozess wäre eine Möglichkeit, die Mitsprache zu verbessern.

Das zweite zentrale Element der Landsgemeinde ist die offene Diskussion. Die freie Meinungsbildung ist ein Kernelement, ohne das keine Demokratie auskommt. Entsprechend essenziell ist eine offene und faire Diskussion im Vorfeld von Entscheidungen, seien es Wahlen, Volksabstimmungen oder auch Abstimmungen in einem Parlament. Natürlich ist es kaum praktikabel, alle Stimmberechtigten eines Landes oder nur schon eines grösseren Kantons an einer Landsgemeinde zusammenzubringen.

Demokratische Diskussionskultur kann man aber auch ausserhalb des Landsgemeinderings pflegen. Ein Ansatz dazu ist das Modell der deliberativen Demokratie. Dieses Modell betont die Bedeutung der öffentlichen Debatte. Im Zentrum steht die Idee, dass in einer Demokratie nicht dann die besten Entscheide gefällt werden, wenn sich derjenige mit der lautesten Stimme durchsetzt, sondern wenn Bürgerinnen und Bürger auf Augenhöhe über Vorschläge diskutieren können und durch Abwägen und Überzeugen zu einer Lösung gelangen, mit der möglichst viele einverstanden sind. Vor allem auf lokaler Ebene gab es in den letzten Jahren zahlreiche Projekte, um diese Idee in die Praxis umzusetzen. Es braucht aber weitere Anstrengungen, den Einbezug der Stimmbevölkerung und eine möglichst breite Diskussion zu ermöglichen.

Kein mythisches Ideal

Die Landsgemeinde kann somit als Inspirationsquelle für andere Demokratien dienen. Sie ist aber keine Blaupause, die sich eins zu eins auf andere Kantone oder Staaten übertragen liesse. Ebenfalls eignet sie sich nicht als mythisches Ideal einer perfekten Demokratie. Tatsächlich bringt die Landsgemeinde bedeutende Nachteile mit sich. Zum einen kann die politischen Rechte nur ausüben, wer sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort einfindet. Wer krank ist oder arbeiten muss, bleibt ausgeschlossen. Zum anderen erfolgt die Stimmabgabe nach wie vor per Handaufheben. Damit wird das Prinzip der geheimen Stimmabgabe verletzt. Zudem werden die Stimmen nicht gezählt, sondern nur geschätzt, was mit einiger Unsicherheit verbunden ist und die Gefahr mit sich bringt, dass ein Vorschlag obsiegt, der keine Mehrheit der Stimmenden hinter sich hatte.

Die Landsgemeindedemokratie steht wie jede Demokratieform vor der Frage, wie sie weiterentwickelt werden kann und soll, um in Zukunft die Ansprüche ihrer Mitglieder zu erfüllen. Man kann auch mit Fug und Recht die Ansicht vertreten, dass die Mitspracherechte mit einer Abschaffung der Landsgemeinde besser erfüllt werden könnten.

Derzeit ist die Landsgemeinde sowohl in Appenzell Innerrhoden als auch in Glarus praktisch unumstritten. Das bedeutet nicht, dass Anpassungen am politischen System tabu wären. Tatsächlich hat sich die Landsgemeinde in der Vergangenheit immer wieder der Zeit angepasst und weiterentwickelt. So wurde in Glarus Anfang des 20. Jahrhunderts die Amtszeit des Landammanns begrenzt, später wurde ein Lautsprecher im Ring installiert, die Regierungs- und Ständeratswahlen wurden von der Landsgemeinde an die Urne verlegt, und 1972 durften die Frauen erstmals an der Versammlung teilnehmen.

Interessant ist, dass alle diese Veränderungen im Vorfeld mit dem Argument bekämpft wurden, damit werde die Landsgemeinde verschwinden. Das gilt auch für den jüngsten Reformvorschlag: der Einsatz von elektronischen Hilfsmitteln. Die Regierung hatte diese Möglichkeit durch eine Arbeitsgruppe abklären lassen. 2016 beschloss der Landrat jedoch auf Antrag des Regierungsrats, die Idee nicht weiterzuverfolgen. Technische Hilfen, so die Befürchtung, würden das «Wesen der Landsgemeinde» verändern. Insbesondere würde der Landammann faktisch seine Entscheidkompetenz verlieren, warnte der Regierungsrat in einem Bericht. Es gehe auch um Vertrauen: «Ohne Vertrauen (...), dass der Landammann die ihm zukommende Entscheidungsgewalt mit Umsicht und im Sinne des Volkes ausübt, hat wohl auch die Landsgemeinde keine Zukunft.»

Schmaler Grat

Zweifelsohne ist der Einsatz technischer Hilfsmittel im Landsgemeindering nicht ohne Nachteile und Risiken. Ob solche Hilfsmittel zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll sind, sei an dieser Stelle offengelassen. Sicher ist, dass der Grat zwischen Bewahrung der Tradition und Gefährdung der Landsgemeinde schmal ist. Der Entscheid des Landammanns wird zwar von der Stimmbevölkerung an der Glarner Landsgemeinde grundsätzlich akzeptiert. Dennoch kommt es vor, dass knappe Entscheide im Nachgang für Diskussionen sorgen. In Ausserrhoden gab es diese Diskussionen nach dem Entscheid über die Einführung des Frauenstimmrechts 1989, als viele Bürger die Mehrheitsverhältnisse anders sahen als der Landammann, der eine Mehrheit für das Frauenstimmrecht ermittelte. Der umstrittene Entscheid war sicher nicht allein verantwortlich dafür, dass die Ausserrhoder 1997 die Landsgemeinde beerdigten – mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass er das Vertrauen in die Institution nicht beförderte.

Ein unbedingtes Festhalten an der Landsgemeinde in ihrer vermeintlich «ursprünglichen» Form kann somit der Absicht, die Institution zu erhalten, zuwiderlaufen. Gerade die Anhänger der Landsgemeinde sind also gut beraten, Anpassungen offen und vorurteilsfrei zu prüfen. Verfügt die Versammlung über die nötige Substanz und Verankerung in der Bevölkerung, sind übertriebene Sorgen über ihre Gefährdung durch institutionelle Anpassungen nicht gerechtfertigt. In diesem Zusammenhang erscheint das Votum des Freisinnigen Martin Baumgartner in der Debatte im Landrat über die Urnenwahl des Regierungsrats 1970 aktueller denn je. Er hielt den Gegnern des Antrags, welche darin den Tod der Landsgemeinde sahen, entgegen: «Wer von vornherein behauptet, dass die Landsgemeinde keine Änderungen ertrage, legt ihr kein gutes Zeugnis ab.»


Der Beitrag basiert auf dem Buch «Ds Wort isch frii», das sich mit der Glarner Landsgemeinde befasst.

Veranstaltungshinweis

Am 19. April stellt Lukas Leuzinger sein Buch «Ds Wort isch frii» in Glarus vor.

[1] Natürlich gilt dasselbe für Antragsrechte an Gemeindeversammlungen, wobei dort die Grössenverhältnisse andere sind.

 

Bild: Flickr.