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Das Ausländerstimmrecht kann undemokratisch sein

Corsin Bisaz
15th März 2016

Immer mehr Schweizer Kantone führen das Ausländerstimmrecht ein. Das Ausländerstimmrecht gibt es jedoch nicht, denn die Unterschiede zwischen den Kantonen und Gemeinden sind gross. In der Regel geniessen Ausländerinnen und Ausländer nur eingeschränkte politische Rechte. Die Bundesverfassung garantiert aber das allgemeine und gleiche Stimmrecht. Lässt sich dieser Widerspruch rechtfertigen? 

Aarauer Demokratietage

Das Ausländerstimmrecht gibt es mittlerweile in acht Kantonen (Abbildung 1). Was dieses Recht aber konkret beinhaltet, ist von Kanton zu Kanton und teils von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich (Abbildung 3 & 4). 

Abbildung 1:

Karte

In den Kantonen Jura und Neuenburg wird es für kantonale Angelegenheiten eingeräumt (Abbildung 2), in diesen beiden sowie sechs weiteren Kantonen (AR, BS, FR, GE, GR, VD) ist es auf Gemeindeebene entweder zugelassen oder vorgeschrieben.

In allen anderen Kantonen sowie beim Bund ist das Schweizer Bürgerrecht die Voraussetzung, um stimmberechtigt zu sein. 

Beschränkte politische Rechte für Ausländer

Volljährige Schweizer Bürgerinnen und Bürger verfügen über die vollumfänglichen politischen Rechte[1]. Die politischen Rechte bilden eine Einheit. Beim Ausländerstimmrecht werden dagegen häufig Differenzierungen vorgenommen.

INFOBOX: Ausländerstimmrecht

Das „Ausländerstimmrecht“ umfasst in der Schweiz grundsätzlich alle politischen Rechte, welche Personen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft eingeräumt werden. Dazu gehören insbesondere das aktive und das passive Wahlrecht, das Recht, an Sachabstimmungen teilzunehmen sowie das Recht, Volksinitiativen und -referenden zu unterzeichnen.

Ausländerinnen und Ausländer besitzen zum Beispiel in den Kantonen Neuenburg und Jura auf kantonaler Ebene das aktive, nicht aber das passive Wahlrecht. Das heisst, sie können zwar an Wahlen teilnehmen, sich aber nicht als Kandidierende zur Verfügung stellen. Im Kanton Jura sind sie bei kantonalen Sachabstimmungen stimmberechtigt, ausser es stehen Verfassungsmaterien zur Entscheidung (vgl. Abbildung 2). 

Abbildung 2:

Stimmrecht

Rechtliche Besserstellung durch das Ausländerstimmrecht?

Ausländerinnen und Ausländer sind politisch bessergestellt, wenn sie über ein Stimmrecht verfügen. Wird ihnen das Ausländerstimmrecht eingeräumt, gelangen sie in jedem Fall ein Stück weit aus ihrer politischen Rechtlosigkeit heraus. Aus diesem Grund wird davon ausgegangen, dass es weniger wichtig ist, welche Form dieses Ausländerstimmrecht genau hat.

Doch stellen sich hier aus demokratischer Sicht Fragen: Soll es tatsächlich zulässig sein, einen Teil der Stimmberechtigten von der Entscheidung "wichtiger" Geschäfte auszuschliessen?

Führt man sich die konkrete Umsetzung ungleicher Stimmberechtigung vor Augen, kommen Zweifel an ihrer Kompatibilität mit dem Demokratieprinzip hoch: Sollen minderstimmberechtigten Ausländerinnen und Ausländer in einer (Lands-)Gemeindeversammlung von den übrigen Stimmberechtigten getrennt gesetzt werden? Sollen sie andersfarbige Abstimmungszettel verwenden müssen? Oder soll man darauf Vertrauen, dass sie sich, wo verlangt, der Stimme enthalten?

Abbildung 3:

Stimmrecht

 Vorbehalt wichtiger Rechte und Materien

Ganz allgemein sind in der Schweiz Ausnahmen vom Grundsatz des gleichen Stimmrechts nur sehr bedingt zulässig. Das Bundesgericht verlangt sachgerechte und ernsthafte Gründe, die eine Ungleichbehandlung der Stimmberechtigten rechtfertigen.

Doch sachliche Gründe, die Ausnahmen beim Ausländerstimmrecht rechtfertigen, finden sich nur selten. In der Regel wird nur ein Argument vorgebracht, wenn es darum geht, die Einschränkungen des Stimmrechts für Ausländerinnen und Ausländer einzuschränken: die Wichtigkeit, die einem entsprechenden Gegenstand oder Volksrecht zugemessen wird.

Je wichtiger das Geschäft, umso eher sind sie ausschiesslich den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern vorbehalten. Als Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung taugt dieses Argument jedoch nicht. Denn es führt zu einer undemokratischen Aufteilung der Stimmberechtigten in eine Gruppe von Voll- und in eine von Minderberechtigten. Dies weckt Erinnerungen an vormoderne Zeiten, in denen Stimmrechte als Privilegien konzipiert waren.

Rechtsungleichheit ist ein zu hoher Preis

Politisch ist das vollumfängliche Ausländerstimmrecht oft nur schrittweise realisierbar. Ein schrittweiser Ausbau des Ausländerstimmrechts muss jedoch nicht zwingend mit Rechtsungleichheiten einhergehen. Gestaltungsspielraum besteht bei der Festlegung der Voraussetzungen des Ausländerstimmrechts. Erfahrungen können sodann gesammelt werden, wenn Kantone ihren Gemeinden die Kompetenz belassen, den Kreis der Stimmberechtigten autonom festzulegen.

Abbildung 4:

Stimmrecht

Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Zusammenfassung des Referats "Das Ausländerstimmrecht in der Schweiz - Formen und Rechtsungleichheiten", welches der Autor im Rahmen der 8. Aarauer Demokratietage am 18. März 2016 hält. 

[1] Es sei denn, sie sind von diesen vollumfänglich ausgeschlossen. Das ist der Fall, wenn jemand wegen Urteilsunfähigkeit entmündigt ist. (BV Art. 136 Abs. 1 i.V.m. BPR 2)


Literatur:

Titelbild: DeFacto

Lektorat: Sarah Bütikofer

Graphik & Layout: Pascal Burkhard