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Abstimmungen: Nur wenige gehen immer oder nie an die Urne

Andreas Goldberg, Simon Lanz, Pascal Sciarini
15th Februar 2016

Nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung geht immer oder nie abstimmen. Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer nimmt selektiv an Volksabstimmungen teil. Dies steht im Gegensatz zur öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte. Diese konzentriert sich stark auf eine binäre Unterscheidung zwischen Abstimmenden und Abstinenten.

In der Forschung zur Partizipation geht man davon aus, dass Bürgerinnen und Bürger entweder immer oder nie an die Urne gehen. Diese schwarz-weisse Betrachtungsweise ist aber zu einfach, wie eine neue Analyse von offiziellen Daten aus dem Kanton Genf zeigt. Die meisten Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gehören zur Gruppe der selektiv Partizipierenden. Das heisst, dass sie bei gewissen Abstimmungen teilnehmen und bei anderen Abstimmungen der Urne fern bleiben.

Abbildung 1:

Teilnahme an Abstimmungen

In der Grafik wurden Personen, die an allen oder keiner der untersuchten Abstimmungen teilgenommen haben, violett eingefärbt. Die weisse Fläche zeigt den Anteil der selektiv Teilnehmenden. Der Startpunkt der Analyse ist die Abstimmung vom 26. September 2004. Konzentrieren wir uns nur auf diese eine Abstimmung, ist eine schwarz-weisse Betrachtungsweise gerechtfertigt: 61 Prozent der Genferinnen und Genfer gingen zur Urne, 39 Prozent blieben zu Hause.

Erweitern wir den Beobachtungshorizont um eine Abstimmung (jene vom 28. November 2004), entsteht eine dritte Gruppe. Diese besteht aus selektiv Teilnehmenden, also Personen die nur an einer der beiden Abstimmungen teilgenommen haben. In unserem Beispiel sind dies 22 Prozent der Stimmberechtigten.

Der Anteil der Genferinnen und Genfer, die bei der ersten und zweiten Abstimmung an die Urne gingen, beträgt noch 50 Prozent. Weniger als 30 Prozent blieben der Urne zwei Mal hintereinander fern. Mit jeder weiteren Abstimmung vergrössert sich die Gruppe der selektiv Teilnehmenden. Nach zehn Abstimmungen haben nur noch etwa 20 Prozent der Wahlberechtigten keine Abstimmung verpasst. Ungefähr 14 Prozent stimmten in dieser Periode kein einziges Mal ab. 66 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gehören demnach der Gruppe der selektiv Teilnehmenden an. Bei einem Beobachtungszeitraum von 30 Abstimmungen wächst diese Gruppe gar auf 80 Prozent der Bevölkerung an.

Wer sind selektiv Abstimmende?

Die grosse Zahl der selektiv Abstimmenden rechtfertigt eine genauere Betrachtung dieser Gruppe. Wir versuchen dies mittels einer Analyse ihrer soziodemographischen und politischen Zusammensetzung. Die Analyse beruht auf jeweils zehn Abstimmungen und vergleicht die Charakteristika der permanent Teilnehmenden und permanent Abstinenten, mit denen der selektiv Teilnehmenden. Dabei werden letztere nicht als eine grosse Gruppe betrachtet, sondern als viele Einzelgruppen um ein möglichst genaues Abbild zu bekommen (siehe Infobox).

Selektiv Teilnehmende sind eine sehr heterogene Gruppe. Sie umfasst Junge und Alte, Frauen und Männer gleichermassen. Auch bezüglich Zivilstand oder Aufenthaltsdauer lässt sich kein klares Bild zeichnen. Bei den permanent Teilnehmenden bzw. den permanent Abstinenten ist zum Beispiel das Alter ein entscheidender Faktor: Junge sind bei den Abstinenten stark übervertreten während Ältere eher treue Urnengängerinnen und Urnengänger sind. Den selektiv Teilnehmenden fehlt solch ein soziodemographisches Alleinstellungsmerkmal.

Das politische Profil der selektiv Teilnehmenden lässt hingegen klarere Schlüsse zu. Sie haben tendenziell ein geringeres Interesse an Politik, keine Parteipräferenz und eher wenig politisches Wissen. Zudem haben sie eher Schwierigkeiten, sich auf der Links-Rechts Achse zu verorten. Damit ähneln die selektiv Teilnehmenden den permanent Abstinenten.

Von wegen politikverdrossen

Die Analyse zeigt, dass ein binäres Verständnis der politischen Partizipation die Realität nur ungenügend abbilden kann. Bei zehn Abstimmungen beträgt der Anteil der selektiv Teilnehmenden rund zwei Drittel. Nur gerade ein Fünftel der Genferinnen und Genfer geht bei jeder Gelegenheit an die Urne. Etwa ein Sechstel bleibt der Urne zehn Mal fern.

Der Anteil der Politikverdrossenen ist relativ gering und relativiert die klassische Sicht der Schweiz als Land mit einer tiefen Stimmbeteiligung. Gleichzeitig gibt es nur wenige Musterdemokratinnen und Musterdemokraten. Das soziodemographische Profil der selektiv Teilnehmenden ist sehr heterogen, das politische Profil ähnelt jenem der Abstinenten.

Dies sind nicht zwingend schlechte Neuigkeiten. Interesse an Politik und auch politisches Wissen kann etwa im Schulunterricht gefördert werden. Dies, so zeigt unsere Analyse, könnte sich wiederum positiv auf die politische Partizipation auswirken.

 

INFOBOX: Daten und Methode

Die Analyse beruht auf Daten des Kantons Genf (SEV/OCSTAT) und umfasst die gesamte Genfer Wahlbevölkerung. Die Daten bieten Informationen zur Teilnahme bei Abstimmungen und zu gewissen soziodemographischen Merkmalen. Um das politische Profil der selektiv Teilnehmenden zu analysieren wurden die offiziellen Daten mit der Schweizer Wahlstudie ergänzt (SELECTS 2011). Da wir uns auf offizielle Daten stützen, sind die Angaben zur Teilnahme an Abstimmungen verzerrungsfrei.

Die Analyse der soziodemographischen und politischen Charakteristika der Partizipationstypen beruht auf einer ordinal logistischen Regression. Damit verzichten wir in diesem Teil der Analyse auf eine einfache Dreiteilung der Wählenden in „permanent Teilnehmende“, „permanent Abstimmende“ und „selektiv Partizipierende“ wie sie in früheren Analysen gepflegt wurde.

Hinweis: Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von Sciarini, Pascal, Cappelletti, Fabio, Goldberg, Andreas C., und Simon Lanz (im Erscheinen). “The underexplored species: Selective participation in direct democratic votes.” Swiss Political Science Review (early view). 


Foto: DeFacto

Lektorat: Sarah Bütikofer