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Was man über die Eurokrise wissen muss

Mark Copelovitch, Jeffry Frieden, Stefanie Walter
14th Juni 2016

Die Eurokrise ist die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte der Europäischen Union und hat eine schwerwiegende politische Krise ausgelöst: Konflikte sowohl innerhalb als auch zwischen den EU-Mitgliedstaaten bedrohen die politische Stabilität und die europäische Integration als Ganzes. Wie kommt die Eurozone aus der Sackgasse? Führende Politökonomen erklären, was man über die Eurokrise wissen muss.

Erstens: Die Eurokrise ähnelt anderen Zahlungsbilanzkrisen

Die Eurokrise scheint auf den ersten Blick ungewöhnlich. Sie traf mit Irland, Spanien, Portugal und Griechenland vier Länder, die sich zwar die gleiche Währung teilen, sonst aber unterschiedlich sind. Andere Länder, die ebenfalls der Eurozone angehören und die gleiche Währung haben, waren nicht betroffen. Trotz dieser besonderen Konstellation weist die Eurokrise einen ähnlichen Verlauf auf wie die vielen Zahlungsbilanzkrisen anderer Länder der letzten Jahrzehnte, zum Beispiel in Mexiko, Argentinien, Thailand oder den baltischen Staaten.

«Zahlungsbilanzkrisen verlaufen alle nach einem ähnlichen Muster: Die Bevölkerung oder die Regierung eines Staates verschulden sich stark im Ausland. Das heisst, sie nehmen ausländisches Geld auf, um damit im Heimatland ihren direkten Konsum zu finanzieren, während nachhaltige Investitionen in der Regel ausbleiben.»

Das führt in der Konsequenz zu Immobilienblasen oder steigenden Staatsausgaben. Gleichzeitig verliert die Exportwirtschaft zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit, was sich in steigenden Leistungsbilanzdefiziten spiegelt. Diese Entwicklung hat einen kurzfristigen Wirtschaftsboom zur Folge, der sich zunehmend zu einer wirtschaftlichen Blase entwickelt, bis die Blase schlussendlich platzt.

Die Eurozone weist einen ähnlichen Verlauf aus: Innerhalb der Eurozone flossen massive Kapitalströme vom Norden in die Peripherie. In manchen Ländern floss das Kapital mehrheitlich in den Privatsektor (vor allem in Irland und Spanien), in anderen Ländern in den Staatshaushalt (vor allem in Griechenland). Aber unabhängig davon führte der Kapitalzufluss in den meisten Peripheriestaaten der Eurozone zu einem Konjunkturaufschwung, der einen veritablen Boom auslöste und sich dann zu einer Blase entwickelte. Die globale Finanzkrise 2007-09 brachte diese Blase zum Platzen und löste die Eurokrise aus. Die Länder der Peripherie wurden mit Schuldenbergen zurückgelassen, die sie den nordeuropäischen Kreditoren nicht zurückbezahlen konnten. 

Wie in allen Zahlungsbilanzkrisen löste die Eurokrise erbitterte nationale und internationale Konflikte über die Frage aus, wie die Last der Anpassung innerhalb der Krisenstaaten und innerhalb der Eurozone verteilt werden sollte. Innerhalb der einzelnen Staaten hat die Eurokrise die Öffentlichkeit mobilisiert, politische Konflikte über Arbeitsmarktreformen und andere Massnahmen befeuert und die Unterstützung rechts- und linkspopulistischer Parteien verstärkt. Auf internationaler Ebene stritten (und streiten) sich Defizit- und Überschussstaaten über IMF/EU-Rettungsaktionen, eine Bankenunion und die Verteilung der Kosten der Krise zwischen den Staaten.

Zweitens: Durch die Währungsunion steht politisch viel mehr auf dem Spiel als bei anderen Zahlungsbilanzkrisen

Die Eurokrise hat zwar viele Ähnlichkeiten mit vergangenen Finanzkrisen, jedoch auch einen grossen Unterschied: Sie passiert im Kontext einer Währungsunion und im Kontext des europäischen Integrationsprozesses. Die typische Reaktion auf eine Zahlungsbilanzkrise – eine Abwertung des Wechselkurses – steht den Ländern der Eurozone nicht zur Verfügung, wenn sie den Euro beibehalten möchten. Ein Austritt einzelner Staaten aus der Eurozone könnte zudem weitreichende Folgen haben, weil die Unumkehrbarkeit und die Stabilität der Europäischen Währungsunion nachhaltig in Frage gestellt würde.

Die Eurokrise hat gleichzeitig zu hitzigen und grundlegenden Debatten über die Zukunft des Euros und der EU insgesamt geführt. Was bedeutet Solidarität in der Eurozone? Wie geht man mit der wachsenden Macht der Geberländer, insbesondere Deutschlands, um? Wieviel und welche Kompetenzen sollen an die europäische Ebene abgegeben werden, um die Europäische Währungsunion stabiler zu machen? Die Krise hat auch die Grenzen der Macht der supranationalen Institutionen auf EU-Ebene gezeigt und die Bedeutung von direkten Verhandlungen der Mitgliedsstaaten hervorgehoben. Gleichzeitig ist der Einfluss einzelner europäischer Institutionen, insbesondere der Europäischen Zentralbank, stark gewachsen.

Es überrascht zudem nicht, dass das schwierige und zum Teil ineffektive Management der Eurokrise auf allen Ebenen zu Debatten über die Zukunft der Europäischen Union und des Euros geführt hat. Die Diskussion möglicher “Grexit”- und “Brexit”-Szenarien ist nicht von ungefähr ein relativ junges Phänomen. Deshalb steht bei der Eurokrise auch die Zukunft der europäischen Integration auf dem Spiel.

Drittens: Die grundlegenden Probleme der Eurozone bleiben ungelöst und schwächen Europa

Die Eurokrise ist die Konsequenz der vorhersehbaren und vorhergesagten ökonomischen und politischen Problemen der Währungsunion, welche seit deren Gründung bestehen: Eine gemeinsame Geldpolitik für strukturell wie kulturell sehr unterschiedliche Länder bringt Schwierigkeiten mit sich, vor allem wenn es keinen Transfermechanismus zum Abfedern von wirtschaftlichen Problemen einzelner Mitgliedsstaaten gibt. Diese Probleme sind während der Eurokrise deutlich sichtbar geworden und können nicht mehr umgangen werden.

«Bereits in den Jahren vor der Einführung des Euros wurde deutlich, dass sich die Mitgliedstaaten der Währungsunion nicht auf die Art von politischen Massnahmen und Institutionen würden verständigen können, die nötig gewesen wären, um eine Krise wie die Eurokrise zu vermeiden. Eine gemeinsame Währung setzt in der Regel eine viel tiefere politische Integration voraus, als die, zu der die Staaten der Eurozone in den 1990er Jahren bereit waren.»

Mark Copelovitch, Jeffry Frieden, Stefanie Walter

Man glaubte, sich durch starre Regeln wie den Stabilitäts- und Wachstumspakt und die „No-Bailout-Klausel“ vor den Problemen einer wenig integrierten Währungsunion schützen zu können, ohne nationale Souveränität, zum Beispiel in Fragen der Fiskalpolitik,r an die supranationale Ebene abgeben zu müssen. In den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion machten innenpolitische Bedenken ein weitreichendes und tiefgehendes Abkommen zu diesem Zweck unmöglich. Dazu kam, dass die bestehenden Regeln nicht konsequent angewendet wurden. 

Die Eurozone steckt daher in einer Sackgasse: Makroökonomische Ungleichgewichte zwischen sowie die starke Opposition innerhalb der europäischen Staaten zur weiteren Integration bestehen fort. Europäische und nationale Politiker haben die Eurokrise bisher nur in kleinen Schritten und immer nur mit den minimal notwendigen Massnahmen bekämpft – zum Beispiel durch immer neue Bailout-Pakete, eine Bankenunion, die weniger umfangreich ausfällt als von Experten gefordert, oder eine Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Europa verfolgt damit eine Strategie des „Vorwärts-Scheiterns,“ bei dem immer nur die gerade politisch machbaren, nicht aber die wirklich notwendigen Reformen umgesetzt werden. Die grundlegenden Ursachen der Krise und der anhaltenden Probleme der Eurozone werden damit jedoch nicht beseitigt.

Das lässt für die europäische Währungsintegration nichts Gutes erahnen. Durch die anhaltende Krise bleiben nicht nur Europas Schuldenprobleme ungelöst, sondern sie verschärfen sich durch die stagnierende Wirtschaft in vielen Mitgliedsstaaten (ein Phänomen, das auch “säkulare Stagnation” genannt wird). Viele Mitgliedstaaten sehen sich mit der Aussicht von jahrelanger Deflation, Arbeitslosigkeit und Stagnation konfrontiert. Für die Zukunft Europas drohen nicht nur verlorene Jahrzehnte, sondern auch verlorene Generationen. Zusammen mit anderen Problemen wie der Flüchtlingskrise verstärkt dies den Erfolg von euroskeptischen und Anti-Euro-Parteien in ganz Europa.

Viertens: Für eine funktionierende Währungsunion sind eine koordinierte Fiskalpolitik und Finanzmarktregulierung unerlässlich

Damit die europäische Währungsunion richtig funktioniert, müsste ihre Architektur massgeblich verändert werden. Erstens bräuchte die Eurozone einen „Lender of Last Resort“, also eine Instanz, die bei Liquiditätsengpässen einzelner Staaten einspringt. Zweitens wäre eine stärkere Koordination in der Fiskalpolitik nötig, zum Beispiel in Form von Eurobonds oder einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Drittens wäre mehr Mobilität von Arbeitskräften zwischen den Eurostaaten eine Voraussetzung für das Funktionieren.

Ob zum Erreichen dieser Ziele eine formale Fiskalunion und/oder eine politische Union nötig ist, darüber scheiden sich die Geister. Ohne Reformen jedoch, die eine stärkere Koordination ermöglichen, dürfte es schwierig werden, die Währungsunion zwischen Volkswirtschaften mit so grossen und anhaltenden makroökonomischen Ungleichheiten aufrecht zu erhalten. Aber auch darüber, ob die Eurostaaten den Preis einer weiteren Aufgabe von Souveränität zum Erhalt der Eurozone zahlen sollte, gibt es unterschiedliche Meinungen.

«Sicher ist einzig, dass der Euro in dieser Form unter dem Status Quo langfristig nicht überleben wird.»

Mark Copelovitch, Jeffry Frieden, Stefanie Walter

Die aktuellen politischen und ökonomischen Debatten in Europa spiegeln ähnliche Debatten in den Vereinigten Staaten zwischen 1790 bis 1860. Alexander Hamilton und Thomas Jefferson stritten beispielsweise darüber, ob der Bund die Staatsschulden der US-Staaten übernehmen sollte. Erst in den 1870er Jahren war die US-amerikanische Währungsunion komplett. Diese Erfahrung zeigt, dass es ein langer und steiniger Weg ist, bis sich eine funktionierende Währungs- und Wirtschaftsunion bilden kann und dass dafür schwierige Kompromisse zwischen den verschiedenen Regionen und Gruppierungen notwendig sind.

Es ist durchaus denkbar, dass die Länder der Eurozone die Hindernisse auf dem Weg zu einer tragfähigen Lösung der Eurokrise nicht werden überwinden können. Diese Hindernisse sind allerdings eher politischer denn ökonomischer Natur. Technisch gesehen gibt es nichts, was eine mögliche Lösung der Eurokrise verhindert. Die grösste Hürde besteht darin, dass die notwendigen Reformen in naher Zukunft politisch nur schwer durchführbar sind. 

Das letzte Kapitel der Europäischen Währungsintegration muss erst noch geschrieben werden. Wie dieses aussehen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt ungewiss.


Hinweis: 

Dieser Beitrag beruht auf dem Sonderheft „The Political Economy of the Euro Crisis“ der Fachzeitschrift Comparative Political Studies, herausgegeben von Mark Copelovitch, Jeffry Frieden und Stefanie Walter (Juni 2016; Ausgabe 49). 

Das Sonderheft ist das Ergebnis mehrerer Workshops einer Gruppe von führenden Politökonomen von beiden Seiten des Atlantiks, die ein besseres Verständnis der politökonomischen Dimension der Eurokrise zum Ziel hatten. Es umfasst folgende Beiträge:


Titelbild: Proteste gegen Sparmassnahmen vor dem portugiesischen Parlament. Aufgenommen am 24. November 2011 in Lissabon, Portugal. Quelle: Wikimedia Commons

Lektorat: Sarah Bütikofer

Layout: Pascal Burkhard