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Die SeniorInnen – der heimliche Souverän?

Salim Brüggemann
13th Januar 2016

Über 65-Jährige weisen die mit Abstand höchste Wahlbeteiligung auf und wählen im Schnitt konservativer als ihre jüngeren MitbürgerInnen. Aufgrund gestiegener Lebenserwartung und anhaltend tiefer Geburtenrate bilden sie zudem einen immer grösseren Teil der Stimmberechtigten. Ein Experiment mit Selects-Daten zeigt, wie sich die nationalen Parteistärken veränderten, wenn die jüngeren Generationen ihre Wahlcouverts fleissiger retournieren würden.

Die Wahlbeteiligung nimmt mit steigendem Alter zu. Nicht nur in der Schweiz, auch in vielen anderen Ländern ist dies zu beobachten (vgl. Lutz 2012). Doch das Ausmass der Unterschiede zwischen den verschiedenen Altersgruppen bei den Nationalratswahlen 2011 scheint rekordverdächtig. Wie untenstehender Grafik zu entnehmen ist, gehen über 75-Jährige mittlerweile mehr als doppelt so oft wählen wie die 18- bis 25-Jährigen. Der Vergleich mit den fünf vorhergehenden Wahlen zeigt, dass diese Diskrepanz tendenziell zunimmt. Die Ältesten wurden immer teilnahmefreudiger. 

Ältere Bürger, ältere Wähler

Der Verdacht liegt nahe, dass dieser Anstieg in der obersten Altersklasse nicht zuletzt mit der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung zusammenhängt. Eine Frau in der Schweiz bringt im Schnitt rund 1,5 Kinder zur Welt – zum Generationenerhalt wären ca. 2,1 notwendig. Die tiefe Geburtenziffer stagniert seit Mitte der Siebzigerjahre, bei Frauen mit Schweizerpass liegt sie gar noch darunter. Wie sich vor diesem Hintergrund das Durchschnittsalter der Wahlberechtigten entwickelt hat, verdeutlicht das nachstehende Diagramm[1].

Je älter, je weniger links? 

Grüne und alternative Parteien werden von SeniorInnen seltener gewählt als andere Parteien. Die Wahrscheinlichkeit der 55- bis 64-jährigen, bei den Wahlen 2011 SP gewählt zu haben, betrug rund zwanzig Prozent. Bei der Altersgruppe der über 65-jährigen lag die Wahrscheinlichkeit, die SP gewählt zu haben allerdings nur noch bei rund zehn Prozent. 

Wie es sich mit anderen Parteien und in anderen Wahljahren verhielt, lässt sich anhand der folgenden Diagramme nachvollziehen. So zeigt sich beispielsweise, dass bei den Seniorinnen und Senioren die bürgerlichen Parteien BDP und FDP überdurchschnittlich gut ankommen. Doch vor allem die SVP punktet dank der überalternden Gesellschaft. Denn bei keiner anderen Altersklasse lässt sich der Aufstieg der nationalkonservativen Volkspartei eindrücklicher ablesen als an den über 75-Jährigen. 

Experiment: was könnten die Jungen bewirken?

Man könnte also durchaus vermuten, dass die Wahlen in der Schweiz anders ausfielen, würden die jüngeren ihre Wahlzettel ähnlich fleissig ausfüllen wie die älteren Semester. Deshalb wage ich folgendes Experiment durchzurechnen: Wie hätte das Wahlresultat ausgesehen, wenn alle Altersgruppen mit gleich hoher Wahrscheinlichkeit an die Urnen gegangen wären? Was würde sich ändern, wenn die Wahlbeteiligung spiegelverkehrt ausgefallen wäre? Wenn also die Wahlbeteiligungskurve aus der ersten Grafik umgekehrt verlaufen würde, sprich an der mittleren Alterskategorie der 45-54-Jährigen gespiegelt wäre.

In obenstehendem Balkendiagramm finden sich die Resultate dieses Experiments. Die dunklen Balken stehen dabei jeweils für das "reale", sprich gemäss den weiter oben aufgeführten Wahlbeteiligungswahrscheinlichkeiten prognostizierte Wahlresultat[3]. Die mittleren Balken für einen hypothetischen Wahlausgang bei exakt gleicher Wahlbeteiligungswahrscheinlichkeit aller Altersgruppen. Und die hellen Balken schliesslich für das zweite hypothetische Szenario, das Wahlresultat bei spiegelverkehrter Wahlbeteiligung der sieben Alterskategorien[4]. Bei beiden fiktiven Szenarien wird von der Annahme ausgegangen, dass sich die Wähler- und die NichtwählerInnen nicht wesentlich unterscheiden in ihren Parteipräferenzen.

Insgesamt fallen die Resultate ziemlich ernüchternd aus. Die Verschiebungen bewegen sich auf niedrigem Niveau. Bei inverser Wahlteilnahme hätte 2011 die SVP mit -1,7 Prozentpunkten am meisten Wähleranteil verloren, gefolgt von der BDP mit -1,2 Prozentpunkten. Die GLP hätte als grösste Gewinnerin immerhin +1,4 Prozentpunkte zulegen können, gefolgt von den Grünen mit +1,3 Prozentpunkten.

Für die Wahljahre zuvor zeigte sich ein ähnliches Bild: Die Parteien links der Mitte würden ein wenig zulegen, bürgerliche und rechte Parteien dagegen ein paar Tausend Stimmen einbüssen.

Keine grossen Veränderungen zu erwarten

Unter dem Strich lässt sich festhalten, dass auch eine immense Zunahme der Wahlbeteiligung jüngerer Schweizerinnen und Schweizer der politischen Linken bzw. der GLP keinen Erdrutschsieg verschaffen und die SVP kaum mehr als einige wenige Sitze kosten würde. Dennoch dürften sich besonders die Grünen und die Grünliberalen nach einem derartigen Szenario sehnen. Beide Parteien würden ihre bestehende Wählerbasis um je ein bis zwei Prozentpunkte Wähleranteil vergrössern können.

Anmerkungen:

[1] Das berechnete Stimmrechtsalter fällt hier systematisch tiefer aus als das tatsächliche, weil bei der Berechnung aufgrund der unvollständigen Datengrundlage alle über 98-jährigen Personen zu einer Gruppe zusammengefasst wurden und die darüber hinausgehenden Altersjahre somit keine Berücksichtigung fanden; die Abweichung fällt mit steigender Jahreszahl höher aus, da immer mehr Leute das 99. Lebensjahr überschreiten; sie fällt allerdings insgesamt gering aus und dürfte sich auch im Jahr 2014 noch im Bereich der 3. Nachkommastelle bewegen. Dennoch weichen die hier berechneten Werte mangels besserer Datenbasis (z. B. Stimmregisterdaten) geringfügig von den tatsächlichen Werten ab, weil einerseits entmündigte BürgerInnen nicht aus der Analyse ausgeschlossen werden konnten und andererseits die AuslandschweizerInnen in der Berechnung unberücksichtigt bleiben müssen.

[2] Bis auf die Werte für das Jahr 1991 sowie die Zahlen aus dem untersten Diagramm zu den vorausgesagten Wähleranteilen nach Beteiligungsmodus bilde ich keine Werte ab, welche nicht auch Lutz (2012) bereits publizierte (wobei die von mir berechneten Werte an einigen Stellen geringfügig abweichen). Analog zu Lutz verzichte ich auch auf die Angabe von Nachkommastellen, um nicht den Eindruck einer Präzision zu erwecken, welche gar nicht gegeben ist. Mit Ausnahme des letzten Diagrammes wurden alle vorausgesagten Wahrscheinlichkeiten auf Ganzzahlen gerundet. Das letzte Diagramm wurde von dieser Vorgehensweise ausgenommen, damit die Tendenz der Ergebnisse besser sichtbar wird. Auf die Abbildung von Konfidenzintervallen verzichte ich, zumal diese mitunter sehr gross ausfallen (95 %-Konfidenzniveau). Hingegen wurde für alle Modelle ein Chi-Quadrat-Test durchgeführt, der aussagt, ob ein statistisch signifikanter Zusammenhang (95 %-Konfidenzniveau) besteht zwischen den Alterskategorien als unabhängige Variablen und der Wahlbeteiligung bzw. dem Wahlentscheid als abhängige Variable. Bei der Wahlbeteiligung fielen alle Resultate positiv aus, im Falle der Wahlentscheide zeichneten die Tests hingegen ein gemischtes Bild: Für die CVP sind die Resultate nur im Jahr 1991 signifikant, für die glp und die BDP lediglich im Jahre 2011 (was angesichts des Alters dieser beiden Parteien nicht weiter verwunderlich ist). Für die FDP sind die Resultate nicht signifikant in den Jahren 2007 und 1991, für die SVP und die SP nicht in den Jahren 1999 und 1991, in letzterem Jahr für die Grünen auch nicht.

[3] Dass dabei keine Rede von allzu hoher Präzision dieser Werte sein kann, illustriert schon alleine die Tatsache, dass die vorausgesagten Wähleranteile nach "realem" Beteiligungsmodus (d. h. basierend auf vorausgesagten Wahrscheinlichkeiten zur Wahlbeteiligung nach Altersgruppe) mehr oder weniger deutlich von den tatsächlichen Wahlresultaten abweichen. Das soll meinem Vorhaben aber keinen Abbruch tun, zumal einerseits die Abweichungen nicht allzu gross ausfallen und andererseits vor allen Dingen die Verhältnisse zwischen den Parteien von Interesse sind – und diese scheinen soweit stimmig.

[4] Soll heissen, unter der Annahme, die Wahlbeteiligungskurve aus der ersten Grafik würde genau umgekehrt verlaufen, sprich an der mittleren Alterskategorie der 45-54-Jährigen gespiegelt.

Für alle drei Szenarien wurden die Werte immer nach folgendem Schema berechnet: (Anzahl der Stimmberechtigten in der jeweiligen Altersklasse × Wahlbeteiligung der jeweiligen Altersklasse [real/gleichmässig/spiegelverkehrt] × Wahlwahrscheinlichkeit der jeweiligen Altersklasse für die entsprechende Partei) ÷ (Gesamtzahl der Stimmberechtigten × durchschnittliche Wahlbeteiligung [real/gleichmässig/spiegelverkehrt])

Für die Anzahl der Stimmberechtigten wurde auf eigene Berechnungen (vgl. erste Grafik) basierend auf Daten des BFS (siehe Quellenangaben unten) zurückgegriffen, da die Vertretung der Altersgruppen im Selects-Datensatz nicht repräsentativ ist und keine Gewichtungsvariablen fürs Alter enthalten sind.

Hinweis: Dieser Beitrag erschien am 6. Dezember 2015 in leicht anderer Form im Datenjournalismus-Blog des IPZ.


Referenzen:

Foto: Von Eric Wüstenhagen, Flickr, Lizenz CC-BY-SA 2.0