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Die Topeinkommen in der Schweiz seit 1980: Verteilung und Mobilität

Isabel Martínez
20th November 2017

Seit zwanzig Jahren steigen die Topeinkommen in der Schweiz. Das Top 1% Prozent der Steuerzahlenden verfügt inzwischen über mehr als zehn Prozent der Gesamteinkommen. Auch die globale Finanzkrise 2008-2009 hat dem weltweiten Aufwärtstrend bei den Topeinkommen keinen Abbruch getan. Besonders ausgeprägt ist der Anstieg unter den Superreichen, dem Top 0.01% oder den 450 reichsten Steuerzahlenden in der Schweiz.

Social Change in Switzerland

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Verteilungsfragen haben weiterhin Hochkonjunktur. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 ist das Thema auch vom politischen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Sonst marktliberal geprägte Organisationen wie der IMF oder die OECD haben die wachsende Ungleichheit als Problem für die Gesellschaft und für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum erkannt (vgl. OECD, 2008, 2012, 2015, Ostry et al. 2014). Die Topverdienenden sind dabei vermehrt in den Fokus gerückt. In der Schweiz zeigte sich dies an Volksbegehren wie der Abzocker-Initiative oder der 1:12 Initiative, welche beide auf eine Eindämmung der Top-Saläre abzielten.

Wir wissen, dass die Topeinkommen steigen, aber wie lange kann sich jemand an der Spitze der Einkommenspyramide halten? Hat mit dem Anstieg der Topeinkommen auch die Einkommensmobilität in den Topgruppen zugenommen? Falls dem so ist, hat die Ungleichheit der „Lebenseinkommen“ nicht zwingend zugenommen und Befürchtungen, dass die Reichsten immer weiter abdriften, wären zu relativieren. Mein Beitrag geht dieser Frage auf den Grund.

Entwicklung der Top-Einkommen in der Schweiz

In der Schweiz sind die Top-Einkommen in den letzten Jahren weiter angestiegen. Föllmi und Martinez (2016, 2017) zeichnen diese Entwicklung für die Schweiz in der langen Frist nach. Abbildung 1 zeigt wie das reichste Prozent der Steuerzahler in der Schweiz im internationalen Vergleich in der langen Frist eine erstaunlich stabile Entwicklung aufweist. Das reichste Prozent der Steuerzahler verfügte über die gesamte Zeitspanne durchschnittlich über 9.8% des Gesamteinkommens. Der Aufwärtstrend ist besonders ausgeprägt unter den Superreichen, dem Top 0.01% oder den 450 reichsten Steuerzahlern. Während die Top 10% und auch das Top 1% in der Langfristbetrachtung noch eine relativ stabile Entwicklung aufzeigen, zieht das Top 0.01% der Reichsten eindeutig davon.

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Neben der Entwicklung der Gesamteinkommen aus Steuerdaten interessiert insbesondere auch die Entwicklung der Arbeitseinkommen. Letztere bilden für die grosse Mehrheit der Bevölkerung die Haupteinnahmequelle. Wie Abbildung 3 zeigt, sind in der Schweiz die Einkommen des Top 1% und Top 0.1% aller Arbeitnehmenden und Selbständigen seit den 1990er Jahren angestiegen. Das bestbezahlte Prozent der Arbeitskräfte bezog 2010 8% aller AHV-pflichtigen Arbeitseinkommen.

Als Gründe für den Anstieg der Topeinkommen werden verschiedene Faktoren diskutiert, beispielsweise tiefere Steuern auf hohe Einkommen (Piketty, Saez, Stantcheva, 2014), technologischer Wandel und der damit verbundene Anstieg der durchschnittlichen Firmengrösse, was Spitzentalente und Topverdienende besonders bevorteilt (Gabaix und Landier, 2008), grössere Märkte dank der zunehmenden Globalisierung (Mankiw 2013), oder der Einfluss der Vergütungspraktiken einzelner Branchen wie dem Finanzsektor (Godechot 2012).

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Einkommensmobilität: Wie lange halten sich Topverdienende an der Spitze?

Die beschriebene Entwicklung der Topeinkommen in der Schweiz bietet jeweils eine Momentaufnahme der Ungleichheit. Topeinkommensanteile und auch andere Ungleichheitsmasse messen jeweils die Verteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Werden sie jährlich gemessen, sagen sie zwar etwas darüber aus, wie sich die höchsten Einkommen im Verhältnis zu allen Einkommen im Laufe der Zeit entwickelt haben. Wie sich aber die Einkommen einzelner Individuen über die Zeit entwickeln, verraten diese Zahlen nicht. So bleibt unklar, ob es jedes Jahr dieselben Personen unter das Top 1% schaffen, oder ob sich diese Gruppe von Spitzenverdienenden jedes Jahr neu zusammensetzt.

Gini-Index
Wie stark Einkommensmobilität die Ungleichheit in der Schweiz reduziert, kann mit Hilfe des Gini-Index gemessen werden. Ein (hypothetischer) Gini-Index von 1 bedeutet maximale Ungleichheit: eine Person in der Gesellschaft verfügt über das gesamte Einkommen, alle anderen haben ein Einkommen von Null. Haben alle dasselbe Einkommen, existiert dagegen keine Einkommensungleichheit und der Gini-Index beträgt 0.

Werden statt des jährlichen Einkommens die Durchschnittseinkommen derselben Person gemittelt über 3 oder 5 Jahre als Grundlage für die Berechnung des Gini-Index verwendet, fallen ausserordentlich hohe oder ausserordentlich geringe Einkommen eines Jahres weniger ins Gewicht. Einkommensschwankungen, welche beispielsweise aufgrund eines einmaligen Bonus oder wegen Erwerbsausfällen während einer Weiterbildung entstehen, werden so geglättet und über mehrere Jahre verteilt.

Der Gini der über mehrere Jahre gemittelten Einkommen ist ab Mitte der 1990er Jahre genauso angestiegen wie der Gini der jährlichen Einkommen. Die bedeutet, dass Einkommensmobilität dem Anstieg der Ungleichheit nicht entgegenwirken konnte.

Eine Analyse der Entwicklung der Ungleichheit in der Schweiz sollte deshalb auch diese Entwicklungen auf der individuellen Ebene, die Einkommensmobilität, messen. Wenn in der gleichen Zeit, in welcher die jährliche Einkommenskonzentration zugenommen hat, auch die Wahrscheinlichkeit, es einmal unter die Top 1% zu schaffen, gestiegen ist, bleibt die Verteilung der „Lebenseinkommen“ unter Umständen unverändert.

Ein gebräuchliches Mass für die Einkommensmobilität an der Spitze der Verteilung ist die Verbleiberate in einer bestimmten Einkommensgruppe nach beispielsweise 5 Jahren. Je geringer die Persistenz in einer Gruppe ausfällt, umso höher ist die Mobilität. Abbildung 4 zeigt den Anteil der Topverdienenden, die sich auch nach mehreren Jahren erneut unter den Top 1% befinden[1]. Von jenen, die im Jahr 2000 unter den Top 1% waren, finden sich 10 Jahre später 37% in dieser Einkommensgruppe wieder. In den 1980er Jahren lag dieser Wert noch über 40%. Die Einkommensmobilität hat im Verlauf der 1980er Jahre also zugenommen. Seit Ende der 1990er Jahre, also seit dem beobachteten Anstieg der Topeinkommen, ist sie jedoch stabil geblieben.

Für Frauen war die Verbleibedauer unter den Top 1% stets unterdurchschnittlich. Dieselben Gründe, die dazu führen, dass der Frauenanteil unter den Top 1% tief ist,  verringern auch die Wahrscheinlichkeit, länger im Top 1% zu bleiben: Teilzeitpensen, Familienarbeit und Erwerbsunterbrüche sowie die Wahl bestimmter Berufsfelder. Durch den Anstieg der Mobilität insbesondere in den 1980er Jahren ist dieser Geschlechterunterschied zwar zurückgegangen, gänzlich verschwunden ist er jedoch nicht.

Typisch für die Mobilität sind folgende Merkmale: Sie ist am oberen und unteren Ende der Verteilung am geringsten. Dabei ist sie in der Regel am unteren Ende der Verteilung höher als bei den Topeinkommen. Der Aufstieg von ganz unten ist also wahrscheinlicher als der Fall von ganz oben.

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Die hier betrachteten Mobilitätsmasse beschränken sich auf die Arbeitseinkommen einzelner Personen. Das Haushaltseinkommen ist noch ungleicher verteilt und auch die Persistenz dürfte höher ausfallen. Das Haushaltseinkommen umfasst daneben auch Kapitaleinkünfte und Sozialtransfers sowie das Einkommen des Ehepartners.  Haushalte mit hohen Arbeitseinkommen erzielen in der Regel auch höhere Kapitaleinkünfte, und auch das Einkommen der Ehepartner ist positiv korreliert.

Wer sind die Topverdienenden in der Schweiz?

Ins Top 1% schaffte es 2010, wer ein Bruttoeinkommen von 315’000 CHF erzielte, fürs Top 10% reichten 126’000 CHF. Bisher war wenig bekannt darüber, wer diese Topverdienenden in Bezug auf persönliche Merkmale wie Geschlecht oder Nationalität sind. Da in den Steuerstatistiken ein Steuerzahler nicht zwingend eine Einzelperson ist, sondern dahinter auch ein gemeinsam besteuertes Ehepaar stehen kann, sind Steuerdaten nicht geeignet, um beispielsweise Geschlechterunterschiede zu untersuchen. Anhand von Daten aus der AHV-Statistik ist es erstmals möglich aufzuzeigen, wie sich die Gruppe der Topverdienenden zusammensetzt.

Das augenfälligste Resultat ist, dass Frauen unter den Bestbezahlten 10% und mehr noch unter den Top 1% stark untervertreten sind. Obwohl Frauen 2010 insgesamt rund 46% der aktiven Beschäftigten in der AHV-Statistik ausmachten, lag ihr Anteil unter den Top 10% gerade einmal bei 14% (Abbildung 6). Die Gründe für die geringe Anzahl Frauen im Topeinkommenssegment sind vielseitig und werden in der Literatur breit diskutiert[3].

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Ein anderes Bild zeigt sich beim Anteil der im Ausland geborenen Beschäftigten an der Spitze der Einkommenspyramide. Diese waren im Vergleich zu Ihrem Anteil in der Grundgesamtheit der AHV-Pflichtigen stets gut vertreten. In diesen Zahlen spiegelt sich die starke internationale Ausrichtung der Schweizer Wirtschaft in den letzten 20 Jahren. Die Schweiz beheimatet 36 multinationale Unternehmen. Hinzu kommt eine grosse Anzahl ausländischer Unternehmen und Statusgesellschaften mit Sitz in der Schweiz. Diese erhöhen die Nachfrage nach ausländischen Fachkräften. Gleichzeitig macht das traditionell günstige Steuerklima die Schweiz zu einem attraktiven Standort für gutqualifizierte ausländische Arbeitskräfte[4]

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Schlussfolgerungen

Der jüngste Anstieg der Einkommensungleichheit geht vor allem auf den Anstieg der Löhne bei den Bestbezahlten zurück. Dieser Anstieg wurde nicht durch eine erhöhte Einkommensmobilität kompensiert. Rund 80% der Top 1% sind auch nach einem Jahr noch in dieser Gruppe. Nach 10 Jahren finden sich 37% unter den Top 1% wieder. So ist denn auch die Ungleichheit der über mehrere Jahre gemittelten Einkommen gestiegen. Weiter zeigt die Auswertung der AHV-Statistik, dass Frauen in den Topgruppen stark untervertreten sind. Obwohl 46% der aktiven Beschäftigten weiblich sind, lag 2010 der Frauenanteil im Top 1% unter 10%. Überproportional vertreten sind im Ausland geborene Personen: Sie stellen einen Drittel des Top 1% dar.

Lange Zeit sahen Ökonomen Einkommensungleichheit als notwendiges Übel, um die Wirtschaft in Schwung zu halten. Ungleichheit schaffte in ihren Augen die nötigen Anreize, sich durch harte Arbeit selber einmal vom sprichwörtlichen Tellerwäscher zum Millionär hochzuarbeiten. Einkommensungleichheit geht in dieser Sicht jedoch Hand in Hand mit der Einkommensmobilität (Garnero et al. 2016). Inzwischen hat die Ungleichheit – und insbesondere die Konzentration der Topeinkommen – Ausmasse erreicht, welche auch unter Ökonomen die Debatte um Effizienz und Verteilung neu belebt hat.


[1] Bedingung ist nicht, dass sie sich in jedem dazwischenliegenden Jahr auch unter den Top 1% befinden. Diese Konvention hat sich in der Literatur verbreitet, weil in anderen Ländern nicht immer für jedes Jahr Daten zur Verfügung stehen.

[2] In der AHV-Statistik ist es nicht möglich, für Teilzeitpensen zu korrigieren. Ein Teil des Anstiegs im Gini-Index der Bruttolöhne dürfte deshalb auch auf die Zunahme der Teilzeitarbeit zurückzuführen sein.

[3] In der Literatur werden verschiedene Gründe für die Untervertretung von Frauen in Top-Positionen diskutiert: Karriere-Unterbrüche wegen Familiengründung, vermehrte Teilzeitarbeit, die Wahl bestimmter Berufe oder Branchen, geschlechterspezifische Einstellungen gegenüber Wettbewerb am Arbeitsplatz (Niederle und Vesterlund, 2007) und die Gestaltung des Auswahlverfahrens, soziale Netzwerkeffekte (Ginalski, 2016; Ioannides und Datcher Loury, 2004), sowie (unterbewusste) Voreingenommenheit, welche bei Einstellungsverfahren Männer bevorzugt (Goldin und Rouse, 2000).

[4]Auch Selbständige sind unter den Topeinkommensbeziehenden sehr gut vertreten. Über den gesamten Zeitraum hinweg lag ihr Anteil unter den bestverdienenden 5% bei 20%, und damit doppelt so hoch wie in der Grundgesamtheit der Beschäftigten. Beim Top 1% und Top 0.1% liegen die Anteile noch höher, allerdings ist dort ein Abwärtstrend zu beobachten. Dieser begann 1997, just dem Jahr, in welchem die Unternehmenssteuerreform I angenommen wurde. Die Vermutung liegt nahe, dass ein Teil der sehr erfolgreichen ehemals Selbständigen durch eine Änderung der Rechtsform, z.B. zu einer AG, zumindest formell in die abhängige Beschäftigung übergegangen ist. Für Berufsgruppen wie Ärzte und Rechtsanwälte scheint es dafür zumindest anekdotische Evidenz zu geben.


Bibliographie

  • Föllmi, R. und Martínez, I. (2016) “Volatile Top Income Shares in Switzerland? Reassessing the Evolution Between 1981 and 2010”, Review of Economics and Statistics, forthcoming.
  • Föllmi, R. und Martínez, I. (2017) “Die Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Schweiz”, UBS Center Public Papers, Nr. 6, November 2017.
  • Garnero, A., Hijzen, A. und Martin, S. (2016) “More unequal, but more mobile? Earnings inequality and mobility in OECD countries”, OECD Social, Employment and Migration Working Papers No. 177.
  • Ginalski, S. (2016), “Frauen an der Spitze schweizerischer Grossunternehmen: Eine historische Analyse der Geschlechterungleichheiten”,Social Change in Switzerland, Nr. 7.
  • Goldin, C., und Rouse, C. (2000). “Orchestrating Impartiality: The Impact of ‘Blind’ Auditions on Female Musicians”, American Economic Review, 90(4), pp.715-741.
  • Ioannides, Y. M., und Datcher Loury, L. (2004). “Job information networks, Neighborhood Effects, and Inequality”, Journal of Economic Literature, 42(4), pp. 1056-1093.
  • Mankiw, N. G. (2013) “Defending the One Percent“, Journal of Economic Perspectives, 27(3), pp. 21–34.
  • Niederle, M., und Vesterlund, L. (2007). “Do women shy away from competition? Do men compete too much?”, Quarterly Journal of Economics, 122(3), pp. 1067-1101.
  • OECD (2008) Growing Unequal? Income Distribution and Poverty in OECD Countries, OECD Publishing, Paris.
  • OECD (2012) Divided We Stand: Why Inequality Keeps Rising, OECD Publishing, Paris.
  • OECD (2015) In It Together: Why Less Inequality Benefits All, OECD Publishing,
  • Ostry, J.D., Berg, A., und Tsangarides, C.G. (2014). Redistribution, Inequality, and Growth. International Monetary Fund.
  • Piketty, T. (2014) Das Kapital im 21. Jahrhundert. München, Beck C. H.

Quelle: I. Martinez (2017), Die Topeinkommen in der Schweiz seit 1980: Verteilung und Mobilität. Social Change in Switzerland N° 11. Retrieved from http://socialchangeswitzerland.ch

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