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Muslime in Europa – eine Minderheit, die die Demokratie zu schätzen weiss

Dina Wyler
4th November 2015

Europäische Muslime sind deutlich zufriedener mit der Demokratie als ihre christlichen Mitbürger. Vor allem in Deutschland und Frankreich lassen sich grosse Unterschiede erkennen – trotz steigender Fremdenfeindlichkeit und Einschränkungen in der Religionsausübung. Dina Wyler unternimmt in ihrer Bachelorarbeit einen Erklärungsversuch der höheren Demokratiezufriedenheit der Muslime.

In vielen europäischen Ländern hat sich das gesellschaftliche Klima gegenüber Muslimen in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Eine Erhebung der Europäischen Union zu Minderheiten und Diskriminierung aus dem Jahr 2009 zeigte, dass jeder dritte Muslim in Europa Diskriminierungen erlebt hat. Die teilweise vorhandene ablehnende Haltung gegenüber Muslimen widerspiegelt sich beispielsweise in der Protestbewegung Pegida (Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes), die seit einiger Zeit in vielen europäischen Städten Zuspruch findet.

Die Toleranz gegenüber muslimischen Symbolen ging in Europa ebenfalls deutlich zurück. Eine Meinungsumfrage des Pew Research Center von 2010 zeigte, dass mittlerweile 82 Prozent der Franzosen ein Verbot des muslimischen Ganzkörperschleiers befürworten. Auch in Deutschland und Grossbritannien sprachen sich eine Mehrheit der Bevölkerung mit 71 beziehungsweise 62 Prozent für ein Verbot aus.

Religionseinschränkungen und Fremdenfeindlichkeit

Die ablehnende Haltung gegenüber muslimischen Symbolen in der Öffentlichkeit schlägt sich auch in der nationalen Gesetzgebung nieder: So wurden beispielsweise in Belgien und Frankreich im Jahr 2011 landesweite Verbote zum Tragen einer Burka verhängt. Diese Massnahme wurde mit dem Verweis auf sicherheitspolitische Massnahmen begründet. In Frankreich wurde zudem das muslimische Kopftuch für weibliche Angestellte mit Kundenkontakt als unerwünscht deklariert. Neben Kleidungsstücken sorgen aber auch andere muslimische Symbole für hitzige Debatten. In der Schweiz wurde im Jahr 2009 eine Volksinitiative angenommen, welche den Bau von Minaretten landesweit verbot.

Überdurchschnittlich hohe Demokratiezufriedenheit

Entgegen der Annahme haben die zunehmenden Einschränkungen in der Religionsausübung die Einstellung der europäischen Muslime gegenüber der jeweils nationalen Regierung und dem politischen System nicht verschlechtert - im Gegenteil: Muslime in europäischen Ländern weisen eine höhere Demokratiezufriedenheit auf als ihre christlichen Mitbürger (siehe Abbildung). Dies  zeigt die jüngste Befragung des European Social Survey (ESS) aus dem Jahr 2012 (siehe Infobox).

Abbildung: Demokratiezufriedenheit von Christen und Muslimen in Europa

INFOBOX: Methode

Der ESS (European Social Survey) ist eine länderübergreifende Umfrage, welche alle zwei Jahre europaweit durchgeführt wird. Die Umfrage misst Einstellungen und Verhalten von Individuen in 29 europäischen Ländern. 2012 umfasste ein Teil des Fragekatalogs Fragen zum Verständnis und zur Bewertung der Demokratie. Die Frage, die den Befragungsteilnehmern gestellt wurde, lautete: "On the whole, how satisfied are you with the way democracy works in [country]?" Dabei konnte die Demokratiezufriedenheit auf einer Skala von null bis zehn angegeben werden, wobei null absolut unzufrieden und zehn absolut zufrieden bedeutet. Um die durchschnittliche Demokratiezufriedenheit der Muslime zu ermitteln, wurden die Mittelwerte der gegebenen Antworten verglichen.

Die insgesamt 416 befragten Muslime aus der Schweiz, Schweden, Deutschland, Belgien, Grossbritannien und Frankreich zeigten sich überdurchschnittlich zufrieden mit der Demokratie im eigenen Land. Ihre Bewertung fiel im Durchschnitt um  0.5 Punkt besser aus als jene der christlichen Mitbürger.

Eine mögliche Erklärung für die überdurchschnittliche Demokratiezufriedenheit der Muslime könnte ihr häufiger Migrationshintergrund sein:

«Eventuell funktioniert die Demokratie im Befragungsland besser als in den jeweiligen Herkunftsländern oder aber im Herkunftsland bestand überhaupt keine Demokratie. Die immigrierten Muslime haben eine andere Vergleichsgrundlage als viele Christen und stufen daher die Art und Weise, wie die Demokratie im Migrationsland funktioniert, besser ein.»

Dina Wyler

Die Daten scheinen diese These zu stützen: Von den 416 befragten Muslimen im ESS Datensatz sind 261 im Ausland geboren und erst später ins Befragungsland eingewandert. Die Auswertung zeigt tatsächlich, dass im Ausland geborene Muslime um 0.4 Punkte zufriedener mit der Demokratie sind als ihre im Land selbst geborenen Glaubensbrüder.

Grösste Differenz in Deutschland

Die Muslime sind in allen untersuchten Ländern zufriedener mit der Demokratie als die Christen, es bestehen aber deutliche länderspezifische Unterschiede. In Schweden ist der Unterschied zwischen Muslimen und Christen minimal. Und auch in Grossbritannien und Belgien ist die Abweichung sehr gering. In Deutschland und Frankreich hingegen sind die Unterschiede gross. In diesen Ländern sind die Muslime deutlich zufriedener mit der Demokratie als ihre christlichen Mitbürger. Am deutlichsten fällt der Unterschied in Deutschland, dem Land der Pegida-Gründung aus. Die Muslime sind im Durchschnitt beinahe einen ganzen Prozentpunkt zufriedener mit der Demokratie als die Christen.

Wieso die Demokratiezufriedenheit der Muslime deutlich über dem Durchschnitt liegt und weshalb gerade in Deutschland und Frankreich so grosse Unterschiede bestehen, kann nicht abschliessend beantwortet werden. Es konnte jedoch ein Zusammenhang zwischen dem Ausmass der Religionsfreiheit eines Landes und der Höhe der Demokratiezufriedenheit der Muslime festgestellt werden. Je weniger die Muslime durch nationale Gesetzgebungen in ihrer Religionsausübung eingeschränkt werden, desto zufriedener sind sie mit der Demokratie.

Mit diesen neuen Erkenntnissen bieten die ausgewerteten Daten des ESS einen Beitrag zur Diskussion über den europäischen Islam und die Frage, inwiefern dessen Werte mit den westlichen Werten vereinbar seien. Die Analyse zeigt, dass viele Muslime in Europa die Demokratie und ihre Institutionen wertschätzen und gerne ein Teil dieser Staatsform sind.

Laut Khaldoun Dia-Eddine, Vizepräsident der Föderation der Islamischen Dachorganisationen Schweiz (FIDS), unterstreichen die Resultate der Arbeit, dass sich die Migranten unter den in Europa lebenden Muslimen in ihre neue Heimat eingegliedert und viele Werte der hiesigen Gesellschaften angeeignet haben. Die Analyse zeige, dass ein Grossteil der Muslime Europas die Werte der Demokratie nicht verwerfen oder diese als inkompatibel mit der Lehre des Islams betrachte. Ebenfalls zeigen die aufgestellten Hypothesen der Arbeit beispielhaft auf, dass viele vorkonzipierten Ideen über die Muslime zu falschen Verhandlungsschritte führen können. So führe die bestehende Islamfeindlichkeit in Europa nicht zwingend zu einem Groll gegenüber der nationalen Regierung oder dem politischen System.

Die FIDS freue sich über die Resultate der Arbeit, seien sie doch ein Beweis dafür, dass die Bemühungen der Islamischen Organisationen für die Integration der Muslime und die Etablierung von Dialogen zwischen den verschiedenen Sozialpartnern mit der Zeit ihre Früchte tragen würden.


Foto: Flickr