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Abstimmungsdemokratie – eine Herrschaft der Alten?

Thomas Milic
11th Juli 2016

Wie in Grossbritannien so in der Schweiz: Die ältere Generation geht viel fleissiger an die Urne und überstimmt die Jungen, sei es beim Brexit oder bei der Masseneinwanderungsinitiative. So zumindest die gängige Meinung. Doch stimmt das überhaupt? Meine Analyse zeigt: So pauschal ausgedrückt, ist das falsch. Es gibt keinen generellen Generationenkonflikt in der Schweiz.

Der Schweiz droht eine Gerontokratie. Diese Befürchtung erhielt jüngst neue Nahrung und zwar nicht etwa durch ein Schweizer Abstimmungsergebnis, sondern durch ein britisches Votum: Eine Wahltagsbefragung (exit poll) zum britischen EU-Referendum ergab, dass sich junge Britinnen und Briten deutlich zugunsten eines Verbleibs ihres Landes in der EU entschieden haben, während ältere Stimmberechtigte ebenso klar dagegen stimmten.

Die Medien und viele politische Beobachter waren sich rasch darin einig, wie dieses Umfrageresultat zu deuten ist: In einer Abstimmungsdemokratie verbauen die Alten den Jungen die Zukunft. Die Schweiz, so war mancherorts weiter zu lesen, sei hierfür ein gutes Beispiel. Auch in unserem Land würden die Alten die Jungen bei Sachabstimmungen regelmässig überstimmen.

Mehrere Wahlrechtsreformen wurden vorgeschlagen, um die ungleichen Stimmenverhältnisse zwischen Jung und Alt wieder ins Lot zu bringen. Diese reichen von einem stellvertretenden Stimmrecht von Eltern für ihre noch unmündigen Kinder bis zu einer Art Neuauflage des Dreiklassen- oder Zensuswahlrechts, heuer aber nicht mehr nach Vermögen, sondern nach Bildung (oder anderen Kriterien) abgestuft.

Im vorliegenden Beitrag geht es nicht um die Frage der Wahlrechtsgerechtigkeit, aber um die empirische Grundlage, auf der diese Reformforderungen für gewöhnlich aufbauen: Der Altersgraben bei Schweizer Sachabstimmungen. Die entscheidende Frage lautet nämlich: Stimmt es denn überhaupt, dass hierzulande die Alten die Jungen systematisch überstimmen?

Ältere gehen fleissiger an die Urne als Jüngere

In der Regel wird dabei auf die steigende Überalterung der Gesellschaft verwiesen. Zweifellos bilden die älteren Stimmberechtigten jetzt schon eine Macht bei Sachabstimmungen. Ihr Einfluss ist in Wahrheit sogar noch stärker als ihre zahlenmässige Vertretung im Elektorat glauben lässt. Denn ältere Stimmberechtigte sind im Gegensatz zu den Jungen äusserst fleissige Urnengänger.

Stimmregisterdaten aus Genf und der Stadt St. Gallen belegen dies[1]. Hinzu kommt, dass die Zahl der Rentner und Rentnerinnen zunimmt. Im Jahr 2035, so eine Extrapolation von Avenir Suisse, wird das Medianalter der Abstimmenden über 60 Jahre betragen. Doch reichen die «nackten» Stimmberechtigten- und Stimmendenzahlen aus, um von einer Herrschaft der Alten sprechen zu können?

Es gibt viele strukturelle oder wertbasierte Mehr- und Minderheiten in der Schweiz. Beispielsweise gibt es im Elektorat mehr Frauen als Männer (z.B. in der Stadt Bern), mehr Erwerbstätige als Nicht-Erwerbstätige, mehr Deutschschweizer als Französischsprachige – die Aufzählung liesse sich beliebig fortsetzen. Und trotzdem ist nicht (oder höchst selten) von einer Herrschaft der Frauen, Erwerbstätigen oder Deutschschweizer die Rede. Das liegt unter anderem auch daran, dass bei Sachabstimmungen die verschiedenen Konfliktlinien oftmals quer zueinander verlaufen und sich Sieger und Verlierer in der Regel abwechseln.

Alte sind keineswegs immer alle der gleichen Meinung

Hinzu kommt: «Alte» und «Junge» sind - was Lebensumstände, Interessen und Präferenzen angeht - keine «monolithischen Blöcke»: Es gibt unter den Senioren beispielsweise Vermögende, aber auch Personen, die am Existenzminimum leben, kinderlose wie auch kinderreiche Senioren, Frauen wie Männer, etc. Mit anderen Worten: Nur weil man in etwa gleich alt ist, gibt es noch lange keine Garantie, dass man bei allen Sachfragen übereinstimmt. Deshalb muss die Frage nicht lauten, ob es mehr Alte als Junge gibt (zumal sich diese Frage mit Statistiken einfach beantworten lässt), sondern ob die Alten die Jungen auch tatsächlich systematisch überstimmen.

Zur Beantwortung dieser Frage gibt es eine Fülle von Daten. Denn in den Vox-Nachbefragungen wird das Stimmverhalten stets auch nach Altersgruppen erhoben. Unproblematisch sind diese Daten aus wissenschaftlicher Sicht indes nicht. Denn es handelt sich dabei – gleich wie bei der eingangs erwähnten Brexit-Wahltagsstudie – um Umfragedaten.

Umfragedaten sind stets mit einem Zufallsfehler behaftet. Bei zahlenmässig kleinen Merkmalsgruppen wie den jungen Stimmberechtigten kann dieser Stichprobenfehler gut und gerne zehn bis fünfzehn Prozentpunkte betragen. Trotzdem wurden nachfolgend Punktschätzungen ausgewiesen. Diese sind, wie gesagt, nur begrenzt aussagekräftig. Aber immerhin handelt es sich um Daten und nicht bloss um Mutmassungen. In der Methodenbox (siehe unten) wurden überdies unter Berücksichtigung der vorlagenspezifischen Stichprobenfehler die maximalen Differenzen zwischen Jung und Alt geschätzt, um die Robustheit der Ergebnisse zu überprüfen.

Meinungsverschiedenheiten zwischen Alt und Jung 

Vergleicht man die Mehrheitsverhältnisse in der jüngsten Altersgruppe (18-29-Jährigen) mit denjenigen in der ältesten Altersgruppe (70 Jahre und älter)[2], so unterschieden sich diese bei rund einem Viertel (26%) aller Abstimmungen zwischen 2000 und 2015. Das bedeutet nun keineswegs, dass bei den restlichen Abstimmungen zwischen Alt und Jung alles in Minne ist:

Abbildung 1:

Graph 1

Die in der Abbildung ausgewiesenen Balken stehen für die Differenz in Prozentpunkten zwischen dem Entscheid der Jungen und demjenigen der Alten. Diese Differenzen sind teils erheblich.[3] Aber, wie gesagt, nur bei rund einem Viertel aller Abstimmungen klaffen die Mehrheiten gemäss Vox-Erhebung auseinander.[4] Überdies fällt auf, dass die «Meinungsverschiedenheiten» zwischen Jung und Alt in letzter Zeit nicht etwa zu-, sondern eher abgenommen haben.

Bei welchen Sachgeschäften ist ein Generationengraben zu beobachten? Und wer wird häufiger «überstimmt» – die Jungen oder die Alten? Tatsächlich sind es die älteren Stimmberechtigten, die häufiger die Oberhand behalten. In jenen 35 Abstimmungen, bei welchen sich die Mehrheiten von Jung und Alt uneinig waren, gehörten die letzteren 24 Mal der Siegerseite an.[5]

Ob sie auch tatsächlich das Zünglein an der Waage waren, welches das Abstimmungsresultat zum Kippen brachte, ist wiederum eine andere Frage. «Überstimmen» bedeutet strenggenommen, dass eine Abstimmung ohne den gegenteiligen Entscheid der betreffenden Merkmalsgruppe anders ausgegangen wäre. Dies zu eruieren, ist aufgrund des hohen Unschärfebereiches von Umfragewerten zur Beteiligung[6] allerdings ein noch viel grösseres Wagnis als die vorliegende Untersuchung.

Aufgrund des Befundes ist aber anzunehmen, dass die Jungen öfter zu den Abstimmungsverlierern gehören, weil ihr Entscheid sich stärker vom «Medianentscheid» der restlichen Teilnehmenden unterscheidet als jener der Alten. Mit anderen Worten: Die Jungen stimmen «extremer» als die Alten.[7] Sie liegen darum öfter im Clinch mit den restlichen Altersgruppen als die über 69-Jährigen. Deshalb gehören die jüngeren Stimmbürger auch öfter zu den Verlieren als die Senioren und Seniorinnen.

Generationenkonflikt bei gesellschaftspolitischen Fragen 
Abbildung 2:

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Bei welchen Themen scheiden sich die Geister von Jung und Alt? Überraschenderweise gehören sozialpolitische Themen im Generellen und «klassische» Rentenfragen im Speziellen eher selten dazu (Ausnahmen: Rentenalter 62, 5. IV-Revision und AVIG). Aufgrund der unterschiedlichen materiellen Interessenlagen hätte man bei diesen Sachfragen am ehesten einen fundamentalen Generationenkonflikt erwarten können.

Extreme Meinungsverschiedenheiten zwischen Jung und Alt sind hingegen bei gesellschaftspolitischen Fragen zu erkennen, etwa bei den Abstimmungen über das Partnerschaftsgesetz, der Hanfinitiative, der Waffenschutzinitiative und der Mutterschaftsversicherung. Aber nicht immer unterlagen dabei die Jungen: Beim Partnerschaftsgesetz und der Mutterschaftsversicherung[8] konnten sie beispielsweise einen Abstimmungserfolg bejubeln, ebenso beim Gripen-Referendum: Es waren die Jungen, die ihn massgeblich zum «Absturz» brachten.

Abbildung 3:

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Auch bei Fragen der Ausländer- und Europapolitik gibt es immer wieder Unterschiede. Die Brexit-Erfahrung ist für Schweizer Jugendliche (und Junggebliebene) demnach nichts Aussergewöhnliches. Junge stehen freilich nicht notwendigerweise stärker für eine Öffnung ein als die ältesten Stimmberechtigten: Das Osthilfegesetz, die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit (2009) sowie die biometrischen Pässe wurden gemäss Vox-Erhebung von den Jungen abgelehnt (z.T. allerdings sehr knapp, womit Aussagen über Mehrheitsverhältnisse nach wissenschaftlichen Standards nicht mehr möglich sind), von den über 69-Jährigen jedoch knapp angenommen.

Nochmals: Aufgrund des hohen Stichprobenfehlers bei den jungen Stimmenden (siehe Abbildung unten) sind gerade bei diesen hochemotionalen Abstimmungen leider keine exakten Aussagen zu den Mehrheitsverhältnissen möglich. Aber immerhin scheinen Jung und Alt bei diesen Fragen nicht allzu weit und möglicherweise noch nicht einmal in der allenthalben vermuteten Richtung auseinanderzuliegen.

Bei der Minarettverbotsinitiative, der Asylinitiative, den Bewaffnungsvorlagen und der erleichterten Einbürgerung werden die allseits gehegten Erwartungen indessen bestätigt: Junge hiessen die Referenden jeweils gut und lehnten die entsprechenden SVP-Initiativen ab – im Gegensatz zu den Alten, die genau umgekehrt votierten.

Abbildung 4:

Graph 4

Im grossen Ganzen ist man sich einig - auch wenn es sich anders anfühlt

Wie fällt die empirische Bilanz zur Generationenfrage bei Sachabstimmungen in der Schweiz aus? Junge und Alte stimmen häufig(er) im Einklang als gemeinhin angenommen wird. Generationenkonflikte sind (glücklicherweise) eher selten auszumachen. Andere Konflikte – zum Beispiel derjenige zwischen Verlierer und Gewinner der Globalisierung (und diese gibt es in allen Altersgruppen) – sind wahrscheinlich massgeblicher.

Aber es gibt durchaus altersabhängige Unterschiede im Stimmverhalten. Zudem traten sie bei einigen, sehr wichtigen bzw. hoch emotionalen Abstimmungsfragen zu Tage. Unterliegt man aber bei solchen Vorlagen, so zählt die Erfahrung einer solchen Abstimmungsniederlage verständlicherweise gleich doppelt oder dreifach. Dadurch wird das Gefühl des Überstimmens verstärkt, was in der Empirie – über alle Vorlagen hinweg – jedoch eher selten vorkommt.  

Informationen zur Methodik
Alle präsentierten Werte sind Umfragewerte. Üblicherweise wird bei Umfragewerten das 95%-Konfidenzintervall angegeben. Um die Robustheit der obigen Ergebnisse zu überprüfen, wurde unter Einschluss ebendieses Stichprobenfehlers die «maximale Differenz» zwischen Jung und Alt ermittelt (siehe Abbildung unten). «Maximal» bedeutet, dass die Differenz zwischen dem jeweils kleineren Wert abzüglich dem entsprechenden Stichprobenfehler und dem grösseren Wert plus Stichprobenfehler errechnet wurde. Nimmt man diese maximale Differenz als Massstab, unterscheiden sich Alt und Jung in 59 Prozent der untersuchten Abstimmungen. Das ist ein erheblich höherer Wert als die zuvor ausgewiesenen 26 Prozent. Indes, es ist dabei zu bedenken, dass ein solches Szenario über alle 135 untersuchten Vorlagen hinweg extrem unwahrscheinlich ist. Die maximale Differenz bei einer einzelnen Abstimmung hat bereits eine ziemlich geringe Wahrscheinlichkeit von 0.025². Aber damit sich das untere Muster ergibt, müsste sich das oben für eine einzelne Abstimmung geschilderte Szenario – vgl. dazu das Prinzip eines mehrstufigen Zufallsversuches – für alle 135 untersuchten Vorlagen wiederholen. Mit anderen Worten: Der reale Anteil an Abstimmungen mit unterschiedlichen Mehrheiten dürfte deutlich näher an den 26 Prozent (allenfalls gar darunter) als am Maximalwert von 59 Prozent liegen.

Abbildung 5:

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[1] z.B.: Dermont, Clau (2016). Taking Turns at the Ballot Box: Selective Participation as a New Perspective on Low Turnout. Swiss Political Science Review 22(2): 213-231.

[2] Wer zu den «Jungen» und wer zu den «Alten» gehört, ist selbstverständlich auch eine Definitionssache. Im Prinzip wäre bei den Jungen (etwa eine Kategorie der 18-24-Jährigen) wie auch bei den Alten eine andere Klassifikation (z.B. über 65-Jährige) denkbar gewesen. Bei den Jungen war dies aus forschungspraktischen Gründen nicht möglich. Die Fallzahl der 18-24-Jährigen ist in den Vox-Erhebungen viel zu gering, um verlässliche Aussagen machen zu können. Bei den älteren Stimmberechtigten hingegen fallen die Resultate zwischen den 60-69-Jährigen und den über 69-Jährigen sehr ähnlich aus: Die Mehrheitsverhältnisse unterscheiden sich zwischen diesen beiden Altersgruppen nur in zwölf der 135 untersuchten Fällen.

[3] Ein gutes Beispiel dafür ist die KOSA-Initiative: Sie forderte, dass ein Teil der Nationalbankgewinne in die AHV fliessen soll – demnach ein Thema, bei dem unterschiedliche, altersspezifische Interessen tangiert wurden. Sowohl die Jungen (18-29-Jährigen) wie auch die über 69-Jährigen lehnten die KOSA-Initiative indes ab. Allerdings: Während die Jungen die Initiative massiv ablehnten (74% Nein), stiess das Begehren bei den über 69-Jährigen auf deutlich mehr Sympathie (46% Ja). Aber, wie gesagt, beide Altersgruppen verwarfen das Begehren am Ende mehrheitlich. Im Übrigen: Die 50-59-Jährigen nahmen die KOSA-Initiative hingegen knapp an. Genau sie hätten von dieser mittelfristigen Teillösung für die AHV auch am ehesten profitiert. Das Beispiel zeigt deshalb auch, dass eine simple Gegenüberstellung von «Alt» und «Jung» selbst bei Renten-Abstimmungen oftmals «unterkomplex» ist.

[4] Ja-Anteile von exakt 50 Prozent (etwa bei der MEI, die im Vox-Sample von den über 69-Jährigen mit genau 50% angenommen (bzw. abgelehnt) wurde), wurden zur Kategorie der «gleichen Mehrheiten» gezählt.

[5] Beim Familienartikel (2013) gehörten die Jungen der Volksmehrheit an. Allerdings scheiterte der Verfassungsartikel am Ständemehr.

[6] Um diesen "Kippeffekt" einer bestimmten Merkmalsgruppe (etwa der 18-29-Jährigen) zu ermitteln, müssten die Beteiligungszahlen der Altersgruppen hinzugezogen werden. Die Beteiligungswerte wiederum werden in Umfragen generell überschätzt und dies oft in erheblichem Ausmasse.

[7] Ihr Entscheid liegt im Schnitt 8.1 Prozentpunkte vom Entscheid der Gesamtheit entfernt, während dieser Wert für die über 69-Jährigen 6.3 Prozentpunkte beträgt.

[8] Bei der MSV war es im Übrigen so, dass die Jungen 1999 noch zu den Verlierern zählten (sie stimmten schon damals überwiegend für eine Annahme), 2004 jedoch «mit Hilfe» der anderen Altersgruppen den negativen Entscheid der Senioren zu «überstimmten» vermochten.


Titelbild: Pixabay

Lektorat: Sarah Bütikofer

Grafiken: Pascal Burkhard