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Mit Straffung und Entlastung die Milizstrukturen in kleinen Gemeinden erhalten

Oliver Dlabac
2nd November 2015

Das Milizprinzip stösst auch auf Gemeindeebene zunehmend an seine Grenzen. Vielerorts ist es kaum mehr möglich, geeignete und willige Kandidierende für lokale politische Ämter zu finden. Die althergebrachten Milizstrukturen in kleineren Gemeinden müssen gestrafft und administrativ entlastet werden. Neue Modelle der Gemeinde- und Schulführung werden bereits praktiziert.

Jedes Schweizer Dorf hat einen von der ansässigen Bevölkerung gewählten Gemeinderat, welcher zur Verwaltung der Gemeinde durch verschiedene Kommissionen beraten und unterstützt wird. Zusätzlich müssen auch regelmässig die Ämter selbständiger Kommissionen wie Schulpflegen, Kirchenpflegen und Sozialbehörden besetzt werden. In all diesen Fällen handelt es sich üblicherweise um Milizämter. Das heisst, dass die Bürgerinnen und Bürger ihr Amt teil- oder ehrenamtlich ausüben und meist über ein zweites Standbein in der Berufswelt verfügen. 

Obwohl das Milizprinzip oft mit Bürgernähe, Gemeinsinn und schlanker Verwaltung assoziiert wird, ist dessen Bestehen doppelt herausgefordert. Zum einen senken die beruflichen und familiären Anforderungen die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger für ein ehrenamtliches Engagement, zum anderen führen erhöhte gesellschaftliche Ansprüche, wie sie sich auch in kantonalen Vorgaben niederschlagen, zur Überforderung der kommunalen Laienbehörden.

Rekrutierungsprobleme in ländlichen Gemeinden

Im Rahmen einer Studie am Zentrum für Demokratie Aarau hat unser Forscherteam auf der Grundlage der kommunalen Wahlergebnisse – schweizweit erstmalig – die objektive Entwicklung der Rekrutierungsprobleme bei den Aargauer Gemeinderatswahlen über die letzten drei Jahrzehnte nachgezeichnet.

Abbildung 1 zeigt eindrücklich, dass sich unumstrittene Wahlen – d.h. Wahlen mit gleich viel oder weniger Kandidierenden, als Sitze zu vergeben sind – vor allem in den eher ländlich geprägten Gemeinden zunehmend häufen, während für Zentren und ihre unmittelbaren Vororte eher ein leichter Trend hin zu umstritteneren Wahlen ausgemacht werden kann.

Abbildung 1: Unumstrittene Gemeinderatswahlen in städtischen und ländlich geprägten Gemeinden des Kantons Aargau, 1982-2014

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Bemerkung: Für detailliertere Auswertungen s. oben erwähnte Studie

Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei Betrachtung des erweiterten Milizsystems, also bezüglich der verschiedenen kommunalen Kommissionen. 

Im Kanton Aargau sind insgesamt fast neun von zehn ländlich geprägten Gemeinden mit einer ungenügenden oder zumindest knappen Anzahl Kandidierender konfrontiert (Abbildung 2).

Abbildung 2: Schwierige Besetzung von Kommissionen in städtischen und ländlich geprägten Gemeinden des Kantons Aargau, 2014

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Quelle: Eigene Befragung der Aargauer Gemeindeschreiber/innen

Neue Modelle der Verwaltungsführung

Als Antwort auf die Rekrutierungsschwierigkeiten in den ländlichen Gemeinden werden neben Gemeindefusionen und gemeindeübergreifenden Zweckverbänden auch neue Modelle der Verwaltungsführung in Erwägung gezogen.

Gemeinden mit grösseren Verwaltungen vorbehalten bleibt das bereits etablierte Modell «Geschäftsleitung», in welchem dem Gemeinderat pro Ressort ein verwaltungsinterner Abteilungsleiter unterstellt ist. Für kleinere Gemeinden bietet sich stattdessen die Option, das Gemeindepräsidium in ein vollamtliches Amt umzuwandeln, wie dies seit jeher in der Ostschweiz praktiziert wird.

Zum anderen blicken immer mehr Gemeinden in Richtung Luzern, wo zahlreiche Gemeinden den Gesamtrat im angemessen entschädigten Teilamt anstellen (z.B. je 20%), und welche zudem ihrem strategisch ausgerichteten Gemeinderat eine operativ tätige Geschäftsleitung zur Seite stellen (Modell «Verwaltungsrat»; Bürkler und Lötscher 2014). Unsere Befragung im Kanton Aargau zeigt allerdings, dass vor allem die kleineren, ländlich geprägten Gemeinden am traditionellen Miliz-Modell der «Sachbearbeitung» festhalten: die meisten Verwaltungsarbeiten werden durch die ehrenamtlichen Gemeinderäte und verschiedenen Kommissionsmitglieder gleich selbst erledigt, ohne auf professionelle Kaderangestellte abstellen zu können.

Folglich sind es gerade jene kleineren Gemeinden mit ausgedehnter Milizstruktur, welche bei der Besetzung ihrer Gemeinderäte und Kommissionen die grössten Schwierigkeiten haben. Die statistische Analyse zeigt, dass unter kleineren Gemeinden (bis 5'000 Einwohner) diejenigen Gemeinden von Rekrutierungsproblemen verschont bleiben, welche auf eine der obigen Reformen gesetzt haben. Ob die Gemeinde 500 oder 3'000 Einwohner hat, spielt dabei statistisch keine Rolle mehr. Wollen kleine Gemeinden aus Gründen der politischen Identität auf eine Fusion zu einer grösseren Gemeinde verzichten, kommen sie also über kurz oder lang nicht umhin, ihre ehrenamtlichen Amtsträger administrativ zu entlasten.

 Neue Modelle der Schulorganisation

Neben der Entlastung braucht es auch eine Straffung der Milizstrukturen, wie dies am Beispiel der Schulorganisation illustriert werden soll. Historisch leitet sich die separat gewählte Schulpflege nämlich vom Anliegen ab, die öffentliche Schule von politischen Einflussversuchen zu schützen und für ihre gesellschaftliche Verankerung zu sorgen, indem sie für den Betrieb und die öffentliche Aufsicht der Schulen verantwortlich ist.

Heute wird die Laienbehörde aber zunehmend wegen der fehlenden zeitlichen und fachlichen Ressourcen sowie wegen der Selbstselektion von Eltern schulpflichtiger Kinder kritisiert. Nach der Delegation der operativen Führung der Schulen an professionelle Schulleitungen verlagern nun zahlreiche Kantone auch die verbleibende strategische Führungsaufgabe zunehmend an das zuständige Mitglied im Gemeinderat. Dieses präsidiert dann die – allenfalls nur noch beratende – Schulkommission, oder die Gemeinde kann von einer entsprechenden Kommission auch gänzlich absehen (für den Kanton Bern vgl. Hangartner und Svaton 2015). Im Kanton Solothurn wurden die Schulpflegen 2006 gar flächendeckend abgeschafft, und ähnliche Pläne gibt es auch im Kanton Aargau.

 Das Ende des Milizprinzips?

Die berichteten Rekrutierungsprobleme und die eingeschlagenen Reformen legen die Frage nahe: Ist das Milizprinzip am Ende? Wird die lokale Demokratie zunehmend abgelöst durch einen aufgeblähten kommunalen Verwaltungsapparat? Die hier präsentierten Befunde legen eine differenziertere Betrachtungsweise nahe.

Tatsächlich darf bezweifelt werden, dass die weit verzweigten Milizstrukturen in kleineren Gemeinden noch lange aufrechterhalten werden können. Dies gilt insbesondere, wenn konsequent auf den Aufbau einer professionellen Gemeindeverwaltung verzichtet wird. Appelle an politische Bürgerpflichten werden wenig nützen, ebenso erscheint die von Avenir Suisse lancierte Idee eines obligatorischen Bürgerdienstes in einer freiheitlich orientierten Gesellschaft kaum als gangbarer Weg. Vor allem aber stehen gerade für kleine Gemeinden zahlreiche strategische Entscheide an, welche eher von teilamtlichen Milizpolitikern erwartet werden können, welche sich dafür genügend Zeit einräumen und ausreichend durch die Gemeindeverwaltung entlastet werden. Da wir es in kleinen Gemeinden mit rudimentären Verwaltungsapparaten zu tun haben, kann bereits mit ein bis zwei zusätzlichen Kaderangestellten schon sehr viel erreicht werden. Die Gefahr aufgeblähter Verwaltungen ist aufgrund der fiskalischen Zwänge in diesen Gemeinden ohnehin ausgeschlossen.

Auch bedeutet die Übertragung der politischen Verantwortung zur Führung der öffentlichen Schule an den Gemeinderat nicht, dass damit die lokale Demokratie oder das Milizprinzip untergraben werden. Der Gemeinderat und dessen als Schulvorstand gewähltes Mitglied gewinnen ihre demokratische Legitimation genauso durch die Volkswahl. Zudem handelt es sich beim Gemeinderat selbst bei Einführung von Teilzeitpensen weiterhin um eine Milizbehörde, das heisst die Amtsinhaber haben üblicherweise noch immer ein zweites Standbein in der Berufswelt.

Mit dem Verzicht auf Parallelstrukturen wird der Gemeinderat aber als Herzstück des Milizsystems gestärkt, mit der Folge, dass sich das Feld an interessierten und geeigneten Kandidierenden massgeblich erweitert. Der Unterschied liegt also in umstritteneren Wahlen und echter demokratischer Legitimation. Auch muss sich der Gemeinderat weiterhin gegenüber der Gemeindeversammlung verantworten. Ist der Gemeinderat gewillt, kann er mit neuen Mitwirkungsverfahren zudem eine breitere gesellschaftliche Verankerung der Schule erreichen, als dies bislang über die unmittelbaren Beziehungsnetze der gewählten Schulpfleger/innen möglich war.

Hinweis: Dieser Text erscheint auch im «Centralblatt Zofingia» Nr. 5/2015. Ein ausführliches Buchkapitel samt statistischen Analysen erscheint in Kürze im Sammelband «Die Gemeinde im Kontext einer sich wandelnden Schul-Governance in der Schweiz» (Arbeitstitel), herausgegeben von Markus Heinzer und Judith Hangartner (Springer VS, 2016, Wiesbaden).


Referenzen:

  • Bürkler, Paul und Alex Lötscher (2014). Gemeindeführungsmodelle im Kanton Luzern. Handlungsempfehlungen. Luzern: Verlag an der Reuss.

  • Dlabac, Oliver et al. (2014). Die Milizorganisation der Gemeindeexekutiven im Kanton Aargau. Rekrutierungsprobleme und Reformvorschläge. Aarau: ZDA. Studienbericht Nr. 4. 

  • Hangartner, Judit, und Carla Jana Svaton (2015). «Kommunale Schulaufsicht zwischen demokratiepolitischer Tradition und intensivierter Führung». In Demokratie in der Gemeinde. Herausforderungen und mögliche Reformen, Schriften zur Demokratieforschung, hrsg. Daniel Kübler und Oliver Dlabac. Zürich/Basel/Genf: Schulthess, 195–216. 

Foto: Ländliche Pendlergemeinde Gipf-Oberfrick, Kurt Zwahlen (CC-Lizenz).