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Irreführende Initiativtitel – Ist Nomen gleich Omen?

Anja Heidelberger
25th November 2016

Die Gefahr der Irreführung durch Initiativtitel lässt sich für die Initiativen zwischen 2014 und 2016 nicht bestätigen – obwohl dieser Vorwurf insbesondere bei der Initiative für eine faire Verkehrsfinanzierung und der Pro Service Public-Initiative regelmässig vorgebracht wurde. Allerdings gibt es Initiativtitel, die sich die Stimmberechtigten besser einprägen können als andere. Dies zeigt die Analyse der Inhaltsangaben aus den Vox-Befragungen. 

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Regelmässig wird vor Abstimmungen darüber diskutiert, ob die Titel verschiedener Initiativen irreführend sind oder nicht. In den letzten Jahren besonders ausführlich besprochen wurde diese Frage bezüglich der Initiative für eine faire Verkehrsfinanzierung (anfänglich MilchkuhInitiative genannt) und der Pro Service PublicInitiative. Die Vorwürfe der Irreführung stützen sich dabei auf das Bundesgesetz über politische Rechte[1].

Dieses verlangt von einem Initiativtitel implizit, dass er die Stimmbürger nicht zu einem anderen Stimmentscheid anregt als der Initiativtext (Buser 1983: 395). Der Initiativtitel soll es einem Individuum ermöglichen, grob das Ziel einer Vorlage zu erkennen und seine Präferenzen im Stimmentscheid auszudrücken.

Dahinter stehen zwei Überlegung: Erstens sind Individuen nicht immer vollständig über Abstimmungsvorlagen informiert und stützen sich in diesen Fällen auf Hilfestellungen bei ihrem Stimmentscheid – auf sogenannte Heuristiken. Zweitens kann der Initiativtitel eine solche Heuristik darstellen, Stimmbürger können sich also in gewissen Situationen ausschliesslich aufgrund des Titels für oder gegen eine Vorlage entscheiden.

Ob es Anzeichen für eine solche Heuristik gibt und ob sie den Stimmbürgern erlaubt, ihre Präferenzen an der Urne umzusetzen, wird im Folgenden untersucht.

Gibt es eine Titelheuristik?

Meinungsbildung kann generell unter sehr viel Aufwand durch ein möglichst vollständiges Sammeln aller Informationen und/oder über die Verwendung von Heuristiken erfolgen (Milic et al. 2014, Kriesi 2005). Heuristiken stellen das „Wissen darüber [dar], wie bei Lern‐ und Problemlösungsprozessen vorzugehen ist“ (Milic et al. 2014: 248).

In Bezug auf Volksabstimmungen helfen sie folglich dabei, die Informationen für einen sinnvollen Stimmentscheid mit möglichst wenig Aufwand zusammenzutragen. Dazu können sich die Stimmberechtigten auf die Parole respektive den Rat von Parteien (Parteienheuristik), von Institutionen wie zum Beispiel dem Bundesrat oder von Verwandten oder Bekannten (Vertrauensheuristik) stützen (Kriesi 2005).

Eine weitere Möglichkeit stellt die sogenannte Status Quo‐Heuristik dar, bei der man im Zweifelsfall gegen Änderungen der aktuellen Situation stimmt. Dabei stellt sich die Frage, ob der Initiativtitel eine ähnliche Art der Heuristik darstellen kann, indem er ebenfalls eine beschränkte Inhaltsangabe zur Vorlage und somit den Stimmbürgern Anhaltspunkte für ihren Stimmentscheid liefert, wenn sie ansonsten über zu wenige Informationen verfügen.

Bei den Vox‐Befragungen, die jeweils nach den Abstimmungen durchgeführt worden sind, wurden die Stimmberechtigten unter anderem nach dem Inhalt der einzelnen Vorlagen gefragt. Diese Antworten wurden anschliessend danach codiert, ob sie gar keine inhaltlichen Angaben beinhalten (inhaltsfreie Antwort), ob sie ausschliesslich die bereits im Titel aufgeführten Informationen enthalten (Titelnennung) oder ob auch zusätzliche inhaltliche Informationen genannt werden (inhaltliche Antwort). Dies soll einen Hinweis darauf liefern, wie wichtig die Informationen aus dem Titel für die Befragten waren.

In Abbildung 1 ist die Häufigkeit der Titelnennungen (gelb), der Antworten ohne Inhaltsangaben (grau) sowie der Antworten mit ausführlichen inhaltlichen Aussagen (violett) für alle Initiativen zwischen 2014 und Juni 2016 aufgeführt.

Lesebeispiel: Bei der Initiative zur Abschaffung der Pauschalbesteuerung nannten etwa 25 Prozent der Befragten bei der Frage nach der Inhaltsangabe der Vorlage nur Informationen, die bereits im Titel enthalten sind („Titelnennung“). Etwa 22 Prozent konnten gar keine inhaltlichen Angaben machen („inhaltsfreie Antwort“), während die restlichen 53 Prozent Inhaltsangaben machten, die mehr beinhalteten als nur die aus dem Titel ablesbaren Informationen (inhaltliche Antwort).

Dabei fällt auf, dass relativ grosse Unterschiede in der Häufigkeit der Titelnennungen vorliegen. Da die Befragten bei fehlendem zusätzlichem Wissen bei der Inhaltsfrage theoretisch immer den Titel wiederholen könnten, weisen diese Unterschiede zwischen den Vorlagen auf eine Relevanz von eingängigen Titeln hin.

Denn besonders häufig sind Titelnennungen bei der Initiative zur Abschaffung der Pauschalbesteuerung, der Familieninitiative, der Pädophilen‐Initiative, der Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie der Spekulationsstopp‐Initiative.

Alle fünf Initiativen weisen etwa zwanzig Prozent Titelnennungen auf. Zurückzuführen ist dies vermutlich darauf, dass Begriffe wie „Pauschalbesteuerung“, „Pädophile“ oder auch „Spekulationsstopp“ sehr einprägsam waren und von den Befragten auch nach der Abstimmung noch gut abgerufen werden konnten.

Zwar bedeutet dies nicht, dass alle Personen, die hier nur den Titel genannt haben, sich auch bei den Abstimmungen nur auf den Titel verlassen haben. Diese Ergebnisse verdeutlichen jedoch, dass manche Initiativtitel besser im Gedächtnis verhaftet bleiben als andere und somit möglicherweise auch eine grössere Rolle beim Stimmentscheid gespielt haben. Folglich können sie ein Potential für eine Titelheuristik darstellen.

Einfluss der Titelheuristik auf die Übereinstimmung von Stimmentscheid und Präferenzen

Das Bundesgesetz über die politischen Rechte erachtet die Verwendung einer Titelheuristik an sich nicht als bedenklich. Ein Problem stellt sie jedoch dann dar, wenn der Titel den Stimmberechtigten nicht genügend Informationen liefert, damit sich diese ein akkurates Bild der Vorlage machen können. Erst wenn die Verwendung einer Titelheuristik dazu führt, dass die Stimmbürger entgegen ihren eigentlichen Präferenzen stimmen, wird sie als problematisch erachtet. Doch wie kann gemessen werden, ob eine Person in Übereinstimmung mit ihren Präferenzen stimmt?

Milic (2012) nutzt dazu die Struktur der Vox‐Befragung, bei der zu Beginn nach dem Stimmentscheid zu den einzelnen Vorlagen gefragt wird, während relativ gegen Ende des Fragebogens die Einstellungen bezüglich verschiedener Hauptargumente zu den Vorlagen abgefragt werden. Mit Hilfe dieser Informationen definiert Milic (2012) das Konzept des correct voting, das ausdrückt, ob ein Stimmentscheid mit den selbst angegebenen Präferenzen einer Person bezüglich einer Vorlage – zumindest soweit sie durch die abgefragten Argumente erfasst werden können – übereinstimmt.

Sollte sich die Titelheuristik generell als zu knappe Möglichkeit zur Informationsbeschaffung herausstellen, müsste sich das in der fehlenden Übereinstimmung der Präferenzen und des Stimmentscheids zeigen: In diesem Fall sollte man bei denjenigen Personen, die ausführliche inhaltliche Angaben zu den Vorlagen machen können, eine deutlich grössere Übereinstimmung des Stimmentscheids mit den angegebenen Präferenzen finden, als für diejenigen Personen, die nur den Titel einer Vorlage wiedergeben können.

Folglich wurde die prozentuale Übereinstimmung zwischen Stimmentscheid und Präferenzen der Bürger für diejenigen Vorlagen berechnet, die mindestens dreissig Titelnennungen aufweisen. In Abbildung 2 ist die Differenz dieser Übereinstimmung zwischen Personen mit inhaltlichen Nennungen und solchen mit Titelnennungen abgebildet.

In der letzten Spalte ist zudem die Differenz der Anteile des correct voting eingetragen. Dabei wird deutlich, dass wider Erwarten die Übereinstimmung von Stimmentscheid und Präferenzen bei denjenigen Personen, die nur den Titel genannt haben, mehrheitlich grösser ist als bei denjenigen Personen, die auch inhaltliche Angaben gemacht haben. Lediglich bei der Pädophileninitiative und der Ecopop‐Initiative ist diese Übereinstimmung bei den Personen mit Titelnennungen tiefer.

Dies widerspricht folglich der Erwartung, wonach Titelnennungen allenfalls auf fehlendes Wissen hindeuten und möglicherweise bezüglich eines unverzerrten Stimmentscheids problematisch sein können. Insgesamt deutet diese Auswertung somit darauf hin, dass bei den seit 2014 untersuchten Initiativen eine mögliche Verwendung einer Titelheuristik nicht zu stärker verzerrten Antworten geführt hat als die ausführlichere Sammlung von Informationen – eher im Gegenteil.

LesehilfePositive Werte bedeuten, dass Personen mit inhaltlichen Nennungen häufiger übereinstimmend mit ihren Präferenzen gestimmt haben als Personen, die nur den Titel genannt haben. Negative Werte bedeuten entsprechend das Gegenteil.

Correct Voting
Zur Operationalisierung des correct voting codiert Milic (2012) eine mit dem Stimmentscheid übereinstimmende Einstellung zu einem Argument positiv, eine nicht übereinstimmende Einstellung negativ. Nach Addition der verschiedenen Einstellungen erhält er demnach einen positiven oder negativen Gesamtwert, der auf eine mehrheitliche Übereinstimmung der Argumentation mit oder Diskrepanz der Argumentation zum Stimmentscheid hindeutet. Mithilfe der Personen, die den neutralen Wert 0 aufweisen und entsprechend bezüglich der Argumente ambivalent sind, werden für alle Vorlagen ein unterer und ein oberer Grenzwert des correct voting definiert (Milic 2012). In diesem Beitrag wird dem Vorgehen von Milic (2012) gefolgt, jedoch wird jeweils nur der obere Grenzwert aufgeführt. Der aufgeführte Wert des correct voting erfasst folglich den Anteil Personen, die in Übereinstimmung mit ihren Präferenzen stimmen oder die gegenüber den abgefragten Argumenten ambivalent sind.

Fazit

Diese Analyse lässt zwei Aussagen zu. Erstens finden sich Hinweise auf die Relevanz einer Titelheuristik: Gewisse Titel prägen sich den Befragten deutlich besser ein als andere und können dadurch auch beim Stimmentscheid eine grössere Rolle spielen. Zweitens hat die Ausführlichkeit der wiedergegebenen Informationen als Mass für die Verwendung einer Titelheuristik in den hier untersuchten Fällen keinen negativen Einfluss auf das correct voting: Der Stimmentscheid stimmt bei den meisten Vorlagen etwa gleich häufig mit den Präferenzen der Individuen überein, wenn sie Titelnennungen oder ausführliche Inhaltsangaben machen – eher häufiger sogar bei den Titelnennungen.

Insgesamt kann somit für die seit 2014 untersuchten Vorlagen die Gefahr der Irreführung durch Initiativtitel nicht bestätigt werden – und dies obwohl mit der Initiative für eine faire Verkehrsfinanzierung und der Pro Service Public‐Initiative zwei Initiativen untersucht wurden, bei denen ausführlich über eine mögliche Irreführung durch den Titel diskutiert worden ist.


Anmerkung:

[1] Der entsprechende Gesetzesartikel lautet: "Ist der Titel einer Initiative irreführend, enthält er kommerzielle oder persönliche Werbung oder gibt er zu Verwechslungen Anlass, so wird er durch die Bundeskanzlei geändert.“ (Art. 69 Abs. 2 BPR). 

Referenzen:

  • Buser, Walter (1983). Verfügungen der Bundeskanzlei nach dem Bundesgesetz über die politischen Rechte. In: Aubert, Jean‐François und Philippe Bois. Mélanges André Grisel. Neuchâtel: Editions ides et calendes.
  • Kriesi, Hanspeter (2005). Direct Democratic Choice. Lanham: Lexington Books.
  • Milic, Thomas (2012). Correct Voting in Direct Legislation. Swiss Political Science Review 18(4): 399– 427.
  • Milic, Thomas, Bianca Rousselot und Adrian Vatter (2014). Handbuch der Abstimmungsforschung. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung.

Titelbild: Gemeinfreies Werk (CC0).