1

Parteien haben Altersvorsorge 2020 scheitern lassen

Thomas Milic
19th Februar 2018

Am 24. September 2017 hatten das Stimmvolk über ein komplexes Massnahmenpaket zur Sanierung der ersten und zweiten Säule zu befinden. Ausschlaggebend für den Entscheid der Stimmbevölkerung war nicht deren Haltung zu Einzelaspekten, sondern ihre Parteibindung und daraus folgend die Einschätzung des Gesamtpakets.

Die Altersvorsorge 2020, die am 24. September 2017 von 52.7 Prozent der Stimmenden verworfen wurde, war ein umfangreiches Grossprojekt: Es wurde nicht bloss über eine einzelne Massnahme abgestimmt, sondern über ein ganzes Bündel von Handlungsplänen. Hinzu kam, dass die Ausgangslage insofern speziell war, als dass über zwei gekoppelte Vorlagen mit Rentenbezug befunden wurde. Und zuletzt war die Konfliktkonfiguration mit einer gespaltenen Linken und Arbeitgeberverbänden, die nicht mit geeinter Stimme sprachen, ungewöhnlich. All dies machte den Stimmenden offenbar zu schaffen. Denn fast der Hälfte der Stimmbevölkerung (46%) fiel es schwer, bei der Rentenreform den Durchblick zu behalten. Dieser Wert liegt zwar unter dem Rekordwert für die USR III (74%), aber unter den zehn höchsten Werten für die Verständnisschwierigkeit seit 2000.

Abbildung 1: Verständnisschwierigkeit in Prozent der Stimmenden

Thomas Milic, Abbildung 1

Anmerkung: Die Frageformulierung hat sich seit September 2016 allerdings ein wenig geändert. Der Wortlaut der Vox-Frage lautete: «Ist es bei [Vorlagentitel] eher leicht oder eher schwer gewesen, sich mit den erhaltenen Informationen ein Bild von den persönlichen Auswirkungen zu machen?». Der Wortlaut der VOTO-Frage lautet: «Ist es Ihnen bei [Vorlagentitel] eher leicht oder eher schwer gefallen zu verstehen, um was es gegangen ist?»

Komplexe politische Entscheidungsfindungen müssen dem Stimmvolk verständlich gemacht werden. Diese Aufgabe obliegt bei Abstimmungen primär den politischen Eliten, welche die wichtigsten Vor- bzw. Nachteile einer Vorlage in verdichteter Form als Argumente vorbringen. Die Anzahl und Art der Argumente ist wiederum von der spezifischen Sachfrage abhängig.

Verschiedene Argumente für mehrere Bezugsgruppen

Bei einem derart grossen Massnahmenpaket wie der Altersvorsorge 2020 boten sich naturgemäss vielerlei mögliche Angriffspunkte für die Reformgegner: Sie konnten der grossen Angriffsfläche wegen nicht nur einer, sondern gleich mehreren Bezugsgruppen (z.B. Junge, Frauen, aktuelle Rentnerinnen und Rentner) Argumente für ein Nein vorlegen. Gleichzeitig boten die vielen Kompensationsmassnahmen, die nur in einem Grossprojekt untergebracht werden können, den Befürwortern ebenso die Möglichkeit, nicht nur einer, sondern vielen Bevölkerungsgruppen Gründe für ein Ja zu präsentieren. Die Argumentarien beider Lager waren demnach breitgefächert. Welches dieser vielen Argumente überzeugte am Ende aber am stärksten?

Schätzt man ein logistisches Regressionsmodell mit allen in der VOTO-Befragung berücksichtigten Argumenten für den Urnenentscheid (Abbildung 2), so wird rasch ersichtlich, dass Argumente, die sich auf einzelne Massnahmen bezogen haben, nicht ausschlaggebend waren für den Entscheid. Vielmehr waren es Argumente, die den Gesamtcharakter der Vorlage – aus der jeweiligen Sichtweise der Gegner und Befürworter – auf den Punkt gebracht haben. Auf der Pro-Seite waren es der Kompromisscharakter und die Dringlichkeit der Reform, während es auf der Kontra-Seite primär das Argument der Scheinreform war, welche die Teilnehmenden zu ihrer Stimmabgabe motivierte.

Abbildung 2: Die relative Wirkung der einzelnen Argumente auf den Stimmentscheid zur Altersvorsorge 2020

Thomas Milic, Abbildung 2

Erstaunlich ist zudem, dass die Gesamtcharakterisierung des Reformpakets stärker polarisierte als Einzelmassnahmen, bei welchen eigentlich ein tiefer(er) ideologischer Graben zu erwarten war. Eine solche Massnahme war beispielsweise die Angleichung des Frauenrentenalters. Immerhin wurde das Referendum aus links-gewerkschaftlichen Kreisen explizit aus Opposition dazu ergriffen.

Wie die nachfolgende Abbildung 3 zeigt, unterscheiden sich Links und Rechts zwar tatsächlich in Bezug auf die Frage, ob eine Frauenrentenaltererhöhung nur dann erfolgen dürfe, wenn Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern herrsche. Aber die Unterschiede fallen bei Weitem nicht so drastisch aus wie man glauben könnte.

Verblüffend ist vor allem die geringe Differenz zwischen SP- und SVP-Sympathisanten: Lediglich eine knappe Mehrheit der SP-Anhängerschaft (54%) lehnt eine Frauenrentenaltererhöhung ohne Lohngleichheit ab. Bei der SVP sind es (ebenfalls überraschend) nur unwesentlich weniger (49%). Einigkeit bei der Frage des Rentenalters der Frauen zum Trotz, legten die beiden Anhängerschaften jedoch ein völlig gegensätzliches Stimmverhalten an den Tag. Die SP-Sympathisanten hiessen die Vorlage grossmehrheitlich gut, während die SVP-Anhänger sie hochkant ablehnten. Die Haltung zur Frage des Frauenrentenalters kann unter diesen Vorzeichen offensichtlich keine wichtige Rolle gespielt haben.

Abbildung 3: Akzeptanz des Arguments zur Rentenaltererhöhung der Frauen nach Parteiidentifikation

Thomas Milic, Abbildung 3

Im Gegensatz dazu ist beim Argument, wonach die vorliegende Rentenreform einen ausgewogenen Kompromiss darstelle, ein tiefer ideologischer Graben zu erkennen. Während die politische Linke diese Sichtweise weitestgehend teilte, stritten SVP- und FDP-Sympathisantinnen und -Sympathisanten den Kompromisscharakter vehement ab. Nun ist beim Kompromiss-Argument – anders als beim Argument zum Frauenrentenalter – nicht auf Anhieb ein ideologischer Referenzpunkt erkennbar. Im Gegenteil, das Ziel des Kompromissarguments lag vielmehr darin, die ideologischen Fronten aufzuweichen. Denn einem Kompromiss sollten letztlich alle zustimmen können, nicht bloss das eine oder das andere ideologische Lager. Aber ausgerechnet bei diesem Argument gingen die Meinungen der Parteianhängerschaften so weit auseinander, wie bei kaum einem anderen Argument.

Abbildung 4: Akzeptanz des Arguments zum Kompromisscharakter der Vorlage nach Parteiidentifikation

Thomas Milic, Abbildung 4

Ähnliches gilt auch für das Scheinreform-Argument. Auch hier ist auf den ersten Blick kein ideologischer Kern erkennbar. Das Scheinreform-Argument impliziert ja, dass die vorliegende Reform eben keine echte Sanierung der AHV-Finanzen bringe und hat – zumindest vordergründig – einen technischen Charakter. Aber auch diese Frage polarisierte stark zwischen den ideologischen Lagern.

Abbildung 5: Akzeptanz des Arguments der Scheinreform nach Parteiidentifikation

Thomas Milic, Abbildung 5

Gesamtcharakterisierung spaltet stark

Warum spalteten Argumente mit geringer ideologischer Sprengkraft derart stark? Das lag, wie zu Beginn gezeigt, gewiss (auch) am Umfang des Grossprojekts. Die vielen darin enthaltenen Einzelmassnahmen und die damit verbundenen Kompensationselemente erschwerten den Stimmenden den Durchblick. In solchen Fällen greift man deshalb oftmals zu Argumenten, welche ein komplexes Amalgam von Einzelmassnahmen auf eine einfache Gesamtcharakterisierung reduzieren.

Welcher Gesamtbeurteilung («Kompromiss», «Scheinreform») man eher glaubt, ist wiederum massgeblich von der Glaubwürdigkeit des Kommunikators abhängig. Vertrauen hegt man indessen vor allem zu Exponenten der eigenen Partei. Dieses Vertrauenskapital haben sich die einzelnen Parteien über Jahre bzw. Jahrzehnte aufgebaut und es manifestiert sich in einer entsprechenden Parteibindung, die oftmals wichtiger ist als die individuellen Sachfragenüberzeugungen.

Hinzu kommt, dass die Bedeutung von Haltungen zu einzelnen Aspekten der Reform (wie etwa die Frauenrentenaltererhöhung) durch die Verknüpfung mit (mehreren) anderen Massnahmen relativiert wurde. Deshalb spielte es weniger eine Rolle, wie man zur Anpassung des Frauenrentenalters stand, sondern vielmehr, ob man beispielsweise als Frau erwartete, unter dem Strich (Gesamtcharakter der Vorlage) profitieren zu können oder nicht.


Bild: Rawpixel.com