Schweizerische Konsensdemokratie: Harmonische Zusammenarbeit und breite Integration?
Manuel Fischer, Pascal Sciarini
18th December 2015
Die Schweiz versteht sich gerne als harmonische Konsensdemokratie, in der alle gemeinsam arbeiten. Unsere Analyse zeigt: in Wirklichkeit prägen Machtverhältnisse und Ideologie die Politik. In einigen Feldern aber sorgen bestimmte Prozessmerkmale für mehr Zusammenarbeit.
Gerne wird in der Schweizer Politik betont, wie wichtig es sei, breit zusammen zu arbeiten und sämtliche Interessen mit einzubeziehen. Kooperationen über Parteigrenzen hinweg, Sozialpartnerschaft sowie Verbindungen zwischen Parteien, Verbänden und dem Staat seien wichtig, damit ausgewogene und für alle akzeptable Lösungen erarbeitet werden können. Unsere Analyse entlarvt dieses Selbstbild jedoch teilweise als Mythos: Auch im Konkordanzsystem Schweiz bestimmen vor allem ideologische Präferenzen und Machtverhältnisse die Zusammenarbeit zwischen politischen Akteuren.
Basierend auf Interviews mit Vertretern der politischen Elite haben wir untersucht, welche Faktoren erklären können, ob zwei Akteure zusammenarbeiten oder nicht (Fischer und Sciarini 2015, Infobox 1). Für die Analyse kamen spezielle statistische Modelle für Netzwerkdaten zum Einsatz (Infobox 2).
Weniger Zusammenarbeit als erwartet
Die Resultate zeigen zunächst, dass es in der Schweizer Politik weniger Zusammenarbeit gibt, als man es aufgrund ihres Rufes als Konsensdemokratie annehmen könnte. Je nach Entscheidungsprozess gaben Akteure an, im Durchschnitt nur mit 27 bis 43 Prozent der anderen, wichtigsten Akteure zusammenzuarbeiten (Beispiel eines Zusammenarbeitsnetzwerkes in der Abbildung oben). Weiter zeigt sich, dass in allen elf untersuchten Prozessen zwei Faktoren den Grad der Zusammenarbeit stark beeinflussen (Zusammenfassung der Resultate in der Übersicht unten). Beide weisen nicht unbedingt auf breite und inklusive Zusammenarbeit hin.
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Einerseits arbeiten jene Akteure zusammen, welche ähnliche ideologische Präferenzen haben. Dies ist wenig erstaunlich, dient doch Zusammenarbeit nicht nur dem Erarbeiten einer breit akzeptierten Lösung, sondern auch der strategischen Koordination innerhalb von Koalitionen. Allerdings führt dies im Extremfall zu einer Polarisierung zwischen zwei Koalitionen, die beide ihre jeweils eigenen Ziele verfolgen, aber nicht gegenseitig auf Verhandlungen und Kompromissangebote eingehen.
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Andererseits sind einflussreiche Akteure besonders beliebt als Zusammenarbeitspartner. Auch dies mag nicht erstaunen: Akteure versuchen ihren eigenen Einfluss zu erhöhen und suchen somit die Zusammenarbeit mit jenen, die einen Entscheidungsprozess stark beeinflussen können. Im Endeffekt kann dies aber zu einer hierarchischen statt einer inklusiven und ausbalancierten Zusammenarbeitsstruktur führen, bei welcher die einflussreichsten Akteure im Zentrum stehen.
Lesebeispiel: Grüne Felder deuten auf einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen dem Faktor in der linken Spalte und der Zusammenarbeit zwischen den Akteuren im entsprechenden Prozess hin. Weiss bedeutet keinen Zusammenhang, rot einen negativen Zusammenhang.
Was die Kooperation stärkt
Dennoch zeigt unsere Analyse, dass gewisse Merkmale eines politischen Systems breite Zusammenarbeit über Ideologie und Macht hinaus stärken können. Hier scheinen einige Charakteristika des politischen Systems der Schweiz in einzelnen Entscheidungsprozessen zu wirken.
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Die Ausgestaltung eines Entscheidungsprozesses spielt eine Rolle: Expertengremien und Arbeitsgruppen, in welchen wichtige Entscheide gefällt werden, haben einen zusammenarbeitsfördernden Charakter. Wenn Akteure gemeinsam in solchen Etappen des Entscheidungsprozesses tätig sind, tendieren sie stärker zur Zusammenarbeit.
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Staatliche Akteure können integrativ wirken, wenn sie selber ein spezifisches Interesse am Erfolg des Entscheidungsprozesses haben. Dies ist vor allem bei internationalisierten Geschäften der Fall, in welchen staatliche Akteure eigene Interessen zu vertreten haben. Sie sind in solchen Fällen besonders aktiv und versuchen, möglichst viele (kritische) Akteure in die Lösungsfindung einzubeziehen.
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Die relativ kleine Grösse der schweizerischen politischen Elite spielt ebenfalls eine Rolle. Es ist von Vorteil, wenn sich Akteure bereits aus anderen Sektoren kennen: Zusammenarbeit in einem spezifischen Prozess wird durch existierende Zusammenarbeit in parallelen Prozessen begünstigt. Dies ist vor allem der Fall, wenn sich der spezifische Prozess mit relativ breiten und sektorübergreifenden Themen auseinandersetzt.
Es kommt auf das System an
Dass in der Schweizer Politik alle Akteure grundsätzlich eng zusammenarbeiten, ist ein Mythos. Vielmehr geschieht Zusammenarbeit unter dem Einfluss spezifischer Faktoren. Die wichtigsten davon sind ähnliche ideologische Präferenzen zwischen den Akteuren und der Einfluss der Akteure. Einerseits arbeiten Akteure, die sich inhaltlich einig sind, stark zusammen, was dem Bild einer breiten Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg und im Rahmen von Sozialpartnerschaften teilweise widerspricht. Andererseits suchen Akteure die Zusammenarbeit vor allem mit einflussreichen Akteuren. Dies wiederum deutet nicht in die Richtung eines breiten Einbezugs von Akteuren, auch von solchen, die weniger wichtig sind.
In einigen Politikbereichen zeigt sich jedoch die Wirkung des Schweizer Konsenssystems. Aus diesen Bereichen könnten allenfalls wichtige Einsichten dazu gewonnen werden, wie die Schweiz der Polarisierung der Politik begegnen könnte.
Exponential Random Graph Models (ERGM) berücksichtigen die Tatsache, dass Beobachtungen in Netzwerken nicht unabhängig voneinander sind, und normale statistische Modelle für die Analyse solcher Daten deshalb ungeeignet sind.
Referenzen:
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Fischer, Manuel und Pascal Sciarini (2015). Drivers of Collaboration in Political Decision Making: A Cross-Sector Perspective. The Journal of Politics online.
- Sciarini, Pascal, Manuel Fischer und Denise Traber (2015). Political Decision-Making in Switzerland. The Consensus Model under Pressure. London / New York: Palgrave Macmillan.