Back to the roots – gelingt Meinungsbildung an der Landsgemeinde besser?
Hans-Peter Schaub
25th November 2016
Wie gut und wie ausgewogen die Stimmberechtigten über Abstimmungsvorlagen informiert sind, hängt auch davon ab, ob sie ihre Stimme an der Urne abgeben oder in einer Bürgerversammlung. Eine öffentliche Beratung mit gleichem Rederecht für alle ist nur an Versammlungen denkbar. Neue Daten zur Glarner Landsgemeinde zeigen nun, dass die Reden ihrer MitbürgerInnen eine wichtige Rolle für die Meinungsbildung der Stimmberechtigten spielen.
Es ist in der Schweiz ein gut erprobtes Ritual: Nach fast jeder Volksabstimmung erklärt die Verliererseite ihre Niederlage damit, dass sie ihre Argumente zu wenig zur Geltung habe bringen können, weil sie von einer Propagandawalze der Gewinner übertönt worden sei.
Das mag oft ein strategisches Mittel im Kampf um die Deutungshoheit über ein Abstimmungsergebnis sein, die damit aufgeworfene Grundfrage aber ist legitim und demokratiepolitisch wichtig: Sind die Stimmberechtigten ausreichend und ausgewogen über die Abstimmungsvorlagen sowie über die Pro- und Kontra-Argumente dazu informiert, und kommen alle Akteure im Abstimmungskampf ausreichend zu Wort?
Die Antwort auf diese Frage hängt teilweise auch davon ab, ob die Stimmberechtigten ihre Stimme an der Urne abgeben oder in einer Bürgerversammlung, wie es in der Schweiz bis heute in zwei Landsgemeindekantonen und gegen 2’000 Versammlungsgemeinden der Fall ist. Denn die Rahmenbedingungen für die Meinungsbildung sind in der Urnendemokratie andere als in der Versammlungsdemokratie.
Die theoretischen Vorteile der Landsgemeinde für die Meinungsbildung
Die Urnendemokratie baut darauf, dass die Stimmenden sich die Informationen für ihre Meinungsbildung aus Massen- und sozialen Medien, von Plakatwänden, aus dem persönlichen Gespräch oder dem Abstimmungsbüchlein holen.
In der Versammlungsdemokratie stehen all diese Informations- und Kommunikationskanäle ebenfalls offen. Sie eröffnet aber noch einen zusätzlichen Kanal: Weil sie alle Stimmenden an einem Ort und zur gleichen Zeit zusammenbringt, kann die Versammlung auch für eine öffentliche Beratung mit einem Rederecht für alle Stimmberechtigten genutzt werden.
Zumindest auf den ersten Blick bietet die Beratung in der Bürgerversammlung ein Gegenmittel gegen die zwei vielleicht grössten Probleme, die sich für die Meinungsbildung in der Urnendemokratie stellen: Erstens drohen insbesondere die Massenmedien und Plakatwände von finanzstarken und/oder gutorganisierten Interessen dominiert zu werden. Auch in den offiziellen Abstimmungsbüchlein kommt – wenn überhaupt – zu Wort, wer sich in einem Abstimmungskomitee zusammengeschlossen hat oder im Parlament vertreten ist. Um hingegen an einer Landsgemeinde eine Rede vor den Mitbürgern zu halten, braucht es kein Geld und keine Organisation. Das allgemeine Rederecht ist – formell – denkbar egalitär und öffnet die Arena der öffentlichen Debatte radikal.
Die Kommunikationskanäle der sozialen Medien und der privaten Gespräche helfen im Urnensystem nur bedingt – und dies ist dessen zweites Problem: Der Zugang zu diesen Kanälen ist zwar sehr niederschwellig, doch sie bringen oft nur einen Austausch unter ohnehin Gleichgesinnten. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Argumenten der Gegenseite kommt dann kaum zustande. Das Versammlungssystem hingegen garantiert, dass alle, die ihre Stimme abgeben wollen, zu der Zeit an dem Ort sein müssen, wo auch die Debatte stattfindet. Wer an einer Landsgemeinde vom Rederecht Gebrauch macht, erreicht also alle Abstimmenden; und wer sich an der Landsgemeinde über die Vorlagen informieren will, hört zu den kontroversen Geschäften sowohl Pro- als auch Kontra-Argumente aus erster Hand.
Drei Bedingungen für die Realisierung der theoretischen Vorteile
So weit, so gut. Aus demokratietheoretischer Sicht bietet das Versammlungssystem grosse Chancen für eine ausgewogene Meinungsbildung. Wie sieht aber die Realität aus? Kann die Versammlungsdemokratie ihre Versprechen tatsächlich einlösen?
Um ihre theoretischen Chancen voll auszuschöpfen, muss sie drei kritische Voraussetzungen erfüllen: 1) Vorhandensein: Es muss überhaupt ein Rederecht für alle Bürger bestehen. – 2) Zugänglichkeit: Das Rederecht muss nicht nur formell allen offenstehen, sondern auch in der gesellschaftlich-politischen Realität für breite Kreise zugänglich sein. – 3) Relevanz: Die Stimmenden müssen grundsätzlich bereit sein, ihre Meinung aufgrund der Landsgemeindedebatte noch anzupassen.
Im Folgenden wird untersucht, inwieweit diese drei Bedingungen im Fall der modernen Schweizer Landsgemeinden erfüllt sind.
Das formelle Rederecht an der Landsgemeinde
In der Regel kennen die Landsgemeinden ein freies und gleiches Rederecht, allerdings gibt es Einschränkungen. Sowohl Glarus als auch Appenzell Innerrhoden garantieren allen Stimmberechtigten ein freies Rederecht zu allen Sachvorlagen, erlauben aber keine Landsgemeindereden zu den Wahlgeschäften (die den kleineren Teil der Landsgemeindeabstimmungen ausmachen). Das mag eine Sicherung gegen persönliche Auseinandersetzungen und Schlammschlachten vor versammelter Stimmbürgerschaft sein, verhindert aber auch eine Nutzung der diskutierten Vorteile der Versammlungsdemokratie für die Meinungsbildung zu Wahlen. Dass es auch anders geht, zeigten Nidwalden und Obwalden, die bis zur Abschaffung ihrer Landsgemeinden in den 1990er Jahren auch zu Wahlgeschäften das freie Rederecht kannten. Ganz anders der dritte Kanton, der in den 1990er Jahren die Landsgemeinde abschaffte: Appenzell Ausserrhoden liess an der Landsgemeinde überhaupt keine Debatte zu, weder zu Sach- noch zu Wahltraktanden.
Mit Blick auf die Gewährung des formellen Rederechts nutzen die Schweizer Landsgemeinden ihr grosses Potenzial für eine demokratischere Meinungsbildung also nicht vollständig, aber immerhin mehrheitlich.
Tatsächliche Zugänglichkeit des Rederechts
In jenen Fällen, wo ein Rederecht formell besteht, stellt sich die Frage nach der effektiven Zugänglichkeit dieses Rechts. Zunächst zeigt ein Blick auf die Gesamtzahl an Reden, die an den Landsgemeinden gehalten werden, dass das Rederecht durchaus nicht nur auf dem Papier besteht, sondern insbesondere in Glarus rege genutzt wird: Dort wurden seit 1979 durchschnittlich über 25 Reden pro Landsgemeinde gehalten (das sind mehr als zwei Reden pro Abstimmungsvorlage), in Innerrhoden immerhin fast fünf Reden pro Jahr (durchschnittlich rund 0,5 Reden pro Vorlage).
Doch wer sind die Leute, die sich zu Wort melden? Auch wenn das Halten einer Rede gratis ist und nicht unbedingt ein spezielles Beziehungsnetz voraussetzt, gibt es Faktoren, die die Bereitschaft zu einem Auftritt vor Tausenden Mitbürgern begünstigen dürften: beispielsweise Selbstvertrauen, politische Informiertheit oder die Lust an dieser Art öffentlicher Auseinandersetzung. Führt das dazu, dass auch über den Kommunikationskanal der Landsgemeindedebatte nur ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen zu Wort kommen und andere faktisch ausgeschlossen bleiben? Die wenigen verfügbaren Daten führen zu gemischten Schlussfolgerungen. Sowohl in Glarus als auch in Innerrhoden kommt rund die Hälfte aller Reden von Stimmberechtigten, die kein politisches Amt im Kanton innehaben. Insofern schafft die Landsgemeinde durchaus einen erweiterten Kreis von Personen, die zu Wort kommen.
Frappant ist allerdings die Untervertretung der Frauen auf der Rednerbühne: In beiden Kantonen wird nicht einmal jede fünfte Landsgemeinderede von einer Frau gehalten, und der Trend zeigt nur sehr zaghaft nach oben. Eine aktuelle Umfrage unter Glarner Stimmberechtigten (siehe Infobox) zeigt zudem: Nur 15% der 428 weiblichen Umfrageteilnehmerinnen, die noch nie eine Landsgemeinderede gehalten haben, können sich vorstellen, dies in Zukunft einmal zu tun; bei den Männern sind es immerhin 36% der 545 Befragten.
Für andere soziodemographische Variablen als das Geschlecht gibt es keine Daten, wer effektiv schon eine Landsgemeinderede gehalten hat. Die erwähnte Umfrage zeigt aber, dass Glarner Stimmberechtigte aller Altersgruppen sich ähnlich gut vorstellen können, je an einer Landsgemeinde das Wort zu ergreifen. Personen mit geringerem Einkommen und solche mit niedrigerem Bildungsabschluss trauen sich einen Landsgemeindeauftritt zwar tendenziell weniger zu, der Rückstand auf Gutverdienende und Gutgebildete ist aber recht gering; es ist deshalb durchaus denkbar, dass Wenigverdienende und Weniggebildete an der Landsgemeinde zumindest weniger stark benachteiligt sind als bei Urnenabstimmungen. Mangels Vergleichsdaten zur Zugänglichkeit von klassischen Kanälen des Abstimmungskampfs nach Bildung und Einkommen muss diese These hier jedoch offen bleiben.
Es lässt sich bilanzieren, dass die Schweizer Landsgemeinden als zusätzliche Plattform für eine öffentliche Debatte unter den Stimmberechtigten durchaus genutzt werden. Sie sorgen erfolgreich dafür, dass auch Leute ohne politisches Amt und Junge mit ihren Argumenten zu Wort kommen. Allerdings profitieren Frauen viel weniger stark von dieser Plattform, tendenziell auch Wenigverdienende und Weniggebildete.
Relevanz der Landsgemeindedebatte
Doch spielt es überhaupt eine Rolle für die Meinungsbildung, wer in der Landsgemeindedebatte was sagt? Hören die Abstimmenden den Reden zu, und beeinflussen diese den Stimmentscheid? Eine empirische Überprüfung dieser Fragen ist naturgemäss sehr schwierig, zumal sich schwer testen lässt, welchen Entscheid eine Person ohne Landsgemeindedebatte gefällt hätte. Die neue Glarner Umfrage liefert aber zumindest Anhaltspunkte.
Befragt nach der Wichtigkeit verschiedener Informationsquellen zur Bildung ihrer Meinung für Landsgemeindevorlagen, gaben 58% der Umfrageteilnehmer (N=650) an, die Landsgemeindereden seien für sie “eher wichtig” oder “sehr wichtig”. Die Landsgemeindedebatte wurde damit von ebenso vielen Personen als wichtig eingestuft wie die Zeitungslektüre. Zwar wurden das behördliche Abstimmungsbüchlein sowie Diskussionen im Bekanntenkreis noch etwas häufiger (von je rund 69%) genannt, dies ändert aber nichts am Fazit, dass in der Selbstwahrnehmung der Stimmberechtigten die Landsgemeindereden eine ganz erhebliche Rolle für die Meinungsbildung spielen.
Diese Einschätzung bestätigt sich bei einem Blick auf weitere Umfrageergebnisse, die sich auf die Meinungsbildung zu zwei Sachvorlagen der Landsgemeinde 2016 beziehen, welche sowohl im Vorfeld der Landsgemeinde als auch an dieser kontrovers diskutiert wurden (siehe Infobox zu den Vorlagen und Tabelle 1 zu den Ergebnissen): Bei beiden Geschäften gab knapp ein Drittel der befragten Landsgemeindeteilnehmer an, sich erst während der Landsgemeinde für eine Position entschieden zu haben. Noch konkreter zeigt sich der Mehrwert der Landsgemeindeberatung für die Meinungsbildung daran, dass bei beiden Geschäften über 60% der Befragten durch die Landsgemeindereden Argumente hörten, die ihnen vorher noch nicht bekannt gewesen waren. Neue Argumente hörten sie sowohl von jener Seite, welcher sie schon vor der Landsgemeinde zuneigten, als auch (in etwas geringerem Mass, aber immer noch für 45% der Befragten beim Personalgesetz und für 64% beim Informatikgesetz) von der jeweiligen Gegenseite. Diese hohen Werte implizieren auch, dass den Landsgemeinderednern durchaus zugehört wird, und zwar sowohl von Gleichgesinnten als auch von Andersgesinnten.
Tabelle 1: Meinungsbildung zu zwei Vorlagen an der Glarner Landsgemeinde 2016
Ein weiteres Umfrageergebnis zeigt, dass die versammelten Stimmberechtigten mithin auch bereit sind, ihre Meinung an der Landsgemeinde noch zu ändern. So änderten beim Personalgesetz 14% und beim Informatikgesetz 12% der Befragten im Lauf der Landsgemeinde ihre Präferenz; selbst von jenen, die angaben, eigentlich schon mit einer festen Meinung an die Landsgemeinde gekommen zu sein, schwenkten 5% bzw. 8% noch um. Auf den ersten Blick mögen diese Zahlen gering erscheinen; sie legen aber nahe, dass ein anfängliches Mehrheitsverhältnis von 40:60% an der Landsgemeinde noch umkehrbar ist, was durchaus beachtlich ist. Die Zahlen dürften in Wahrheit zudem noch höher sein, weil die politisch Interessierten und Informierten – die öfter eine feste Meinung haben – im Umfragesample überrepräsentiert sind.
Aus den präsentierten Umfrageergebnissen kann zwar nicht einfach und prozentgenau auf die Meinungsbildung an Landsgemeinden generell geschlossen werden, da sie sich auf ein nichtrepräsentatives Sample von Stimmberechtigten stützen und zwei überdurchschnittlich umstrittene Abstimmungsvorlagen betreffen. Sie sind aber ein weiteres Puzzleteil, das in dieselbe Richtung weist wie die Schätzungen und die anekdotische Evidenz aus der bisherigen Landsgemeindeforschung: Sie unterstreichen, dass auch in einem Landsgemeindekanton die Meinungsbildung – natürlich – nicht ausschliesslich an der Landsgemeinde stattfindet; bei Vorlagen, zu denen vor der Landsgemeinde nicht bereits überdeutliche Mehrheitsverhältnisse bestehen, kann die Landsgemeindedebatte indessen durchaus die entscheidende Rolle spielen.
Fazit: ein Ja und einige Aber
Gelingt Meinungsbildung an der Landsgemeinde besser als an der Urne? Die Antwort lautet „Ja, aber“. Zwar sind die Landsgemeinden kein demokratisches Wundermittel. Sie schöpfen ihr theoretisches Potenzial für eine ausgewogene Information der Stimmenden bei der Gewährung des Rederechts, dessen tatsächlicher Zugänglichkeit sowie der Relevanz der Landsgemeindedebatte nicht vollständig aus, aber doch zu nennenswerten Teilen. Bedenkt man, dass in Landsgemeindekantonen alle Kanäle der Meinungsbildung, die im Urnensystem vorhanden sind, ebenfalls offenstehen, so reicht bereits die teilweise Nutzung des demokratischen Potenzials, um das Glas halb voll erscheinen zu lassen – mit einer wesentlichen Einschränkung: Die ausgeprägte Untervertretung von Frauen unter den Landsgemeinderednern bedeutet, dass diese zusätzliche Bühne mit Blick auf die Geschlechter zusätzliche Ungleichheit in den Abstimmungskampf trägt.
Ein anderes potenzielles Risiko des Versammlungssystems für die Meinungsbildung ist hier mangels neuer Daten nicht beleuchtet worden, nämlich die These, dass Versammlungsentscheide stärker von Demagogie und Emotionen – und weniger von nüchtern durchdachter Vernunft – geprägt seien als Urnenabstimmungen, weil die annähernde Gleichzeitigkeit von Meinungsbildung und Stimmabgabe zu einer Präferenzbildung aus dem Bauch heraus führen und zudem massenpsychologische Dynamiken die Versammlung erfassen könnten. Allerdings hat die bisherige Landsgemeindeforschung praktisch keine empirische Evidenz zugunsten dieser These, sondern mehr Gegenevidenz zu Tage gefördert.
Das alles heisst freilich nicht, dass die Landsgemeinde insgesamt demokratischer als die Urne sei. Weitet man den Blick auf andere Demokratieaspekte als die Meinungsbildung aus, erkennt man nebst weiteren Stärken auch wichtige Schwächen des Versammlungssystems. Eine Gesamtbilanz hängt letztlich davon ab, wie stark man welche Aspekte gewichtet.
Unter anderem wurde die Meinungsbildung zu zwei Sachgeschäften der Landsgemeinde 2016 erfragt: einerseits zum Personalgesetz, das den Vaterschaftsurlaub für das Kantonspersonal neu regelte, andererseits zum Informatikgesetz, welches eine Neuorganisation der Informatik von Kanton und Gemeinden vorsah. Beide Geschäfte waren sowohl vor als auch an der Landsgemeinde umstritten. Zum Informatikgesetz wurden zwölf Reden gehalten, schliesslich beschloss die Landsgemeinde knapp Rückweisung des Gesetzes. Zum Personalgesetz äusserten sich sechs Votanten; während die eine Seite wie die Parlamentsmehrheit einen Vaterschaftsurlaub von zwei Tagen empfahl, setzten sich andere Redner für fünf Tage ein. Die Landsgemeinde entschied sich schliesslich knapp für fünf Tage.
Hinweise:
- Für zusätzliche Angaben zur Umfrage siehe Mueller, Sean / Gerber, Marlène / Schaub, Hans-Peter (2016): Now You See Me – And I See You. Paper presented at the ECPR General Conference, Prague, 7-10 September 2016.
- Weitere Grundlagen für den Beitrag sind der Dissertation des Autors entnommen, die auch Hinweise auf weiterführende Literatur enthält: Schaub, Hans-Peter (2016): Landsgemeinde oder Urne – was ist demokratischer? Baden-Baden: Nomos.
Titelbild: Landsgemeinde Glarus, aufgenommen von Samuel Trümpy (CC-BY)