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Ist die Abschaffung der Gemeindeversammlung ein Demokratieverlust?

Michael Strebel
4th April 2018

Die Gemeindeversammlung von Muttenz hat die Einführung eines Parlaments abgelehnt. Es wurde die Befürchtung geäussert, mit der Abschaffung der Gemeindeversammlung ginge ein Demokratieverlust einher. Im Kanton Zürich stimmte die Bevölkerung von Wetzikon 2012 der Abschaffung der Gemeindeversammlung und gleichzeitig der Einführung eines Ortsparlaments zu. Ging damit ein Demokratieverlust auf lokaler Ebene einher? Der Beitrag geht dieser Frage nach.

Gute Gründe für die Abschaffung der Gemeindeversammlung

Aus Sicht der Initianten sprachen in Wetzikon drei Punkte für die Abschaffung der Gemeindeversammlung: Erstens nahmen jeweils nur wenige Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an der Gemeindeversammlung teil. Damit sei zweitens angesichts der hohen Einwohnerzahl eine repräsentative Gemeindeversammlung nicht mehr möglich. Drittens würden die Versammlungen bei entsprechenden Begehren von Interessengruppen dominiert. Diese Argumente zeigen, dass gegenüber der Gemeindeversammlung gerade auch aus demokratietheoretischer Sicht Bedenken bestehen können.

Kam es zu einem Demokratieverlust durch die Einführung eines Parlaments? Zunächst wird die Beratung der Geschäfte analysiert: Die ständigen Kommissionen befassen sich intensiv mit einem Vorhaben der Exekutive, haken nach, machen Abklärungen und stellen konkrete Änderungsanträge. Die Kommissionen beschäftigen sich kontinuierlich mit einem politischen Themenfeld, häufen Wissen an und werden dadurch fachkundiger. Solche Kommissionen können zudem ihre Aufsichtsfunktion gegenüber Exekutive und Verwaltung wirkungsvoll ausüben.

Das Parlament nimmt nicht nur Einfluss bei Vorhaben, die durch die Exekutive vorgelegt werden, sondern kann mit parlamentarischen Vorstössen selber Projekte initiieren. Ein weiterer Unterschied lässt sich in der Auskunftspflicht der Exekutive ausmachen: Die Parlamentsmitglieder können mittels Interpellationen zu einem Sachverhalt Fragen stellen, zudem wird zweimal im Jahr eine Fragestunde durchgeführt. Dieser vielfältige, tiefgreifende parlamentarische Einfluss ist der markanteste Kontrast im Vergleich zur früheren Gemeindeversammlung. Insbesondere gilt dies für die Mitglieder der Exekutive sowie für die Verwaltung. Sie haben es nun mit gewählten Repräsentanten des Volks zu tun. Die inhaltliche Auseinandersetzung wird dadurch fundierter geführt.

Wie können die Bürgerinnen und Bürger trotz Parlament ihre direkt-demokratischen Rechte wahrnehmen?

In Wetzikon machten mindestens 97 Prozent der Bevölkerung von ihren Rechten keinen Gebrauch und blieben der Gemeindeversammlung fern. Doch die Volksrechte verbleiben auch mit einem Parlament: Es gibt die Volks- und die Einzelinitiative. Beschlüsse des Parlaments werden der Urnenabstimmung unterstellt, wenn dies von der Mehrheit der Parlamentsmitglieder während der Sitzung verlangt wird bzw. wenn anschliessend zwölf Mitglieder oder 500 Stimmberechtigte dies verlangen. Neben diesen fakultativen Referenden gibt es vielfältige obligatorische Abstimmungen (siehe Gemeindeordnung der Stadt Wetzikon). Diese aufzuzählen würde den Umfang dieses Artikels sprengen. Es wird lediglich auf die Änderung der Gemeindeordnung oder Beschlüsse des Parlaments über neue einmalige Ausgaben von mehr als 2,5 Millionen Franken sowie neue jährlich wiederkehrende Ausgaben von mehr als 500 000 Franken verwiesen.

Volksrechte verschwinden nicht mit der Einführung eines Parlaments sondern werden neu justiert. Die Hürden für Volksentscheide müssen gering sein. Die Demokratie wird mit einem Parlament anders gelebt als in einer Gemeindeversammlung. Im Hinblick auf die Urnenabstimmung im September gilt es für die Muttenzer Bevölkerung zwischen beiden Systemen abzuwägen. Der Souverän wurde bisher vier Mal zur Thematik befragt. In Wetzikon wurde sogar acht Mal abgestimmt – das erste Mal 1973, ein Jahr früher als in Muttenz. Doch nach einer Legislatur mit einem Stadtparlament ist die Rückkehr zur Gemeindeversammlung in Wetzikon kein Thema mehr.


Hinweis: Dieser Beitrag erschien am 28. März 2018 in der Basellandschaftlichen Zeitung.

Bild: Flickr.