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Die Wahlteilnahme: staatsbürgerliche Pflicht vs. freiwillige Entscheidung

Marian Bohl
15th October 2015

Geht jemand aus Pflichtbewusstsein wählen und falls ja, bei welchen Wahlen? Gibt es Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren? Die internationale Forschergruppe des Making Electoral Democracy Work-Projekts untersucht diese Frage bei unterschiedlichen Wahlen in der Schweiz sowie in Deutschland, Frankreich, Kanada und Spanien. Ihre Resultate zeigen: Je weiter weg das Parlament, beispielsweise die Europawahlen, desto weniger betrachten Bürgerinnen und Bürger die Wahlteilnahme als Pflicht. Junge Menschen sehen dies nicht anders als ältere.

Die unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung der jungen Erwachsenen in der Schweiz ist nicht auf ein weniger ausgeprägtes staatsbürgerliches Pflichtbewusstsein zurückführen. Junge Menschen zeigen sich in Befragungen ebenso davon überzeugt, dass der Gang an die Urne zu den Pflichten eines Staatsbürgers gehört wie ältere Menschen. Trotzdem gehen Junge weniger oft an die Urne.

Andere Länder, andere Haltungen

Für Schweizerinnen und Schweizer ist die Wahlteilnahme ganz klar eine freiwillige Entscheidung. Nur drei von zehn Befragten sind der Ansicht, dass es sich beim Wahlakt um eine staatsbürgerliche Pflicht handelt.

In anderen Ländern ist es genau umgekehrt: Sieben von zehn befragten Kanadier sehen die Wahlteilnahme bei allen Wahlen als Pflicht. In Spanien und Frankreich sind rund sechs von zehn Befragten der Meinung, dass die Teilnahme an regionalen und nationalen Wahlen eine Staatsbürgerpflicht sei. In Deutschland ist es hingegen ähnlich wie in der Schweiz. Nur ungefähr ein Drittel der Befragten betrachtet die Wahlteilnahme als Pflicht, für die Mehrheit ist es eine freiwillige Entscheidung.

Wieso geht jemand überhaupt an die Urne?

Mit einer rein zweckrationalen Kosten-Nutzen-Analyse ist die Wahlteilnahme ganz allgemein schwer zu erklären. Eine einzelne Person kann durch die Wahlteilnahme nur minim auf das Ergebnis einwirken oder die Politik zu ihren Gunsten verändern. Zudem ist es aufwändig, sich über die Parteien und Kandidierenden zu informieren, die Wahlunterlagen auszufüllen und abzuschicken oder am Wahltag in die Urne zu werfen. Heuristiken (s. Infobox) können die Informationskosten verringern, jedoch muss es auch andere, nicht rein zweckrationale Gründe für die Wahlbeteiligung geben.

INFOBOX: Heuristiken

Heuristiken sind sogenannte kognitive Abkürzungen, um mit wenig Aufwand und begrenztem Vorwissen die richtige Entscheidung zu treffen (Kahneman 2012). Heuristiken vereinfachen das Erfassen, Verarbeiten und Bewerten von Informationen. Im Zusammenhang mit der Politik sind insbesondere Ideologien, aber auch Vertrauen in Parteien und Kandidierende hilfreich, um den Wahlentscheid zu treffen. Eine Ideologie vereinfacht es der Wählerschaft, neue Informationen und politische Probleme in ihre vorhandene Weltsicht einzubinden. Parteien und Kandidierende als Träger von Ideologien und auch als “politische Label” offerieren fertige Politikpakete aus Antworten zu den drängendsten Fragen der Zeit, sodass sich Wählerinnen und Wähler nicht mit jedem Problem einzeln beschäftigen müssen. 

 

Zufrieden durch das Erfüllen staatsbürgerlicher Pflichten

Manche Menschen haben durch die Wahlteilnahme einen zusätzlichen Nutzen (Aldrich 1993): Sie macht sie zufrieden! Sie sind ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nachgekommen, sie können sich als gute Demokraten fühlen und sich als pflichtbewusste Bürger präsentieren. Dieser Nutzen bedingt aber, dass Bürgerinnen und Bürger davon überzeugt sind, dass die Wahlbeteiligung überhaupt eine Pflicht ist.

Aber auf wie viele und welche Bürgerinnen und Bürger trifft dies zu? Im Rahmen des Making Electoral Democracy Work– Projekts wurden die Bürgerinnen und Bürger aus je zwei ausgewählten Regionen der Schweiz, Deutschland, Frankreich, Kanada und Spanien gefragt, ob sie die Wahlteilnahme an regionalen, nationalen und Europawahlen eher als eine Pflicht oder einen freiwilligen Entscheid betrachten.

Je mehr Einfluss das Volk nehmen kann, desto weniger wichtig sind Parlamentswahlen

Wählerinnnen und Wähler betrachten die unterschiedlichen Wahlen je nach Land und dessen Geschichte anders. Diese internationalen Unterschiede können unter anderem auf die jeweiligen Regierungssysteme zurückgeführt werden (siehe Infobox). 

Tabelle 1:  Wahlteilnahme als Pflicht vs. freiwilliger Entscheid, Unterschiede nach Land und Regierungsebene (2011-2014)

Ebene\Land

 

CA

(ON/QC)

CH

(LU/ZH)

DE

(BY/NDS)

ES

(Cat/Mad)

FR

regional

Pflicht

71.8

31.2

35.1

59.3

 
 

freiwillig

24.7

64.8

60.1

37.3

 
             

national

Pflicht

71.4

35.4

37.7

58.4

63.4

 

freiwillig

24.8

60.7

57.6

38.3

32.5

             

EU

Pflicht

   

26.9

43.9

47.8

 

freiwillig

   

61.6

52.1

46.0

Quelle: Wählerbefragungen „Making Electoral Democracy Work“, electoraldemocracy.com

Anmerkungen zu Tabelle 1: Anteile Befragte, die Wahlteilnahme als Pflicht oder freiwilligen Entscheid betrachten nach Land und Regionen sowie Regierungsebene (regionale, nationale und Europawahlen, 2011-2014). Die ausgewählten Regionen sind in Canada die Provinzen Ontario und Quebec, in der Schweiz die Kantone Luzern und Zürich, in Deutschland die Bundesländer Bayern und Niedersachsen und in Spanien die Regionen Katalonien und Madrid. In Frankreich wurden keine regionalen Wahlen untersucht.

Je näher die Wahlen, desto wichtiger die Teilnahme

Vergleicht man die europäische Ebene mit den nationalen und regionalen Wahlen in Kantonen, Bundesländern oder Provinzen, fällt auf, dass die Teilnahme an Europawahlen überall von weniger Befragten als Pflicht gesehen wird. Bereits frühere Untersuchungen zeigten, dass viele Wählerinnen und Wähler die Europawahl als sogenannte „second-order-elections“, d.h. Wahlen von untergeordneter Wichtigkeit, betrachten (Reif/Schmitt 1980). Die Teilnahme an den Europawahlen sehen die Befragten auch im Durchschnitt überall weniger als ihre Bürgerpflicht an als die Teilnahme an den anderen Wahlen.

Regionale Wahlen werden in Deutschland und der Schweiz von weniger Befragten als Pflicht wahrgenommen als nationale Wahlen, in Spanien und Kanada gibt es keine Unterschiede.
Zu erklären sind diese Werte unter anderem mit der unterschiedlichen Ausgestaltung des Föderalismus bzw. der Dezentralisierung in den betrachteten Ländern und Provinzen.

Autonomiebetrebungen haben Einfluss auf Wahrnehmung der Wahlteilnahme

Spanien und Kanada sind beides Staaten, in denen einzelne Regionen für mehr Autonomie kämpfen. Dies zeigt sich auch in den Befragungen. Die katalanische Wählerschaft, die im Rahmen der Untersuchung befragt wurde, ist mit ihrer Region stark verbunden und betrachtet regionale Wahlen stärker als Bürgerpflicht als die Teilnahme an anderen Wahlen in Spanien. In Kanada sieht es ähnlich aus: die untersuchte Wählerschaft aus Quebec empfindet die Teilnahme an regionalen Wahlen ebenfalls eher als Bürgerpflicht als die Teilnahme an nationalen Wahlen.

Deutschland und in wachsendem Masse auch die Schweiz sind jedoch vermehrt verbundföderalistisch organisiert, wo insbesondere Bundesländer, aber auch Kantone immer häufiger durch nationale Politikentscheide in einer Ausführerrolle und weniger einer Gestalterrolle auftreten, was die wahrgenommene Wichtigkeit der regionalen Wahlen gegenüber den nationalen Urnengängen abschwächt.

Tabelle 2: Pflicht vs.  freiwilliger Entscheid sowie Wahlteilnahme, Kantone Zürich und Luzern 2011

Ebene\Altersgruppe

 

<30

30-59

60+

kantonal

Pflicht

29.38

30

35.52

 

freiwillig

63.72

65.8

62.84

 

Wahlteilnahme

34.05

46.91

60.32

         

national

Pflicht

40.14

33.59

37.16

 

freiwillig

52.55

62.56

61.39

 

Wahlteilnahme

52.04

66.48

77.42

Quelle: Wählerbefragungen „Making Electoral Democracy Work“, electoraldemocracy.com

Anmerkungen zur Abbildung 2: Anteile Befragte, die Wahlteilnahme als Pflicht oder freiwilligen Entscheid betrachten und Anteil derer, die angaben, an der Wahl teilgenommen zu haben, nach Altersgruppe und Regierungsebene geordnet (Zürich und Luzern, kantonale und nationale Wahlen 2011)

Die Wahlteilnahme – Ein Generationenproblem?

In der Schweiz gibt es geringe Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Bei den kantonalen Wahlen ist das Pflichtbewusstsein unter den älteren Wählern etwas höher als bei den Jungen. Das deckt sich auch mit der Beobachtung, dass die ältere Bevölkerung eine höhere Wahlteilnahme aufweist als die jüngere. Die überdurchschnittliche Wahlabsenz der Jungen bei kantonalen Wahlen kann somit durchaus teilweise mit einem Fehlen des staatsbürgerlichen Pflichtbewusstseins erklärt werden.

Die Betrachtung der nationalen Wahlen spricht jedoch eine andere Sprache. Dort ist der Anteil der Pflichtbewussten bei der jungen Generation am höchsten. Und trotzdem weist diese bekanntlich die geringste Wahlbeteiligung auf. Es ist also nicht zutreffend, dass die unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung bei Jungen generell auf ein weniger ausgeprägtes staatsbürgerliches Pflichtbewusstsein zurückgeführt werden kann. Die geringe Wahlteilnahme der jüngeren Generation muss mit anderen Faktoren erklärt werden.

INFOBOX: Unterschiedliche Regierungssysteme

Kanada hat ein sogenanntes Westminstersystem nach britischem Vorbild. Das Parlament hat eine starke Stellung und die Regierung wird von einer einzigen Partei gebildet. Entscheide, die das Parlament und die Regierung treffen, können nicht von einem Verfassungsgericht wieder ausser Kraft gesetzt werden. Die Wahlteilnahme ist in einem solchen System stark aufgewertet, weil die Bürgerinnen und Bürger keine andere Möglichkeit haben, Einfluss auf die Politik zu nehmen als das Parlament zu wählen.

In Frankreich sind Parlamentswahlen darum weniger wichtig als in Kanada, weil zeitnah auch der Präsident direkt vom Volk gewählt wird und mit seinen politischen Vorrechten die Macht des Parlaments einschränkt. Trotzdem sind nationale Parlamentswahlen aufgrund Frankreichs zentralisierten Staatsaufbaus politisch relevanter als in anderen Ländern.

Spanien hingegen ist dezentralisiert, aber nicht föderal organisiert und wird national von Einparteienregierungen geprägt. Die Bürgerinnen und Bürger haben mehr Möglichkeiten zur Politikbeeinflussung als in Frankreich. In Spanien finden auch Wahlen auf regionaler und lokaler Ebene statt, die wichtige Politikentscheide vorspuren, jedoch sind die Regionen nicht so autonom wie Gliedstaaten in föderalistisch organisierten Ländern.

Deutschland ist föderalistisch und wird in der Regel von Koalitionsregierungen geführt. Die starke Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland entzieht zudem der einzelnen Parlamentswahl zusätzlich Gestaltungsspielraum. Gesetze, die das Parlament verabschiedet hat, können vom Bundesverfassungsgericht wieder ausser Kraft gesetzt werden. 

In der Schweiz dominieren die direkte Demokratie und ein starker Föderalismus. Dazu kommt, dass alle grossen Parteien in die Regierungsverantwortung eingebunden sind. Das Volk kann auf allen Ebenen und auf ganz unterschiedliche politische Fragen regelmässig direkten Einfluss nehmen. Dies führt dazu, dass in allen untersuchten Ländern der geringste Anteil an Bürgerinnen und Bürgern, die die Wahlteilnahme als Pflicht ansehen, aus der Schweiz stammt.

 


Referenzen

  • Aldrich, John H. (1993). Rational Choice and Turnout. American Journal of Political Science 37(1), 246-278.

  • Kahneman, Daniel (2012). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler.

  • Making Electoral Democracy Work. Forschungsprojekt finanziert durch den Social Sciences and Humanities Research Council of Canada. 

  • Reif, Karlheinz und Hermann Schmitt (1980). Nine second-order National Elections – A Conceptual Framework for the Analysis of European Election Results. European Journal of Political Research 8(1), 3-44.

Bild: Flickr