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Das entzauberte Schweizer Parlament — Kompromisse werden zunehmend schwieriger

Denise Traber
30th November 2015

Die Bundesratsparteien waren sich in den letzten beiden Legislaturperioden deutlich weniger einig als in früheren Zeiten. Die Polarisierung des Parteiensystems hat Auswirkungen auf die parlamentarische Entscheidungsfindung. Für die Parteien sind allerdings nicht alle Vorlagen gleich wichtig. Vor allem die beiden Polparteien SP und SVP sind bei ihren Kernthemen deutlich weniger zu Kompromissen bereit als in Themenbereichen, die für ihre jeweilige Wählerschaft eine geringere Bedeutung haben.

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 Abnehmender Konsens

Der Ton in der Schweizer Politik ist rauer geworden. Dies zeigt sich auch bei den Koalitionen im Parlament. In den 1990er Jahren waren sich die Bundesratsparteien in rund sieben von zehn Gesamt- und Schlussabstimmungen einig, d.h. die Mehrheiten in ihren Fraktionen stimmten für die Vorlagen. Seit 2007 geht die Einigkeit zurück, weniger als die Hälfte aller vom Parlament bearbeiteten Gesetzesvorlagen werden noch von allen Bundesratsparteien unterstützt (siehe Balken in Abbildung 1). Auch in den Eintretens- und Detailabstimmungen ist ein Rückgang der grossen Koalitionen zu beobachten.

Die SVP stellt sich häufig gegen die andern

Hauptursache für den Rückgang der Einigkeit zwischen den Bundesratsparteien ist die zunehmende Isolierung der SVP: Im untersuchten Zeitraum von 1996 bis 2013 ist der Anteil der Gesamt- und Schlussabstimmungen, in welchen sich eine Mehrheit der SVP-Fraktion gegen die anderen Bundesratsparteien stellt, von knapp 10 auf rund 30 Prozent angestiegen (gestrichelte Linie in Abbildung 1). In anderen Worten ausgedrückt bedeutet dies, dass die SVP rund einen Drittel der vom Nationalrat erarbeiteten Vorlagen nicht mehr mitträgt.

Der Links-Rechts Graben bleibt der wichtigste Konflikt im Schweizer Parlament, scheint sich jedoch insgesamt eher abzuschwächen als zu verstärken (siehe durchgezogene Linie in Abbildung 1). Die Sozialdemokraten opponieren häufiger während der Detailberatung, fast immer gemeinsam mit den Grünen. Im Gegensatz zur SVP schliesst sich die SP aber in den Gesamt- und Schlussabstimmungen auch in jüngster Zeit häufig der CVP und der FDP an. Die SP ist also am Ende der parlamentarischen Debatte eher zu Kompromissen bereit.

Abbildung 1:

Lesebeispiel: Zwischen 1996 und 1999 stimmten die Mehrheiten der Fraktionen der Bundesratsparteien in 15% der Eintretens- und Detailabstimmungen gemeinsam Ja oder Nein. In derselben Legislaturperiode war die SP in 45% der Eintretens- und Detailabstimmungen isoliert, d.h. sie nahm eine andere Position als die übrigen BR-Parteien ein.

 Manche Themen sind wichtiger

Betrachtet man einzelne Politikbereiche etwas genauer, zeigen sich allerdings bedeutende Unterschiede hinsichtlich den Abstimmungskoalitionen, welche teilweise durch das strategische Verhalten der Parteien erklärt werden können.

Parteien verfolgen unterschiedliche Ziele. Einerseits möchten sie sich mit klaren Positionen von ihren politischen Gegnern abheben und damit ihre Wählerstimmen maximieren, andererseits soll ihr Einfluss auf die Gesetzgebung möglichst gross sein (Strom 1990).

In Ländern mit Koalitionsregierungen ist es besonders für die Parteien, welche sich rechts oder links von der Mitte positionieren, oft nicht einfach, diese beiden Ziele zu vereinbaren. Beharren sie zu stark auf ihren Positionen, verlieren sie ihren Einfluss bei der Politikgestaltung. Auf der anderen Seite bringt eine allzu grosse Kompromissfähigkeit die Gefahr mit sich, die Wähler vor den Kopf zu stossen. Denn Parteien werden nicht zuletzt daran gemessen, ob sie die Wahlversprechen in Taten umsetzen.

Im Schweizer Parlament sind die Parteien nicht an einen Koalitionsvertrag gebunden. Wechselnde Koalitionen sind möglich und die einzelnen Parteien können sich deshalb in gewissen Politikbereichen kompromissfähig zeigen und in anderen Härte demonstrieren. Die SVP macht besonders - und in zunehmendem Masse - von dieser Möglichkeit der „fallweisen Opposition“ Gebrauch (Linder und Schwarz 2008). Und sie tut dies vor allem in der Migrations- und Europapolitik (gestrichelte Linie in Abbildung 2).

In anderen zentralen Politikbereichen, wie beispielsweise der Wirtschafts- und Sozialpolitik, stimmen die Mitglieder der SVP viel häufiger mit den anderen Bundesratsparteien. Dies, weil die Positionen näher beieinander liegen, aber auch, weil diese politischen Entscheide für die SVP-Wählerschaft weniger wichtig sind.

Auch die SP ist in wichtigen Politikbereichen isoliert. Insbesondere in der Wirtschaftspolitik steht sie oft in Opposition zu den anderen Bundesratsparteien (durchgezogene Linie in Abbildung 2). In der Sozialpolitik geht die SP seit 2011 wieder etwas häufiger eine Koalition mit der CVP ein, weicht aber immer noch in knapp 40 Prozent der Abstimmungen von den übrigen Bundesratsparteien ab.

Abbildung 2:

Gespaltene Rechte

Die Migrations- und Asylpolitik wird von Schweizerinnnen und Schweizern in Befragungen seit Jahren regelmässig als wichtigstes Problem genannt, aber auch soziale und wirtschaftliche Themen stehen weit oben auf der Liste (Lutz 2012).

Das Oppositionsverhalten der linken und rechten Bundesratsparteien hat dazu geführt, dass der Konsens in diesen Politikbereichen markant gesunken ist (siehe Balken in Abbildung 2). Nur noch 20 Prozent der sozialpolitischen und rund 35 Prozent der wirtschaftspolitischen Vorlagen wurden in den Schlussabstimmungen der letzten Legislatur von allen Parteien getragen (Traber 2015). In der Migrationspolitik hat diese Polarisierung schon vor dem untersuchten Zeitraum stattgefunden, verstärkte sich in den letzten Jahren aber noch.

In der Europapolitik schliesslich hatte die zunehmende Spaltung der Rechten einen dramatischen Rückgang der grossen Koalition zur Folge, wie in Abbildung 2 zu sehen ist. Aber auch in anderen Politikbereichen ist die Rechte gespalten. Da seit den Wahlen im Oktober die FDP und die SVP (zusammen mit Lega und MCG) bei geschlossenem Stimmverhalten über eine absolute Mehrheit im Nationalrat verfügen, wird eine der entscheidendsten Fragen der neuen Legislatur sein, ob sich die rechten Parteien einigen können, oder ob die SVP den Oppositionskurs in ihren zentralen Wahlthemen weiterführen wird.

Infobox: Daten der Analyse

Die Untersuchung basiert auf Abstimmungsdaten des Schweizer Nationalrats, welche seit der Einführung des elektronischen Abstimmungssystems 1996 gespeichert werden. Koalitionen werden definiert als gemeinsames Abstimmungsverhalten der Mehrheit zweier oder mehrerer Fraktionen.

Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von:

Traber, Denise (2015). Disenchanted Swiss Parliament? Electoral Strategies and Coalition FormationSwiss Political Science Review 21(4).


Referenzen: 

  • Linder, Wolf und Daniel Schwarz (2008). Möglichkeiten parlamentarischer Opposition im schweizerischen System. Parlament, Parlement, Parlamento 2/08: 4-10.
  • Lutz, Georg (2012). Eidgenössische Wahlen 2011. Wahlteilnahme und Wahlentscheid. Lausanne: Fors.
  • Strom, Kaare (1990). A Behavioral Theory of Competitive Political Parties. American Journal of Political Science 34(2): 565-598.

Foto: Parlamentsdienste 3003 Bern, parlament.ch