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Warum
zentralisieren?

Sean Mueller
11th Januar 2016

In der Schweiz unterscheidet sich das Ausmass der Gemeindeautonomie stark von einem Kanton zum anderen. Ein Kanton ist dann zentralisierter, wenn die Linke im Kantonsparlament stark ist, das Kantonsgebiet klein und die kantonale politische Kultur egalitär ist. Das zeigt eine neue Untersuchung der Universität Bern.

Zentralisierung wird oft als Unwort verschrien, als zu bekämpfendes, abwehrendes und um jeden Preis zu vermeidendes Grundübel. Nirgends ist dieser Reflex so stark verankert wie in der föderalen Schweiz mit ihren 26 Kantonen und 2'294 Gemeinden (Stand 1.1.2016). Verwiesen wird dabei oft auf die Tradition der Subsidiarität, gemäss welcher staatliche Aufgaben auf der unterstmöglichen Ebene anzusiedeln wären. Doch Subsidiarität bedeutet auch, dass staatliche Gebilde gewisse Aufgaben nur dann wahrnehmen, wenn kein anderes dazu besser in der Lage ist.

Infobox 1: Subsidiaritätsprinzip in der Schweiz
Das Prinzip der Subsidiarität läuft typischerweise folgendermassen ab: Können oder wollen die Bürgerinnen und Bürger ein Problem nicht selber lösen, schreitet die Gemeinde ein. Beispielsweise finanziert sie den Betrieb eines Theaters. Auf der nächsten Stufe übernehmen mehrere Gemeinden zusammen eine öffentliche Aufgabe, beispielsweise den Bau und Betrieb einer Kläranlage. Die nächste Stufe ist der Kanton, ihm obliegt z.B. die Kriminalpolizei. Mittlerweile tun sich in der Schweiz bei gewissen Problemstellung mehrere, evtl. sogar alle Kantone zusammen. Dies ist beim Hooligan-Konkordat der Fall. Wenn alle tieferen Stufen ausgeschöpft sind, kommt der Bund erst an letzter Stelle zum Zug. Ihm obliegt beispielsweise die Verantwortung für die Währungspolitik.

Weil in der Schweiz aber die Kantone für ihre Gemeinden verantwortlich sind (Art. 50.1 BV), unterscheidet sich diese Abfolge (bis und mit Konkordate) stark von einem Kanton zum anderen. Mit anderen Worten variiert das Ausmass der Gemeindeautonomie – also wie viele und welche Aufgaben eine Gemeinde wahrnimmt, wie sie sie finanziert und praktisch ausführt, und welchen politischen Einfluss sie auf höhere Ebenen ausübt – stark von einem Kanton zum anderen.

Weil gleichzeitig jeder staatlichen Delegation ein politischer Entscheid vorangeht, öffnet sich dadurch ein Weg, auf welchem sich diese Unterschiede erklären lassen. Konkret: Weshalb sind die Gemeinden in Graubünden autonomer als in Genf? Weil das politisch so gewollt ist. Aber warum genau, von wem, wann und unter welchen strukturellen Einflüssen? In meinem vor kurzem erschienen Buch Theorising Decentralisation liefere ich die erste systematische Beantwortung dieser Frage. Dabei fasse ich Autonomie als dreidimensionales Phänomen auf, vergleiche zuerst alle 26 Kantone quantitativ, konzentriere mich dann auf vier ausgewählte Fälle und teste dabei mehrere, zum Teil widersprüchliche Theorien der vergleichenden Politikwissenschaft.

Die drei Dimensionen der Zentralisierung

Zentralisierung und Dezentralisierung werden verstanden als Idealunkte in einem dreidimensionalen Raum. Ich beschränke mich dabei nicht nur auf fiskalische (policy) oder rechtliche (polity) Aspekte der Gemeindeautonomie, sondern versuche, auch politische Aspekte (politics) miteinzubeziehen. Die drei Dimensionen werden am Schluss zu einem Gesamtindex zusammengefasst (Details siehe Infobox 2).

Kartographisch dargestellt, lässt sich hierbei ein klares West-Ost Gefälle feststellen (Abbildung 1): Je weiter östlich ein Schweizer Kanton gelegen ist, desto dezentralisierter sein politisches System. Genf ist der am zentralisierteste Kanton der Schweiz, d.h. dass dort die Gemeindeautonomie am kleinsten ist.

Abbildung 1:

Dezentralisierung

Woher kommt das West-Ost Gefälle?

Warum aber diese Unterscheide, warum dieses West-Ost Gefälle? In der vergleichenden Politikwissenschaft bestehen zwei Erklärungsansätze. Entweder sind politische Zustände das Ergebnis struktureller Zwänge, so zum Beispiel der Grösse des Territoriums, der Einwohnerzahl oder, im Bereich Föderalismus, sozialer Diversität (unterschiedliche Sprachen, Religionen und/oder Kulturen). Oder aber Politik wird verstanden als Aushandeln interessenmaximierender Akteure, die zwar unterschiedliche Ziele verfolgen, aber je nach Stärke mehr oder weniger Kompromisse eingehen müssen. Neben deren Ideologie (z.B. Staats- vs. Marktvertrauen) spielen hierbei oft auch parteitaktische und wahlstrategische Überlegungen eine Rolle.

Natürlich liegt die Wahrheit nun irgendwo zwischen strukturellem Determinismus und individualistischem Aktionismus. Wo genau, stelle ich auf zwei Arten fest. Zum einen mittels eines quantitativen Vergleichs, bei dem unter Kontrolle anderer Variablen der Einfluss mehrerer Faktoren gleichzeitig modelliert wird. Zum anderen via Einzelfallstudien, bei dem ich beobachte, wie, wann, und warum sich die Zentralisierung in einem Kanton entwickelt hat. Die Kantone Waadt, Bern, Schwyz und Graubünden wurden für diese vertiefte Betrachtung ausgewählt, weil sie sich zwar stark voneinander unterscheiden, alle vier aber vom statistischen Modell gut erklärt werden (Abbildung 2).

Kantonale Unterschiede und ihre Wurzeln

Das Gesamtresultat lässt sich nun wie folgt zusammenfassen. Der Zentralisierungsgrad eines Schweizer Kantons bestimmt sich im Wesentlichen durch die Kleinheit seines Kantonsgebietes, seine politische Kultur und die Stärke linker Parteien (Grüne + SP) im Kantonsparlament. Dies unter Kontrolle sowohl der Anzahl Gemeinden wie auch des kantonalen Bruttosozialproduktes pro Kopf. Soziokulturelle Diversität sprachlicher und/oder religiöser Art im Inneren eines Kantons, die Bevölkerungsgrösse, Topographie, Stadtdominanz und das Vertrauen in die Gemeinden scheinen dagegen keinen Einfluss zu haben. Grafisch dargestellt findet sich in Abbildung 2 die weiter oben erfasste Dezentralisierung (y-Achse) der so vorhergesagten (x-Achse).

Abbildung 2: 

Dezentralisierung

Kantonale Zentralisierungstypen

Zum Abschluss lassen sich im Hinblick auf die gefundenen Kausalzusammenhänge folgende fünf Gruppen bilden:

  1. Drei dezentralisierte, gebietsmässig grosse Kantone, wo ein eher konservativ eingestelltes Hinterland (ZH) oder das Fehlen eines eher progressiv eingestellten Stadtzentrums (GR & TG) die politische Kultur am Festhalten althergebrachter politischer Traditionen wie der „Gemeindesouveränität“ bestärkt;

  2. Sieben dezentralisierte, kleine Kantone (AI & AR, GL, SZ, OW & NW, ZG), wo das Fehlen eines progressiven Zentrums und die Schwäche linker Parteien zusammenspielen, um bereits starke lokale Strukturen zu erhalten;

  3. Sieben eher ausgeglichene, grosse Kantone (BE, LU, SG, AG, UR, SO, VS), in denen die Grösse des Kantonsgebietes von alternierenden Mitte-links- und Mitte-rechts-Mehrheiten jeweils als Argument benutzt wird, um die bestehenden kulturellen Präferenzen für lokale Lösungen entweder zu verstärken (z.B. in der Raumplanung oder dem Verkehrswesen) oder abzuschwächen (z.B. im Sozial- oder Erziehungswesen);

  4. Vier eher ausgeglichene, kleine Kantone, wo das Gebiet so übersichtlich und die Ideologie so progressiv ausgerichtet sind, dass Einheitslösungen vorgezogen werden, obwohl die kulturellen Präferenzen durchaus für lokalere Varianten sprechen würden (BS); wo eine egalitäre, französisch-inspirierte politische Kultur durch eine Tradition lokaler Autonomie gedämpft wird (JU); oder wo die dominante Stadt (im Kanton: SH; oder ausserhalb: BL) starke Zentrum-Peripherie Konflikte generiert, die wiederum die Gemeindeautonomie trotz kultureller Präferenzen dafür abschwächen;

  5. Fünf zentralisierte Kantone, wo die Grösse des Kantonsgebietes – egal, ob gross (VD & TI), mittel (NE & FR) oder klein (GE) – als Argument benutzt wird, zusammen mit einer stark egalitär ausgerichteten politischen Kultur kantonale Lösungen gegenüber lokalen zu bevorzugen.

Inwiefern sich gegenwärtige territoriale Reformen in Kantonen wie SH, TI, VS, GR und UR und/oder bundesrechtliche Änderungen (Zweitwohnungsinitiative, Unternehmenssteuerreform III, Asylwesen) auf die hier gefundenen Zusammenhänge auswirken, kann allerdings erst die zukünftige Forschung zeigen. Jedenfalls bewegt sich auf diesem Gebiet einiges, so dass die Subsidiarität uns als Streitobjekt genau so erhalten bleibt wie das vermeintliche Unwort Zentralisierung – für die wir schliesslich selber verantwortlich sind.

Infobox 2: Messung von Dezentralisierung

Die funktionale Dezentralisierung (policy decentralisation) besteht aus fiskalischer, personeller und administrativer Dezentralisierung (Badac 2008):

  • Fiskalische Dezentralisierung besteht aus dem Anteil der Gemeindeausgaben am Total öffentlicher Ausgaben in einem Kanton (2005) und dem Anteil der Gemeindeeinnahmen am Total öffentlicher Einnahmen in einem Kanton (2008).

  • Bei der personellen Dezentralisierung handelt es sich um den Anteil Gemeindeangestellter am Total öffentlicher Angestellter in einem Kanton (2008) sowie um den Anteil der Mitarbeitersaläre auf lokaler Ebene am Total öffentlicher Mitarbeitersaläre in einem Kanton (2008).

  • Bei der administrativen Dezentralisierung berechne ich den Durchschnitt der Jahre 1997 bis 2003 in Sachen lokaler Ausgaben für rein administrative Zwecke als Anteil am Total öffentlicher Ausgaben für rein administrative Zwecke in einem Kanton.

Für die rechtliche Ausgestaltung stütze ich mich auf Giacometti (1941) und den lokal wahrgenommenen Grad der Gemeindeautonomie, der sich wiederum berechnet als der Durchschnitt der von den Gemeindeschreibern in den Umfragen von 1994, 2005 und 2009 angegebenen Werte (Ladner et al. 2013). Zur Zusammenfassung von Giacomettis drei Gruppen und letzterem standardisiere ich zuerst beide Masse und berechne anschliessend den Durchschnitt.

Die dritte Dimension innerkantonaler Dezentralisierung (politics) besteht aus folgenden sieben Teilindizes (eigene Erhebung vom Sommer 2011):

  1. Das Existieren territorialer Quoten, also z.B. die Garantie eines Bernjurassischen Sitzes in der Berner Kantonsregierung;

  2. Dem Grad innerkantonaler Regionalisierung, also regionale Versammlungen und/oder Bezirksobmänner bzw. préfets;

  3. Dem Grad der Dezentralisierung im Inneren kantonaler politischer Parteien, gemessen durch die Ebene, durch welche hauptsächlich die Kandidaten für kantonale Parlamentswahlen bestimmt werden;

  4. Der Anzahl und Grösse der Wahlbezirke für kantonale Parlamentswahlen;

  5. Der Anzahl der Gemeindepräsidenten, die zugleich im Kantonsparlament sitzen (cumul des mandats);

  6. Der Stärke von kantonalen Gemeindeverbänden bzw. von Gemeindepräsi­dentenkonferenzen als wichtigste kommunale Interessengruppe;

  7. Das Existieren sowie das Ausmass direkt-demokratischer Instrumente, die den Gemeinden explizit zur Verfügung stehen, also Gemeindeinitiative und/oder Gemeindereferendum.

Hinweis: Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung der wesentlichen Resultate von Mueller, Sean (2015). Theorising Decentralisation. Comparative Evidence from Sub-National Switzerland. ECPR Press.


Referenzen: 

  • BADAC – Base de données des cantons et des villes suisses. At http://www.badac.ch/fr/index.php [9.1.2016].

  • BV – Bundesverfassung Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 18. April 1999 (Stand am 1. Januar 2016). At https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/index.html [9.1.2016].

  • Giacometti, Zaccaria. 1941. Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone. Zürich: Polygraphischer Verlag AG.

  • Ladner, Andreas, Reto Steiner, Katia Horber-Papazian, Julein Fiechter, Caroline Jacot-Descombes, and Claire Kaiser. 2013. Gemeindemonitoring 2009/2010. KPM-Schriftenreihe 48. Bern: KPM-Verlag.

  • Mueller, Sean (2015). Theorising Decentralisation. Comparative Evidence from Sub-National Switzerland. ECPR Press.

  • Rühli, Lukas. 2012. Gemeindeautonomie zwischen Illusion und Realität. Gemeindestrukturen und Gemeindestrukturpolitik der Kantone. Kantonsmonitoring 4, Zurich: Avenir Suisse.

Foto: Der Swiss Cantonal Tree in London. Quelle: Wikimedia Commons