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Warum “No-Billag” die Schweiz verscherbelt

Daniel Bochsler
16th Februar 2018

Die No-Billag-Initianten wollen nicht nur die öffentlich-rechtliche Medienfinanzierung abschaffen, sondern auch die Institution SRG, die die nationale Identität der Schweiz wie keine andere prägt. Erstaunlich ist im Abstimmungskampf, dass die SVP deswegen nicht das Ende der Schweiz proklamiert und dass Linke wie Bürgerliche ihr dies nicht anhaften.

Im heftig geführten Abstimmungskampf um die No-Billag-Initiative hat die Stunde der Buchhalter geschlagen. Die politische Schweiz diskutiert über das Für und Wider der SRG SSR und wieviel diese kosten darf. Zu Recht bringen die Gegner die Argumente ins Spiel, dass eine unabhängige Medienlandschaft für die Demokratie unerlässlich und ein starkes öffentlich-rechtliches Medienhaus für die Sprachminderheiten entscheidend ist.

Motiviert buchhalterische Kalkulation strategisches abstimmen?

Doch lässt sich die Mehrheit der Stimmenden tatsächlich von ein bisschen abstrakter Demokratie- und Vielsprachigkeitsromantik mitreissen, wenn diese jährlich mit 450 CHF (pro Haushalt) zu Buche schlagen? Respektive 365 CHF, oder wie viel es gemäss dem zuletzt diskutierten SRG-Sparszenario gerade sein mögen. Die Rappenspalterei, von den Initianten wie von der zuständigen Bundesrätin betrieben, suggeriert, jede Ja-Stimme würde den künftigen Billag-Betrag um einige Rappen reduzieren, was einer Einladung zum strategischen Abstimmen gleichkommt.

Doch bei der Abstimmung geht es nicht um solche Rechenspiele, sondern um ganz Grundsätzliches. Was nach einem allfälligen Ja geschieht, weiss zwar niemand genau, klar ist hingegen: Alle bisherigen Versuche, in der Schweiz ein Privatfernsehen mit gesellschaftlichen und kulturellen Inhalten gewinnbringend zu betreiben, sind unter den bestehenden Rahmenbedingungen gescheitert.

Nicht einmal eine Miss-Schweiz-Wahl scheint sich profitabel realisieren lassen. Doch aufgrund des Initiativtexts soll’s der Markt richten: "Der Bund versteigert regelmässig Konzessionen für Radio und Fernsehen". Programmauflagen, wie sie heute bei der Konzessionsvergabe bestehen, sind durch den vorgeschlagenen neuen Verfassungsartikel nicht mehr gedeckt.

Tessin fürchtet Mediaset

Genau so sicher ist auch, dass bei einer Umsetzung der Initiative die stärksten Marktteilnehmer im Vorteil wären. Die heute erfolgreichsten privaten Sender im Schweizer Fernsehmarkt sind ausländische Privatfernsehen, vorab mit Unterhaltungsformaten. Sie wären am ehesten in der Lage, die jeweiligen Sprachgebiete der Schweiz mit einem attraktiven Vollprogramm zu versorgen, ergänzt um auf die Schweiz zugeschnittene Programmfenster.

Im Tessin wird die aktuelle Debatte deshalb nicht nur über öffentlich-rechtliche Sender geführt, sondern auch um Schweizer Sender versus Berlusconis Mediaset. Doch droht die gesellschaftliche und kulturelle Kolonialisierung durch Deutschland und Frankreich nicht genauso in der Deutschschweiz und in der Romandie? Ein Schweizer Programmfenster, etwa eine Nachrichtensendung, das die Vollprogramme von RTL, Pro7 oder Sat1 ergänzt, dürfte viel kostengünstiger zu produzieren sein als ein Deutschschweizer Privatfernsehen. Sie könnten die künftige Fernsehlandschaft der Schweiz prägen. Die Schweiz stimmt darum auch ein wenig über ihre eigene Abschaffung ab.

Miss Schweiz oder Germany’s Next Top-Model?

Die nationale Kontrolle über den Rundfunk hat in einer globalisierten Wirtschaft einen anderen Stellenwert als andere Güter wie beispielsweise der Mobilfunk oder eine Fluggesellschaft. Schulen und Medien kommt bei der Bildung von Nationalstaaten eine tragende Rolle zu: Sie verdichten Traditionen und kulturelle Manifestationen zur nationalen Kultur, sie ermöglichen den gesellschaftlichen Diskurs und dadurch erst die Orientierung der Bürgerinnen und Bürger an einer gemeinsamen Identität.

Entsprechend sind Medien für die Schaffung einer nationalen Identität unverzichtbar, ob staatlich gelenkt, im freien Wettbewerb oder in einem öffentlich-rechtlichen Rahmen spielt weniger eine Rolle, als dass sie einen Raum bieten für die ‚nationale’ Debatte. Kein Wunder also richtete sich in jüngster Zeit das Augenmerk der Politik überall dort, wo um die vorherrschende nationale Identität gekämpft wird, auf die Medien, sei es in Bosnien-Herzegowina, Flandern oder Katalonien.

Es gibt denn auch kaum moderne Demokratien, welche die Hoheit über das Fernsehangebot dem Ausland überlassen. Eine Ausnahme bildet Estland, wo bis 2015 das estnische Fernsehen nur auf Estnisch sendete und damit den russischsprachigen Bevölkerungsteil den Sendern aus dem benachbarten Russland überliess (siehe Infobox). Doch ein solcher Fehler lässt sich nicht in zwei Jahren beheben, denn die Bildung einer nationalen Identität ist ein Generationenprojekt.

Der Rundfunk prägt die nationale Identität in einem viel grösseren Mass als dass dies die Debatte um Demokratie und Medienqualität im laufenden Abstimmungskampf um die No-Billag-Vorlage suggerieren mag. Das Fernsehen ist der Landsgemeindeplatz der Moderne. Es schafft die Identität, bewahrt die Traditionen und erneuert das Selbstbild der Schweiz, das vom Samstags-Jass bis zur Berner Reitschule reicht. Es macht den Schweizer Sport populär und rollt der Cervelat-Prominenz den roten Teppich aus. Das Fernsehen vermittelt Geschichte, Wirtschaft und Politik mit Facetten und Worten, die der Identität eines Kleinstaats und eines föderalen Landes mit direkter Demokratie Rechnung tragen.

Gewiss, die Schweizer Identität ist den No-Billag-Initianten kein Dorn im Auge. Sie ist ihnen schlicht egal. Jede Sprache, Kultur und Identität, die keinen Gewinn erwirtschaftet, soll ihrer Ansicht nach durch den freien Markt beseitigt werden. Sprich: Mit der No-Billag-Initiative stimmt die Schweiz auch über den kulturellen und gesellschaftlichen Anschluss an Deutschland, Frankreich und Italien ab.

Wer steuert die estnische Identität: Tallinn oder Moskau?
Die Sprach- und Medienpolitik des unabhängigen Estlands orientierte sich an der Stärkung der estnischen Sprache. Es wurde 1991 als einzige Landessprache bestimmt, das Fernsehen sendete auf Estnisch. Die russischsprachigen Esten, etwa ein Drittel der Landesbevölkerung, wandten sich dem russischen Fernsehen zu. Estland verpasste dadurch die Gelegenheit, seine russischsprachigen Bürgerinnen und Bürger sowie alle Nicht-Bürger in den nationalen Diskurs einzubinden. Heute, eine Generation nach der Unabhängigkeit, ist immer noch von einer gesellschaftlichen Spaltung die Rede. Der russischsprachige Bevölkerungsteil lebt teilweise in einer russisch geprägten Realität, die im Kontext des Ukrainekrieges auch ihr politisches Gesicht zeigte. Als 2014 die Air Malaysia-Maschine über Luhansk abgeschossen wurde, machte die estnische Mehrheitsbevölkerung dafür die russische Regierung und ihre irreguläre Armee verantwortlich. Für die allermeisten russischsprachigen Esten hat, gemäss Meinungsumfragen, jedoch die ukrainische Regierung den Abschuss zu verantworten. Kurz darauf folgte die grosse Wende in der estnischen Medien- und Sprachpolitik: seit 2015 sendet das öffentlich-rechtliche Fernsehen auch auf einem eigenen russischsprachigen Fernsehkanal und erreicht dadurch auch die Sprachminderheit.


Referenzen:

  • Jõesaar, A., 2015. One Country, Two Polarised Audiences: Estonia and the Deficiency of the Audiovisual Media Services Directive. Media and Communication 3(4), 45-51.
  • Snyder, J., Ballentine, K., 1996. Nationalism and the Marketplace of Ideas. International Security 21(2), 5-40.
  • Snyder, J., 2000. From Voting to Violence: Democratisation and Nationalist Conflict. Norton, London.

Bild (eigene Bearbeitung): Die Unternehmen der Goldbach Group vermarkten und vermitteln Werbung in privaten elektronischen Medien, beispielsweise für die Werbefenster der in der Schweiz gesendeten Programme deutscher Privatsender.