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Die Tessinerinnen und Tessiner vertrauen der Schweizer Regierung – auch ohne eigenen Bundesratssitz

Lukas Lauener, Franziska Ehrler, Anke Tresch
14th September 2017

Die fehlende Vertretung in der Landesregierung sowie die zuweilen abweichende Meinung bei eidgenössischen Abstimmungen scheinen sich für Tessinerinnen und Tessiner nicht negativ auf das Vertrauen in den Bundesrat auszuwirken. Sie vertrauen dem Bundesrat ebenso sehr wie Stimmberechtige aus der Deutschschweiz und der Romandie. Oft liegen die Vertrauenswerte im Tessin sogar ein bisschen über dem Durchschnitt. Das zeigt eine Analyse von FORS, dem Schweizerischen Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften in Lausanne.

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Anlässlich der Bundesratswahl vom 20. September 2017 stellt sich abermals die Frage nach der angemessenen Vertretung der Sprachregionen in der Exekutive. Die Einbindung der sprachlichen Minderheiten in die Regierung hat in der Schweiz Tradition. Sie ist nicht nur wichtig für den Zusammenhalt des kulturell diversen Landes, sondern auch eine Voraussetzung für die Konkordanz. Überdies schreibt die Bundesverfassung seit 1999 vor, dass die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen im Bundesrat vertreten sein sollen.

Hohes Regierungsvertrauen im Tessin

Gemeinhin kann angenommen werden, dass sich Stimmbürgerinnen und Stimmbürger besser repräsentiert fühlen, wenn jemand aus ihrer Region in der Regierung Einsitz hat. Eine Analyse des Regierungsvertrauens nach Sprachregionen liefert indes erstaunliche Ergebnisse. Obwohl das Tessin seit 18 Jahren nicht mehr im Bundesrat vertreten ist, vertrauen Personen aus der italienischen Schweiz dem Bundesrat im Durchschnitt ebenso sehr wie ihre deutsch- und französischsprachigen Mitbürgerinnen und Mitbürger, oft sogar noch ein bisschen mehr.

Abbildung: Anteil Befragte mit Vertrauen in den Bundesrat (in %)

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Quelle: Voxit, eigene Darstellung

Der Verlauf des Regierungsvertrauens der italienischsprachigen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger folgt ziemlich genau dem Verlauf der übrigen Schweiz. In der obigen Grafik sind neben den Kurven für das Vertrauen in den Bundesrat auch die entsprechenden Unsicherheitsbereiche dargestellt. In der 30-jährigen Messperiode war das Regierungsvertrauen im Tessin in 15 Jahren signifikant höher als in der restlichen Schweiz. Zu beobachten ist dies in sämtlichen Jahren, in denen sich die schattierten Unsicherheitsbereiche nicht überschneiden.

Von 1987 bis 1999 war mit Flavio Cotti (CVP) das letzte Mal ein Tessiner im Bundesrat vertreten. In diesen zwölf Jahren wiesen die italienischsprachigen Schweizerinnen und Schweizer stets ein leicht überdurchschnittliches Regierungsvertrauen aus. Nach einem kurzen Einbruch im Jahr 1999, dem Rücktrittsjahr Cottis, erholte sich das Regierungsvertrauen der italienischsprachigen Minderheit relativ schnell und erreichte auch in den Folgejahren meist überdurchschnittliche Werte.

Das Tessin entscheidet an der Urne häufig anders als die Mehrheit

In Anbetracht der langen Periode ohne eigenen Bundesrat mag es erstaunen, dass das Tessin der Schweizer Landesregierung gleichermassen stark vertraut wie der Rest der Schweiz, beziehungsweise oft noch mehr. Dieser Befund ist aus einem weiteren Grund bemerkenswert. Das Tessin tickt nämlich anders – so oder ähnlich hört man es zuweilen nach eidgenössischen Volksabstimmungen, wenn das Tessiner Stimmvolk anders entscheidet als die Restschweiz. Beispielsweise in der Sozialpolitik wurde das Tessin in der Vergangenheit schon öfter überstimmt und demnach minorisiert. So fanden beispielsweise die Vorlagen zur Einführung der Mutterschaftsversicherung (1999), zur Herabsetzung des Rentenalters (2000) und zur Erhöhung der AHV-Renten (2016) Unterstützung im Südkanton, während sie gesamtschweizerisch von einer deutlichen Mehrheit verworfen wurden.

Auch in der Aussenpolitik entscheiden die Tessiner Stimmbürgerinnen und Stimmbürger häufig anders als der gesamtschweizerische Tenor. Das Tessin lehnte im Jahr 2000 die bilateralen Verträge mit der EU ab, 2002 den Beitritt zur UNO sowie 2005 und 2009 die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit. In der jüngsten Vergangenheit votierte das Tessiner Stimmvolk bei ausländer- und migrationspolitischen Vorlagen zwar meist im Einklang mit den anderen Kantonen, die Meinungen fielen im Südkanton allerdings prononcierter aus als in der übrigen Schweiz. So unterstützten die Tessinerinnen und Tessiner beispielsweise die Masseneinwanderungsinitiative (2014) mit einem Ja-Anteil von 68 Prozent am stärksten.

Die grössere Skepsis gegenüber Ausländern und Immigranten im Tessin ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass der Südkanton stärker von aktuellen politischen Herausforderungen, wie der Migrationskrise, der Grenzgänger-Problematik und von Lohndumping, betroffen ist als andere Kantone. Für politischen Zündstoff sorgt aber auch die geografische Lage des Tessins. Im Abstimmungskampf über den Bau einer zweiten Gotthardröhre war die jahrelange Abgeschnittenheit des Tessins vom nationalen Strassennetz während der Sanierung des bestehenden Tunnels ein zentrales Argument.

Vertretung im Bundesrat hat wohl keine direkten Auswirkungen auf das Regierungsvertrauen

Den gelegentlichen Abweichungen von der Mehrheitsmeinung und der fehlenden Vertretung des Tessins im Bundesrat zum Trotz – die italienischsprachigen Mitbürgerinnen und Mitbürger vertrauen der Schweizer Landesregierung. Die zukünftigen Abstimmungsanalysen werden zeigen, inwiefern sich dieses Vertrauen durch die allfällige Wahl des Tessiners Ignazio Cassis in den Bundesrat verändern wird. Wenn man die vergangenen 30 Jahre betrachtet, ist es aber unwahrscheinlich, dass sie sich entscheidend auf das Regierungsvertrauen der Tessinerinnen und Tessiner auswirken wird.

Daten und Methoden
Seit über 30 Jahren wird im Nachgang zu eidgenössischen Abstimmungen (früher VOX-, heute VOTO-Umfragen) das Vertrauen der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in den Bundesrat erhoben. Die Analyse dieser Frage liefert aufschlussreiche Erkenntnisse darüber, was die Stimmberechtigten von der Landesregierung halten.

Daten:

Der Voxit-Datensatz kombiniert alle VOX-Umfragen. Dies sind Abstimmungsnachbefragungen zu 297 Vorlagen von 1981 bis 2016. Seit 1987 werden auch Tessinerinnen und Tessiner systematisch befragt, weshalb eine Aufteilung nach Sprachregion erst ab diesem Jahr möglich ist.

Frage:

In den VOX-Umfragen wurde das Regierungsvertrauen der interviewten Person mittels der Frage, welcher der beiden folgenden Meinungen man am ehesten zustimme, ermittelt:

Meinung 1: Ich kann mich meistens auf die Regierung im Bundeshaus verlassen. Sie handelt nach bestem Wissen und Gewissen, zum Wohle aller.

Meinung 2: Im Bundeshaus wird immer mehr gegen und immer weniger für das Volk entschieden. Die Regierung kennt unsere Sorgen und Wünsche nicht mehr.


Für weitere Auskünfte: Lukas Lauener, FORS: +41 (0)21 692 46 71

Foto: Lugano, Piazza Riforma