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Angst vor Machtverlust verhindert Gemeindefusionen

Michael A. Strebel
18th August 2016

Trotz Personalmangel und steigendem Arbeitsaufwand sind Gemeindefusionen in der Schweiz nach wie vor die Ausnahme. Ein Grund dafür dürfte die Angst vor einem Verlust von Macht und Autonomie sein. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Gemeindefusionen im Kanton Freiburg. 

Seit den 1960er-Jahren werden Gemeinden generell immer grösser. In Europa sind Schweden, Dänemark, und Grossbritannien die Vorreiter in dieser Entwicklung. Die Regierungen dieser Länder haben Gemeindefusionen „von oben herab“ eingeleitet und die Gemeindelandschaft dadurch umfassend reformiert. In anderen europäischen Ländern, die keinen solchen Fusionszwang kennen, ist die Gemeindelandschaft nach wie vor stark fragmentiert. Zu diesen Ländern gehört auch die Schweiz.[1]

Weshalb Gemeinden ungern fusionieren…

Die Fragmentierung der Gemeindelandschaft in den Schweizer Kantonen stellt zusehends ein Problem dar. Für die Gemeinden wird es immer schwieriger, geeignetes Personal zu rekrutieren und gleichzeitig die steigenden administrativen Anforderungen zu bewältigen. Dennoch sind fusionierende Gemeinden in der Schweiz nach wie vor die Ausnahme. Das ist durchaus verständlich, denn für die Gemeinden und deren Akteure (Bürgerinnen und Bürger, gewählte Repräsentanten und Gemeindeverwaltung) haben Fusionen schwerwiegende Konsequenzen. So bedeutet eine Fusion nämlich unter anderem:

  • Die Entscheidungsmacht über kommunale Angelegenheiten zu teilen

  • Lokale Ressourcen zu teilen

  • Unabhängigkeit und Autonomie aufzugeben

  • Lokale Identität und Eigenheiten auf die Probe zu stellen

Angesichts dieser Liste von möglichen Vorbehalten stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Gemeinden dennoch freiwillig fusionieren?

…und weshalb sie es manchmal doch tun

Fusionen haben auch Vorteile. Zum einen haben verschiedene Kantone finanzielle Anreizsysteme eingeführt und unterstützen fusionierende Gemeinden mit einem einmaligen Beitrag. Dies ermöglicht Entschuldungen, Steuersenkungen oder Infrastrukturprojekte. Zum anderen stehen gerade kleine und finanzschwache Gemeinden unter starkem strukturellem Druck – oben erwähnte Herausforderungen wie Personalmangel und Überforderung mit kommunalen Aufgaben kommen vor allem in diesen Gemeinden zum Tragen. Eine Fusion kann hier Abhilfe schaffen, indem sie die Kosten für die Bereitstellung kommunaler Dienstleistungen senkt und die Anzahl der zu besetzenden Ämter pro Kopf reduziert.

Die Fusionswelle im Kanton Freiburg

Der Kanton Freiburg gehört bei freiwilligen Gemeindefusionen zu den absoluten Vorreitern in Europa. Schon seit den 1970er-Jahren fanden im Kanton wiederholt Gemeindefusionen statt. Zwischen 2000 und 2006 hat der Kanton den Prozess beschleunigt und Fusionen gezielt mit finanziellen Anreizen gefördert.

Abbildung 1:

Graph 1

Von den 245 Gemeinden, die Ende 1999 existierten, hat über die Hälfte (135) einen Fusionsprozess gestartet und 40% aller Gemeinden (105) haben bis 2006 erfolgreich fusioniert. Diese grosse Zahl an Fusionen lässt sich durch den finanziellen Anreiz vonseiten des Kantons erklären. Es bleibt jedoch unklar, weshalb einige Gemeinden einen Fusionsprozess starteten und andere nicht und weshalb von diesen dann nur ein Teil fusionierte. Um dies zu erklären, empfiehlt es sich, Faktoren auf Gemeindeebene zu untersuchen.

INFOBOX: Gemeindefusionen

Freiwillige Gemeindefusionen beinhalten mehrere aufeinanderfolgende Schritte. In dieser Studie wurden zwei Stufen voneinander unterschieden:

  1. Eine vorbereitende Stufe, in welcher der Fusionsprozess gestartet wird. Hier werden Gemeinden danach unterschieden, ob sie an einem Fusionsprozess teilgenommen haben oder nicht.

  2. Eine Entscheidungsstufe, in welcher die Fusion Gegenstand einer Abstimmung an der Urne oder der Gemeindeversammlung ist. Hier werden die Gemeinden danach unterschieden, ob sie eine Fusion angenommen oder abgelehnt haben.

Frage nach Macht und Autonomie beeinflusst den Entscheid

Eine quantitative Analyse der Fusionswelle im Kanton Freiburg zwischen 2000 und 2006 zeigt, dass kleine und arme Gemeinden eher an einem Fusionsprozess teilnehmen. Der strukturelle Druck, der auf diesen Gemeinden lastet, scheint eine wichtige zusätzliche Motivation darzustellen, um auf den kantonalen Anreiz zu reagieren.

Wenn es hingegen darum geht, ob eine Fusion tatsächlich angenommen wird oder nicht, spielen diese strukturellen Faktoren eine geringere Rolle. Auf dieser Stufe kommen politische Faktoren wie Macht- und Autonomieverlust ins Spiel: So sind Bürgerinnen und Bürger eher bereit einer Gemeindefusion zuzustimmen, wenn ihre Gemeinde dabei den grösseren Partner darstellt, d.h. die andere Gemeinde "annektiert" wird. Dementsprechend kleiner ist die Wahrscheinlichkeit der Zustimmung bei Gemeinden, die mit einem grösseren Partner fusionieren, d.h. eingemeindet werden. 

Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass eine stark verankerte lokale Identität für eine Zustimmung hinderlich sein kann.

Ein Trade-Off zwischen strukturellem Druck und Autonomie?

Diese Resultate suggerieren, dass lokale politische Entscheidungsträger – die dominanten Akteure in der vorbereitenden Phase – vor allem funktionale Aspekte berücksichtigen. Die Bürgerinnen und Bürger – die dominanten Akteure in der Entscheidungsphase – stellen hingegen die politischen Faktoren ins Zentrum. Die Resultate deuten zudem auf einen möglichen Trade-Off zwischen funktionalen und politischen Faktoren in der Entscheidungsstufe hin: Aus der Abbildung wird ersichtlich, dass die Wahrscheinlichkeit einer positiven Abstimmungsentscheidung sinkt, je grösser eine Gemeinde ist.

Abbildung 2:

Graph 2

Dies ist jedoch nur der Fall in jenen Gemeinden, die eingemeindet würden. Für Gemeinden, die kleinere Gemeinden annektieren, ist die Zustimmungswahrscheinlichkeit nicht an die Grösse gekoppelt. Dieses Ergebnis deutet auf einen möglichen Trade-Off hin: Wenn eine Gemeinde zu klein ist, kann sie es sich ganz einfach nicht leisten eine eigenständige Akteurin zu bleiben – auch wenn eine Fusion einen dramatischen Machtverlust bedeuten kann. Erst ab einer gewissen Grösse kann eine Gemeinde sich den „Luxus“ politischer Autonomie leisten. Die Bürgerinnen und Bürger scheinen diesen Zielkonflikt zu antizipieren und verschiedene Faktoren sorgfältig gegeneinander abzuwägen.

Freiwillige Fusionen – Differenzierte Prozesse

In der öffentlichen Debatte werden Gemeindefusionen oft im Spannungsfeld zwischen „rationalen“ Argumenten (bspw. Kosten- und Personaleinsparungen) für eine Fusion und „emotionalen“ Argumenten (bspw. lokale Identität und lokales Autonomiebedürfnis) gegen eine Fusion diskutiert. Die Studie zeigt, dass Faktoren von beiden Polen eine Rolle spielen. Gleichzeitig scheint es aber wichtig, verschiedene Etappen einer Fusion zu unterscheiden, da unterschiedliche Akteure eine dominierende Rolle spielen im Verlauf eines Fusionsprozesses. Bürgerinnen und Bürger scheinen dabei verschiedene Argumente differenziert gegeneinander abzuwägen – ein ermutigendes Zeichen für die Praxis der freiwilligen Fusion.

Hinweis: Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von Strebel, Michael A. (2016): Incented Voluntary Municipal Mergers as a Two-Stage Process: Evidence from the Swiss Canton of Fribourg. Urban Affairs Review DOI: 10.1177/1078087416651935.

[1] Einige Schweizer Kantone (bspw. BE, GR, TI, VS) haben sich jedoch in jüngerer Zeit explizit das Recht, Zwangsfusionen zu vollstrecken, gegeben und dieses Recht wurde von einigen Kantonen auch in Anspruch genommen (TI, VS).


Titelbild: Die ehemalige politische Gemeinde Chapelle (Broye) im Kanton Freiburg wurde am 1. Januar 2005 nach Cheiry eingemeindet. Quelle: Wikimedia Commons

Grafiken, Layout und Lektorat: Pascal Burkhard