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Medien sind zu stark auf extravertierte Bürgerinnen und Bürger und zu wenig auf verträgliche ausgerichtet

Claude Longchamp
16th September 2017

In seinem soeben erschienenen Werk analysiert Markus Freitag, Professor für Politische Soziologie an der Universität Bern, erstmals die Persönlichkeitsmerkmale der Mediennutzenden in der Schweiz. Seine Befunde sollten zu denken geben.

Alexander Nix, CEO des britischen Unternehmens CambridgeAnalytica, fasste am diesjährigen Schweizer Marketingtag den disruptiven Wandel in der Branche wie folgt zusammen: Früher habe man versucht, mit originellen Botschaften von genialen Werbern zu überzeugen. Heute gehe Werbung vom Kunden aus und suche die Nähe zu dessen Persönlichkeit. 

Für genau diese interessiert sich Markus Freitag, Professor für Politische Soziologie an der Universität Bern, in seinem neuen Buch Die Psyche des Politischen. Seine These ist, dass Persönlichkeitsmerkmale der Bürgerinnen und Bürger den Schlüssel zum Verständnis des heutigen Denkens und Handelns bilden. Politische Ideologien, Parteibindungen und Themenpräferenz schliesst er zwar nicht explizit aus, doch ihn interessiert vor allem das additive Modul, das verfeinerte psychologische Modelle heute gegenüber dem Vorgehen der AnnArbor-Forschung liefern können.

Big Five in der Schweiz

Weltweit erprobt und eingesetzt wird in diesem Sinne das sogenannte Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeitspsychologie, bekannt als die Big Five. Es umfasst die fünf Hauptdimensionen der menschlichen Persönlichkeit und wird auch als OCEAN-Modell bezeichnet (entsprechend den jeweiligen Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe):

  • Openness (Offenheit für neue Erfahrungen),
  • Conscientiousness (Gewissenhaftigkeit),
  • Extraversion (Aussenorientierung),
  • Agreeableness (Verträglichkeit),
  • Neuroticism (emotionale Instabilität).

Vier grosse Umfragen bei Schweizerinnen und Schweizern aus den letzten fünf Jahren legen nahe: Verbreitet sind namentlich Gewissenhaftigkeit (46-56%), Verträglichkeit (28-39%) und Offenheit (16-27%).

Aussenorientierung (14-19%) und emotionale Instabilität (2-4%) kommen dagegen weniger häufig vor. Dabei ist es durchaus denkbar, dass eine Person mehr als einen deutlichen Persönlichkeitszug hat.

Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit und Medien-/Werbenutzung

Der wichtigste Befund lautet: Verträgliche Menschen nutzen viele Quellen, die politisch informieren oder werben, signifikant unterdurchschnittlich. Einzig was aus dem eigenen Briefkasten kommt, wird beachtet. Zudem stehen diese Menschen vielen Titeln aus dem Tageszeitungsgeschäft deutlich distanzierter gegenüber als der Durchschnitt. Dies gilt auch für Mediengattungen wie Gratiszeitungen oder Social Media. Zudem trifft diese Distanziertheit explizit auf alles zu, was parteilichen Charakter hat.

Das Persönlichkeitsmerkmal, das Mediennutzung eindeutig positiv beeinflusst, ist Aussenorientierung. Extravertiertheit führt zu einer signifikant höheren Nutzung aller Mediengattungen. Bezogen auf einzelne Medientitel ist namentlich die starke Übervertretung des Boulevards erwähnenswert. Mit dem Internet und sozialen Medien wächst gerade für dieses Persönlichkeitsmerkmal eine relevante Medienkonkurrenz heran.

Intensive Mediennutzung hängt auch mit dem Charakterzug Offenheit für neue Erfahrungen zusammen. Das zeigt sich an der Präsenz dieses Persönlichkeitsmerkmals in allen Mediengattungen. Speziell erwähnt sei es auch in Bezug auf die Nutzung von Qualitätsmedien.

Bürgerinnen und Bürger, die offen für Neues sind, finden sich auch vermehrt im Internet. Sie sind auch in den Kanälen der sozialen Medien aktiv und man findet sie an Standaktionen in der Öffentlichkeit.

Mediennutzung kann manchenorts heute noch auf eine relative Stabilität zählen, weil der am weitesten verbreitete Charakterzug der Schweizerinnen und Schweizer, die Gewissenhaftigkeit, die Nutzung der meisten Mediengattungen – letztlich alle ausser den Social Media-Kanälen – eher befördert denn verhindert.

Als letzter Wesenszug bleibt die emotionale Instabilität. Für diese Menschen zeigen die Analysen eine Nähe zu Social Media und bei den Medientiteln zum Blick. Politische Werbung nimmt man, so disponiert, namentlich via Plakate überdurchschnittlich wahr.

Verträgliche Menschen werden unzureichend angesprochen

Politische Informationsaufnahme mittels Persönlichkeitsmerkmalen erklären zu wollen, ist um einiges schwieriger, als Zusammenhänge mit dem ideologisierten Denken aufzuzeigen. Dennoch, knapp die Hälfte der hypothetisch postulierten Zusammenhänge lassen sich empirisch selbst mit einfachen Konzepten bestätigen.

Freitags Analysen zeigen vor allem, dass die Medien das politisch interessierte Publikum ziemlich selektiv ansprechen. Bei Werbekanälen und Medientiteln überrascht dies nicht, denn es hat mit der anhaltenden Differenzierung auf dem Konsummedienmarkt zu tun. Bei den Mediengattungen stimmt der nachweislich starke Zusammenhang jedoch nachdenklicher. Denn ausser der Extraversion bedient das heutige Mediensystem kein Persönlichkeitsmerkmal mehr systematisch über dem Durchschnitt.

Man könnte gar von einer eigentlichen Abwendung der Medien von verträglich disponierten Bürgerinnen und Bürgern sprechen. Demokratiepolitisch ist dies insofern problematisch, als dass genau dieser Menschenschlag den politischen Institutionen am vertrauensvollsten gegenübersteht, was eine wesentliche Grundlage einer jeden Konsensdemokratie ist.

Nix, der CEO von CambridgeAnalytica, propagiert das von seiner Firma benutzte Schema vielleicht zu unkritisch. Forscher Freitag bietet noch mehr Stoff zum Nachdenken: Gerade die Desinvolvierung verträglicher Menschen aus dem Mediensystem sollte der Politik, aber auch dem Journalismus und dem Marketing zu denken geben – jedenfalls dem gewissenhaften Teil davon.

Daten
Vier repräsentative Umfragen mit verschiedenen Methoden dienen als Basis für die Studie von Markus Freitag. Total umfassen sie 14'000 Befragte. Ausgewertet wurden die Daten mit multinominalen Regressionsanalysen. Berichtet werden hier nur signifikante Merkmale, kontrolliert durch übliche Merkmale der politischen Soziologie resp. politischen Einstellungsforschung (vgl. Tabelle 4.1, Freitag (2017))

freitag


 
Quelle: Freitag, Markus (2017). Die Psyche des Politischen. Was der Charakter über unser politisches Denken und Handeln verrät. Zürich: NZZ Libro.

Illustration: Pixabay.