Wirklich eine gute Idee? Das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien
Daniel Toda Castán
22nd March 2018
Über Jahre hinweg haben katalanische Politiker und die Zivilgesellschaft an einem Selbstbestimmungsreferendum gearbeitet. Die Durchführung und die darauffolgende Reaktion der spanischen Regierung haben für Katalonien einen Verlust an Selbstregierung bedeutet und eine unübersichtliche politische Lage herbeigeführt. War es wirklich eine gute Idee, das Referendum abzuhalten?
Der Weg zum Unabhängigkeitsreferendum
Das Verhältnis zwischen Spanien und Katalonien erlebte seit einem Urteil des spanischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2010, das mehrere Bestimmungen des neuen katalanischen Autonomiestatuts vernichtet hat, eine kontinuierliche Anspannung.
In einem Kontext von breiten Protesten in ganz Spanien gegen Wirtschaftskrise, Sparkurs und Korruption und für mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie wurden Forderungen nach mehr Selbstbestimmung in Katalonien immer lauter und stärker. Diese Forderungen konkretisierten sich in der Idee eines Referendums über den politischen Status Kataloniens. Die katalanischen Parteien und mit ihnen die Regierung und das Parlament stiegen ein und fingen bereits im Jahr 2013 an, an einem solchen Referendum zu arbeiten.
Die klassischen katalanischen Parteien, die bis 2012 keine independentistischen Parteien gewesen waren, wechselten in diesen Jahren allmählich ihre Position und verschoben somit die Achse der katalanischen Politik von links-rechts zu Unabhängigkeit: ja oder nein, wobei die soziale Frage im Kontext der Wirtschaftskrise weiterhin eine sehr wichtige Rolle spielte.
Tatsächlich gelang es den Parteien bereits im November 2014, eine Konsultation in Form einer Abstimmung durchzuführen. Die Bürger*innen sollten dabei entscheiden, ob Katalonien ein Staat, und ob dieser Staat unabhängig von Spanien werden sollte. Bei einer Beteiligung von 2,3 Millionen Menschen stimmten 1,9 Millionen zweimal mit „ja“ ab. Dies verstärkte das independentistischen Lager in seinen Forderungen.
Eine vorgezogene Parlamentswahl am 27.9.2015 resultierte in einer absoluten Mehrheit der independentistischen Kräften im Parlament, die jedoch von nur 47,8% der Stimmen getragen wurde. Da die Wahl von den independentistischen Kräften als plebiszitär über die Unabhängigkeit präsentiert worden war, sahen sie sich nunmehr erst recht legitimiert, ihr Projekt durchzuführen. Die wichtigsten independentistischen Kräften waren eine gemeinsame Liste aus der klassischen katalanischen christdemokratischen Partei und der katalanischen republikanischen Linke und eine kleine antikapitalistische Partei, deren Sitze für die absolute Mehrheit notwendig waren.
In den zwei darauffolgenden Jahren konzentrierte sich das katalanische Parlament auf das Referendum. Immer wieder wurden seine Beschlüsse über ein Unabhängigkeitsreferendum und einen verfassungsgebenden Prozess von der spanischen Regierung vor Verfassungsgericht angefochten und von diesem vernichtet, da sie einen klaren Bruch mit den Grundsätzen der Verfassung Spaniens darstellten. Die katalanischen Forderungen seien in der spanischen Demokratie zwar ein legitimes politisches Ziel, das vertreten und verfolgt werden dürfe. Dafür müsse aber das vorgesehene Verfassungsänderungsverfahren eingehalten werden, und dies hatte das katalanische Parlament mit seinem einseitigen Vorgehen nicht vor.
Endakt mit Tragödie: das Referendum vom 1.10.2017
In September 2017 verabschiedete die independentistische Mehrheit im katalanischen Parlament das Gesetz, das ein Selbstbestimmungsreferendum für den 1.10.2017 angesetzt hat. Die Frage lautete: „Wollen Sie, dass Katalonien ein unabhängiger Staat in Form einer Republik wird?“. Das Gesetz wurde in einer sehr rauen Sitzung verabschiedet, in einer einzigen Lesung und mit kaum Mitwirkungsmöglichkeiten für die Opposition.
Laut seinem Paragraphen 4 Abs. 4 sollte das katalanische Parlament zwei Tage nach Verkündung der offiziellen Ergebnisse durch die ebenfalls im Gesetz vorgesehene Sonderwahlbehörde zusammentreten und sich vom Ergebnis unterrichten lassen. Bei mehr „Ja“ als „Nein“-Stimmen, ohne Quorum, würde das Parlament die Unabhängigkeit erklären. Das Gesetz wurde sofort vom spanischen Verfassungsgericht suspendiert, sodass das Referendum seine Rechtsgrundlage verlor. Am 17.10.2017 wurde es nachträglich für verfassungswidrig und nichtig erklärt.
Die spanische Regierung setzte alles daran, das Referendum zu verhindern. In den Wochen vor dem 1.10.2017 wurden verschiedene administrative und polizeiliche Massnahmen getroffen, deren Rechtsmäßigkeit teilweise angezweifelt wurde. Diese erwiesen sich aber als unzulänglich. Dramatisch wurde es aber am Tag des Referendums selbst, als mehrere unverhältnismässige und politisch sehr ungeschickte polizeiliche Einsätze zu 1.066 Verletzten nach Angaben der katalanischen Gesundheitsbehörde führten. Diese Einsätze sorgten zurecht für Empörung nicht nur in Spanien und Katalonien, sondern auch im Ausland. Sie zerbrachen zudem das wenige Porzellan, das im spanisch-katalanischen Verhältnis noch unversehrt geblieben war.
Bei einer Beteiligung von knapp unter 2,3 Millionen Menschen stimmten 90,2% für die Unabhängigkeit Kataloniens. Umgerechnet also stimmten 43% der Wahlberechtigten überhaupt ab – 38% mit „ja“. Die gesetzlich vorgesehenen Folgen traten allerdings nicht ein. Nach einem merkwürdigen schriftlichen Hin-und-her zwischen der spanischen und der katalanischen Regierung, der Weigerung des Dialogs durch die spanische Seite und einigen Verzerrungen und Unentschlossenheit auf katalanischer Seite, erklärte die independentistische Mehrheit im katalanischen Parlament die Unabhängigkeit am 27.10.2017.
Im unmittelbaren Anschluss aktivierte die spanische Regierung mit Zustimmung des Senats den Artikel 155 der Verfassung und griff in die katalanische Selbstregierung ein. Wenige Tage später wurden führende katalanische Politiker und Anführer zivilgesellschaftlicher Organisationen in Untersuchungshaft gebracht, die in einigen Fällen bis heute andauert. Der Ministerpräsident setzte sich nach Belgien ab, wo er sich ebenfalls bis heute aufhält.
Und wer hat was gewonnen?
Das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien hat zu der tiefsten Verfassungskrise der spanischen Demokratie geführt. Dabei hat vor allem Katalonien verloren. Nicht nur ist seine Selbstregierung stark eingeschränkt. Seine Gesellschaft ist zudem tiefgespalten. Die Parlamentswahl vom 21.12.2017 brachte eine neue independentistische absolute Mehrheit, stärkste Kraft wurde dennoch eine liberale Partei, die sich gegen die Unabhängigkeit und gegen ein Referendum darüber positioniert, und die Aktivierung des Artikels 155 unterstützt hat.
Zu dieser Spaltung haben nicht zuletzt bestimmte populistische Elemente geführt. Zum einen die Idee, dass eine Mehrheit im Parlament den Willen des Volks wiederspiegelt und zu jedem Bruch mit der demokratischen Verfassungsordnung legitimiert. Zum anderen die Aussicht, dass die sozialen Probleme Kataloniens durch die Unabhängigkeit sofort gelöst würden, zusammen mit dem Versprechen, dass ein für unabhängig erklärtes Katalonien in der Europäischen Union verbleiben würde. Dieses Versprechen wurde trotz Widerspruch durch die Europäische Kommission bis zum Ende aufrechterhalten.
Über die Stärke vom Independentismus in Katalonien sind wir durch dieses Referendum nicht schlauer geworden, denn die Ergebnisse sind fast dieselben wie im November 2014. So viel wusste man also bereits. Die Kluft zwischen der spanischen und der katalanischen politischen Führung ist so tief wie noch nie zuvor und Katalonien befindet sich ein einem Deadlock, in welchem es nicht zu gelingen vermag, einen neuen Ministerpräsidenten durch das Parlament wählen zu lassen. Somit bleiben die Massnahmen unter dem Artikel 155 weiterhin in Kraft.
Die katalanische Unabhängigkeit ist, wie das Verfassungsgericht das mehrfach betont hat, ein legitimes politisches Projekt. Es gibt in Katalonien eine breite Mehrheit der Bürger*innen, die gerne darüber abstimmen möchten. Dennoch darf eine verantwortliche politische Führung die Bürger*innen nicht glauben lassen, dass sie gegen das geltende Recht zur Urne gerufen werden dürfen. Die Folgen des Vorgehens der katalanischen Regierung und des katalansichen Parlaments haben niemandem genutzt. Eine verantwortungsbewusste politische Führung auf der anderen Seite hätte sie sich nicht über Jahre dem Dialog über eine legitime Forderung verschlossen und hätte die Notwendigkeit von Reformen erkannt.
Fazit
Zur Lösung des Konflikts kommt man rechtlich nicht um ein Referendum herum, weil ein neuer Status Kataloniens innerhalb oder ausserhalb Spaniens eine Verfassungsänderung bedeutete, die zur Abstimmung durch die Bevölkerung gestellt werden müsste. Dann wären es zwei Referenda: einmal in ganz Spanien über die Verfassungsänderung, bei Erfolg im Anschluss in Katalonien über seinen Status.
Ob politisch gesehen ein Referendum ein taugliches Mittel ist, um die Frage der Verhältnisse zwischen Katalonien und Spanien zu klären, kann man diskutieren. Wie gesagt, wollen die meisten Katalan*innen ein solches. Der aktuelle Moment erscheint aber etwas zu aufgeheizt, um solche Fragen direktdemokratisch entscheiden zu lassen – denn es geht um viel. Es wäre also ratsam, noch etwas Zeit verstreichen und die Gesellschaft nochmals zusammenwachsen zu lassen und sich währenddessen um einen Dialog zu bemühen. Das Referendum vom 1.10.2017 hat die Aussichten auf ein rechtmässiges, gültiges und konsensbasiertes Referendum also nur in die Ferne verschoben.
Bild: Wikimedia Commons