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Wenn Dezentralisierung die Staatsausgaben erhöht

Tobias Arnold
5th Januar 2016

Bisher ging man davon aus, dass sich Dezentralisierung bremsend auf die Staatsausgaben auswirkt. Die Resultate unserer Untersuchung mit kantonalen Daten von 1990 bis 2009 zeigen aber, dass Dezentralisierung je nach Begriffsverständnis sogar einen staatsfördernden Effekt haben kann.

Welchen Einfluss haben dezentrale Strukturen in einem Kanton auf die Höhe seiner Staatsausgaben? Die bisherige Forschung spricht mehrheitlich von einem Bremseffekt: Je dezentraler ein Kanton, desto kleiner das Ausgabenvolumen. Tatsächlich bestätigt unsere Untersuchung, dass die dezentrale Verteilung von staatlichen Ressourcen in einem Kanton (funktionale Dezentralisierung) und eine hohe Autonomie von Gemeinden (institutionelle Dezentralisierung) zu tieferen kantonalen Gesamtausgaben führen (siehe Infobox).

Geht man aber der Frage nach, wie viel Entscheidungskompetenzen kommunale Akteure auf der kantonalen Ebene haben und wie effektiv sie ihre Interessen auf der zentralen Ebene einbringen können, zeigt sich ein umgekehrter Effekt: Die Dezentralisierung der Akteursstrukturen und -prozesse (politische Dezentralisierung) hat einen staatsfördernden Effekt und führt eher zu einer Erhöhung der Staatsausgaben in einem Kanton.

Abbildung 1:

Dezentralisierung

Hinweis: Die Stärke der einzelnen Faktoren erschliesst sich durch die Grösse des Balkens im Vergleich zu den anderen Balken. Grundlage hierfür bilden die standardisierten β-Koeffizienten der statistischen Modelle unter Kontrolle weiterer institutioneller, sozioökonomischer, kultureller und politischer Erklärungsfaktoren (time-series cross-sectional analysis). Die mit * gekennzeichneten Faktoren erweisen sich als signifikante Einflussfaktoren. Weitere Informationen zum methodischen Verfahren finden sich bei Mueller, Vatter und Arnold 2015.

INFOBOX: Drei Dimensionen von Dezentralisierung

Bis heute bestehen unterschiedliche Verständnisse von Dezentralisierung. Sean Mueller schlägt in seinen Arbeiten eine Differenzierung des Begriffs in die drei Dimensionen "funktionale", "institutionelle" und "politische Dezentralisierung" vor (vgl. Mueller 2015). Wir greifen auf diese Arbeiten zurück und wenden die Daten erstmals bezogen auf die Staatsausgaben der Kantone an:

Die funktionale Dezentralisierung (Policy-Dezentralisierung, Policy = Politikinhalte) misst, wie zentralisiert die Steuereinnahmen- und ausgaben, die Aufwendungen für das Personal der öffentlichen Hand und für die öffentliche Verwaltung allgemein sind. Je höher der Wert, desto dezentraler, d.h. desto weniger konzentrieren sich öffentliche Mittel auf die Kantonsebene im Vergleich zu den Gemeinden.

Die institutionelle Dezentralisierung (Polity-Dezentralisierung, Polity = Politikstrukturen) fokussiert auf die verfassungsrechtlich gewährte Autonomie der Gemeinden in einem Kanton. Je höher der Wert, desto autonomer können Gemeinden über die Höhe ihrer Steuern und die Ausgaben der öffentlichen Finanzen bestimmen. Als Datengrundlage für die Ermittlung der Werte dienten uns verfügbare Sekundärliteratur und die periodisch durchgeführten Gemeindeschreiberbefragungen.

Die politische Dezentralisierung (Politics-Dezentralisierung, Politics = Politikakteure und -prozesse) schliesslich berücksichtigt, wie viel Entscheidungskompetenzen Gemeinden auf der kantonalen Ebene haben und wie effektiv sie ihre Interessen auf der zentralen Ebene einbringen können. Folgende Faktoren werden für die Messung dieser Dimension einbezogen:

  • Einfluss kommunaler Parteien auf die Nominierung von Kandidierenden für das Kantonsparlament

  • Existenz regionaler Gremien zwischen der Kantons- und der Gemeindeebene

  • Territoriale Quoten für die Vertretung von (Sprach-)Regionen im kantonalen Parlament und/oder der kantonalen Regierung

  • Deckungsgleichheit der Wahlkreise mit den politischen Gemeinden

  • Anzahl Gemeindepräsidenten im Kantonsparlament

  • Existenz, Kohäsion und öffentliche Präsenz von Gemeindeverbänden

  • Existenz direktdemokratischer Instrumente für Gemeindeexekutiven auf der Kantonsebene

Der Effekt, wonach politische Dezentralisierung eher zu einer Erhöhung der gesamten Staatsausgaben führt, ist zwar nach herkömmlichen statistischen Kriterien nicht signifikant (d.h. er könnte auch zufällig sein), deutet aber trotzdem auf etwas Tieferliegendes hin, welchem es nachzugehen gilt. Dies taten wir, indem wir bei den Staatsausgaben zwischen Kantons- und Gemeindeausgaben unterschieden. Abbildung 2 zeigt deshalb den Einfluss von Dezentralisierung auf die Kantons- und die Gemeindeausgaben getrennt auf.

Abbildung 2:

Dezentralisierung

Hinweis: Die Stärke der einzelnen Faktoren erschliesst sich durch die Grösse des Balkens im Vergleich zu den anderen Balken. Grundlage hierfür bilden die standardisierten β-Koeffizienten der statistischen Modelle unter Kontrolle weiterer institutioneller, sozioökonomischer, kultureller und politischer Erklärungsfaktoren. Die mit * gekennzeichneten Faktoren erweisen sich in der statistischen Analyse sowohl der Kantons- als auch der Gemeindeausgaben als signifikante Einflussfaktoren. Der mit + gekennzeichnete Faktor erweist sich als signifikant bei der Analyse der Kantonsausgaben, nicht jedoch der Gemeindeausgaben. Weitere Informationen zum methodischen Verfahren finden sich bei Mueller, Vatter und Arnold 2015.

Starke lokale Akteure, mehr kantonale Ausgaben

Der Blick auf die politische Dimension zeigt nun sehr schön, dass diese unterschiedlich auf die Ausgaben der beiden Staatsebenen wirkt. Während sie bei den Gemeinden eine ausgabenhemmende Wirkung aufweist, führt sie auf der kantonalen Ebene zu mehr Staatsaktivität. Wie lässt sich dieses Ergebnis interpretieren? Rufen wir hierzu die Definition der für politische Dezentralisierung in Erinnerung (vgl. auch Infobox): Ein Kanton weist dann eine hohe politische Dezentralisierung auf, wenn starke lokale Akteure existieren (z.B. Gemeindepräsidenten mit Einsitz im Kantonsparlament, regionale Organisationen, unabhängige kommunale Parteien) und diese ihre Interessen möglichst effektiv auf der Kantonsebene einbringen können (z.B. durch Nutzung direktdemokratischer Instrumente, via territoriale Quoten oder durch gut organisierte Gemeindeverbände). In genau diesem Fall können die besagten Akteure diese vorteilhafte Ausgangslage nutzen und kostspielige und wenig attraktive politische Ausgabenposten „nach oben“ zu den kantonalen Behörden delegieren bzw. abschieben. Gleichzeitig versuchen sie durch umfassende Transferzahlungen des Kantons die eigenen Einnahmen hoch zu halten. Dezentralisierung – verstanden als Stärke dezentraler Akteure wie Gemeindeexekutiven, regionale Gemeindegremien oder kommunale Parteien – hat somit einen staatsfördernden Effekt.

Unsere Analysen zeigen: Die bisherigen Forschungsarbeiten zum Einfluss der Dezentralisierung sind von einem zu undifferenzierten Begriffsverständnis ausgegangen und haben sich zu stark auf die Bremseffekt-These fokussiert. Auch wir finden diese These in unseren Ergebnissen bestätigt; nimmt man den Durchschnittswert aller drei Dezentralisierungsdimensionen, ergibt sich ein negativer Einfluss auf die totalen Staatsausgaben von Kanton und Gemeinden. Betrachtet man jedoch die Dimensionen einzeln, zeigt sich eine wichtige Einschränkung der These: Durch die politische Stärkung lokaler Akteure werden nicht etwa die Ausgaben eines Kantons gezügelt, sondern viel eher ein politischer Prozess geschaffen, innerhalb welchem die Gemeinden selber die Rolle eines „Ressourcenmaximierers“ einnehmen. Damit kann versucht werden, die Ausgaben möglichst zentralisiert und die Einnahmen möglichst dezentralisiert zu halten. Dezentralisierung ist somit nicht gleich Dezentralisierung. Entsprechende Vorsicht ist in Zukunft geboten, wenn Begriffe wie Dezentralisierung oder Föderalismus im Zentrum politischer Debatten stehen.

Hinweis: Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel, der demnächst im Journal of Public Policy (Mueller, Vatter und Arnold 2015) erscheinen wird. 


Referenzen:

Foto: Der Grosse Rat des Kantons Waadt tagt am 11. Februar 2011. Quelle: Wikimedia Commons.