Wer sich vor einer Abstimmung mittels wissenschaftlicher Fakten informiert
Iris Stucki, Lyn Pleger, Fritz Sager
12th April 2018
Stützen sich Stimmbürgerinnen und Stimmbürger vor Abstimmungen auf wissenschaftliche Fakten oder vertrauen sie der Meinung anderer? Und welche Eigenschaften von Personen begünstigen die Wahl von wissenschaftlichen Fakten? Wir haben diese Fragen mittels einer Befragung mit Studierenden untersucht: Vier von fünf Personen informierten sich durch wissenschaftlich belegte Fakten, um einen Entscheid zu treffen. Die Meinung anderer bildete nur selten eine Entscheidungsgrundlage.
Faktenbasierte Informationen versus Meinungen anderer
Nicht erst, seit „postfaktisch“ durch die Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. zum deutschen Wort des Jahres 2016 gekürt wurde, wird in der Öffentlichkeit die Frage diskutiert, ob belegbare Fakten für die Meinungsbildung an Bedeutung verlieren. Vereinfacht gesagt, gibt es zwei Wege, wie man sich eine Meinung zu einem Sachverhalt bilden kann: Entweder man informiert sich faktenbasiert selbst über die Thematik oder man verlässt sich auf eine Empfehlung einer Quelle, der man vertraut.
Eine Form von faktenbasierten Informationen stellen Evaluationen dar. Evaluationen bewerten mit wissenschaftlichen Methoden, ob eine politische Massnahme die beabsichtigte Wirkung erzielt, beispielsweise ob die Einführung einer Fettsteuer dazu geeignet ist, das Essverhalten zu verändern. Folglich begünstigt die Publikation von Evaluationsergebnissen in den Medien, dass sich Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ein Bild über die Konsequenzen einer Abstimmungsvorlage machen und dadurch einen differenzierten Entscheid für oder gegen die Vorlage treffen können.
Stimmbürgerinnen und Stimmbürger können – statt sich selber intensiv mit der Abstimmungsvorlage zu beschäftigen – aber auch einfach der Meinung von Dritten vertrauen. Dies kann eine Politikerin oder ein Politiker sein, eine bekannte Person oder auch eine Partei. Solche Entscheidungsfindungen werden als Heuristiken bezeichnet. Heuristiken führen zwar zu einfacheren und schnelleren Entscheiden, doch sie kommen qualitativ nicht an Entscheide heran, bei denen zuvor eine Auseinandersetzung sowohl mit Pro- als auch Kontraargumenten stattgefunden hat.
Abstimmung über Fettsteuer in der Uni-Mensa
Wir haben für unsere Untersuchung eine Online-Befragung durchgeführt (siehe Infobox). Dabei liessen wir Studierende der Universität Bern über die Einführung einer Fettsteuer in der Mensa abstimmen. Diese Fettsteuer hätte zur Folge gehabt, dass ungesundes Essen verteuert und gesundes Essen vergünstigt würde.
Die Studierenden konnten sich vorgängig umfassend über diese Abstimmung informieren. Dabei hatten sie die Wahl zwischen heuristischen Texten, in denen die Meinung anderer diskutiert wurde, sowie evidenzbasierten Texten, in denen Evaluationsergebnisse thematisiert wurden. In beiden Fällen stand jeweils ein Text mit Argumenten für bzw. gegen die Vorlage zur Verfügung. Die Studierenden konnten vor der Abstimmung zudem den Umfang an Informationen wählen, das heisst, sie konnten entscheiden, ob sie nach dem ersten Text noch einen zweiten und dritten lesen.
Die Studierenden informieren sich mehrheitlich anhand von Texten, die sich auf Evaluationen beziehen
In unserer Untersuchung haben in der ersten Wahl vier von fünf teilnehmenden Personen Texte zur Information über die Abstimmung ausgewählt, die sich auf Evaluationen beziehen. Nur eine von fünf Personen hat sich lediglich anhand der Meinung von anderen informiert.
Wenn es darum geht, sich für evidenzbasierte Informationen zu entscheiden, war in unserer Befragung zunächst ausschlaggebend, ob die Massnahme unmittelbare Betroffenheit auslöst. Geht es jedoch darum, sich über ein Thema zu informieren, das einen nicht persönlich betrifft, weisen unsere Ergebnisse darauf hin, dass das politische Engagement eine zentrale Bedeutung für die Wahl von evidenzbasierten Informationen einnimmt.
Als politisch engagiert wird eine Person bezeichnet, die sich für Politik interessiert, sich über Politik informiert und mitdiskutiert, wenn es um Politik geht. Das politische Engagement hat aber noch eine zweite bedeutendere Funktion: Es war in der Befragung matchentscheidend, wenn es darum ging, sich ausführlicher über ein Thema zu informieren, das heisst in unserem Fall, mehr als nur einen Text zu lesen.
Politisches Engagement ist zentral für eine umfassende Meinungsbildung
Dieser Befund ist deshalb so wichtig, weil Studierende, die der Fettsteuer gegenüber von Anfang an positiv eingestellt waren, als ersten Zeitungsartikel eher einen solchen auswählten, der sich für die Einführung einer Fettsteuer aussprach, und umgekehrt. Dieser „confirmation bias“, also der Drang nach Bestätigung der eigenen Haltung, verschwand beim Lesen von mehreren Texten. Das politische Engagement sorgt gemäss unseren Ergebnissen dafür, dass sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ein umfassendes Bild über eine Vorlage machen und bildet damit die Grundlage für einen inhaltlich abgewogenen Entscheid.
Vorausgesetzt also, dass die Stimmbevölkerung politisch engagiert ist und evidenzbasierte Informationen zur Verfügung stehen, wird sie auf diese zurückgreifen, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, einen fundierten Entscheid zu treffen. Befürchtungen einer postfaktischen Demokratie werden somit nicht genährt, doch es zeigt sich, wie zentral die Bedeutung von Evaluationen für die direkte Demokratie ist.
Es haben 353 Studierende der Universität Bern daran teilgenommen. Die Studierenden wurden zufällig auf die zwei Befragungsvarianten verteilt. In einem ersten Schritt bekamen die Teilnehmenden vier Titel von Medienartikeln zu sehen: Eine Evaluationsstudie zeigt positive Auswirkungen der geplanten Fettsteuer; Eine Evaluationsstudie zeigt negative Auswirkungen der geplanten Fettsteuer; Student Julian D. (Villads D. für Roskilde) ist gegen die Einführung der Fettsteuer; Student Christian F. (Malthe K. für Roskilde) ist für die Einführung einer Fettsteuer.
Nach der Auswahl einer dieser Titel erschien der Artikel, gefolgt von der Frage nach dem Bedarf nach zusätzlichen Artikeln. Falls diese bejaht wurde, standen erneut vier Titel zur Auswahl. Nach Abgabe der Stimme wurden Merkmale des politischen Engagements, der Betroffenheit sowie soziodemographische Daten abgefragt. Die Untersuchung fand bei Studierenden statt, weshalb sich die Ergebnisse nicht eins zu eins generalisieren lassen. Die Befunde geben aber wichtige Hinweise zum Verhalten der allgemeinen Stimmbevölkerung.
Referenz:
Stucki, Iris, Lyn Pleger und Fritz Sager (2018). The Making of the Informed Voter: A Split-Ballot Survey on the Use of Scientific Evidence in Direct-Democratic Campaigns, Swiss Political Science Review, first online published: 2 March 2018
Bild: Pixabay.