1

Wieso Eingebürgerte nicht wählen gehen

Blerta Salihi
6th November 2015

Eingebürgerte Migranten beteiligen sich weniger an nationalen Wahlen als Gebürtige eines Landes. Die Unterschiede zwischen den europäischen Ländern sind gross. Auch in der Schweiz nehmen Eingebürgerte seltener an Wahlen teil. Die Gründe dafür liegen nicht nur bei den Migranten.

In der Schweiz geht im Durchschnitt etwa jede zweite wahlberechtigte Person wählen. In den europäischen Nachbarländern liegt die Wahlbeteiligung höher, im Durchschnitt geben drei von vier Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Dies gilt aber nicht für Eingebürgerte. Ihre Wahlbeteiligung ist tiefer, etwa zwei von fünf Eingebürgerten gehen im Durchschnitt an die Urne. Dies ergab eine Befragung des European Social Survey aus dem Jahr 2012.

Anteil Wähler und Nicht-Wähler in Europa

Mögliche Gründe für die tiefe Wahlbeteiligung von eingebürgerten Migranten:
  • Eingebürgerte werden trotz erworbenem Pass als Ausländer angesehen. Das erschwert ihnen die vollständige Identifikation mit dem Ansiedlungsland. Migranten - auch eingebürgerte - engagieren sich politisch öfter mit Bezug zu ihrem Herkunftsland, die Teilnahme an der Politik im Ansiedlungsland bleibt eher schwach.

  • Viele der eingebürgerten Migranten wanderten als Gastarbeiter in ihre neue Heimat ein und hatten ursprünglich vor, irgendwann wieder in die alte Heimat zurückzukehren. Daher erschien ihnen die Teilnahme am politischen Geschehen im Ansiedlungsland lange Zeit als nicht besonders wichtig.

  • Politische Teilnahme setzt die Auseinandersetzung mit den lokalen politischen Institutionen sowie den zur Wahl antretenden Personen voraus. Das bedingt sehr gute Sprachkenntnisse. 

In der Schweiz gehen viele Eingebürgerte nicht wählen

In der Schweiz ist der Unterschied in der Wahlbeteiligung zwischen Personen mit und Personen ohne Migrationshintergrund besonders gross. Die Wahrscheinlichkeit an Wahlen teilzunehmen liegt für gebürtige Schweizerinnen und Schweizer um ein Viertel höher als für Eingebürgerte.  

Anteil Wähler und Nicht-Wähler in der Schweiz

Hoher Anteil ausländischer Staatsangehöriger

Knapp ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz hat nur eine ausländische Staatsangehörigkeit, das ist einer der höchsten Ausländeranteile innerhalb der OECD. Das hat auch mit der restriktiven Einbürgerungspolitik des Landes zu tun.

Hohe Hürden für Einbürgerung

Es gibt kaum einen anderen Staat in Europa, der Ausländern die Einbürgerung derart schwer macht wie die Schweiz (Strijbis 2013). In der Schweiz gilt das ius sanguinisch Prinzip: Nur wer einen Schweizer Elternteil hat, wird als Schweizer geboren. Eine spätere Einbürgerung ist zwar möglich, ihr geht allerdings ein langwieriger Prozess voraus, der sich zwischen Kantonen und Gemeinden stark unterscheiden kann (siehe Infobox).  

Kein Pass, kein Engagement

In der Schweiz verfügt fast jede vierte erwachsene Person nicht über das Wahlrecht auf nationaler Ebene und kann sich folglich politisch nicht voll engagieren. Der schwierige Zugang zur Schweizer Staatsbürgerschaft ist ein Grund dafür, dass dieser Anteil so hoch ist. Die häufige Gleichsetzung von Migranten mit Ausländern in der Gesellschaft erklärt ebenfalls, weshalb sich Personen mit Migrationshintergrund in der Schweiz weniger politisch einbringen, dafür aber immer noch stark an der Politik ihres Herkunftslandes interessiert sind.  

INFOBOX

ius sanguinis Prinzip: Das ius sanguinis, auch Abstammungsprinzip genannt, beruht auf der Abstammungsangehörigkeit. Dabei verleiht ein Staat seine Staatsbürgerschaft an alle Kinder, deren Eltern schon aus diesem Staat stammen. Unter dem ius sanguinis Prinzip ist die Staatsangehörigkeit dieser Nationen ein natürliches, angeborenes Recht. Die einzige Voraussetzung sie zu erlangen ist, dass man aus einer bestimmten Gruppe stammt. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung ist darum ein langjähriger und komplexer Prozess.

ius soli Prinzip: Das ius soli, auch Geburtsortprinzip genannt, steht für die einfachere Art des Erwerbs der Staatsangehörigkeit. Dabei verleiht ein Staat seine Staatsbürgerschaft zum einen automatisch an alle Kinder, die auf seinem Staatsgebiet geboren werden. Zum anderen ist der Erwerb der Staatsbürgerschaft auch durch Einbürgerung verhältnismässig einfach. Ein Einbürgerungsantrag kann nach wenigen Jahren Wohnsitz im Land gestellt werden, die Einbürgerung ist - sofern die gestellten Voraussetzungen eingehalten werden - ein reiner Verwaltungsakt.

 

Integration durch Einbürgerung

In Staaten, die das ius soli Prinzip anwenden, werden Einwanderer in der Regel schneller in die bestehende Gesellschaft integriert. Studien aus dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Forschungsbericht BAMF 2012) weisen darauf hin, dass Einge­bürgerte durch bessere Teilhabechancen besser integriert sind als Nicht-Eingebür­gerte. Eine verhältnismässig schnelle und einfache Einbürgerung erhöht die Integrationsbereitschaft. Dazu gehört beispielsweise die aktive Teilnahme am politischen Leben, unter anderem die Wahlteilnahme.

In Frankreich und Deutschland sind eingebürgerte Migranten politisch besser integriert. So gibt es in Frankreich beispielsweise in der Wahlbeteiligung keinen bedeutenden Unterschied zwischen Gebürtigen und Eingebürgerten. In Frankreich reichen auch bereits fünf Jahre Wohnsitz, ein einwandfreier Leumund und die Kenntnisse der französischen Sprache und Kultur aus, um einen Einbürgerungsantrag zu stellen. Auch in Deutschland fällt der Unterschied kleiner aus als in der Schweiz, ist aber grösser als in Frankreich.  

Verschiedene Länder – unterschiedliche Staatsideen

Frankreich und Deutschland gründen auf unterschiedlichen Staatsideen. Frankreich gilt als eine typische Staatsnation, in der der gemeinsame Wille des Volkes zur Bildung einer politischen Gemeinschaft entscheidend ist. Merkmale wie Kultur, Abstammung und Sprache spielen eine sekundäre oder gar keine Rolle. Diese Staaten machen es Migranten einfacher, sich mit dem Erlangen der Staatsbürgerschaft als Teil der Gemeinschaft zu fühlen. In solchen Ländern ist das Volk typischerweise sehr heterogen und es gibt nicht nur ein Verständnis von nationaler Identität.

Deutschland hingegen versteht sich als Kulturnation. In Kulturnationen erfolgt die Entwicklung des „Wir-Gefühls“ auf Grund einer gemeinsamen Sprache, Religion oder Kultur. Für Personen, die erst als Erwachsene in ein solches Land immigrieren, ist es wesentlich schwieriger, sich mit ihm zu identifizieren.

Es ist aus oben genannten Gründen nachvollziehbar, dass der Unterschied in der Wahlbeteiligung zwischen Gebürtigen und Eingebürgerten in Deutschland grösser ist als in Frankreich.  

Die Schweiz - ein Widerspruch? 

Die Schweiz gilt ebenfalls als Staatsnation. Sie beruht auf dem gemeinsamen Willen des Volkes, eine Nation zu bilden – trotz der bestehenden sprachlichen, kulturellen und religiösen Vielfalt. Die Staatsbürgerschaft wird jedoch nach dem ius sanguinis Prinzip verliehen.

Staatsideen und Bürgerrecht

Wahlbeteiligung

Dass auch eingebürgerte Migranten im neuen Heimatland politisch weniger aktiv sind, liegt nicht nur daran, dass diese politisch weniger interessiert sind oder im Durchschnitt tieferen sozialen Schichten angehören, wie das einige bisherige Studien aufzeigten (vgl. Cueni und Fleury 1994). Einen genauso bedeutenden Einfluss auf die politische Partizipation von Migranten hat die neue Heimat. 

INFOBOX

Staatsnation: Für Staatsnationen ist der gemeinsame Wille zur politischen Gemeinschaft entscheidend. Merkmale wie Kultur, Abstammung und Sprache spielen eine sekundäre oder gar keine Rolle. Dieses Nationsverständnis findet sich in der Amerikanischen und der Französischen Revolution, sowie auch in der Helvetischen Eidgenossenschaft.

Kulturnation: Die Kulturnationen verstehen sich als eine Kultur- und Abstammungsgemeinschaft, in die man in der Regel schicksalhaft hineingeboren wird. Sie definieren sich durch gemeinsame ethnische Merkmale wie Sprache, Kultur oder Religion. Den typischen Fall einer Kulturnation in Europa stellt Deutschland dar.


Referenzen:

Foto: Flickr (bearbeitet)