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Der Bisherigenbonus — wer hat, dem wird gegeben

Georg Lutz
8th Oktober 2015

Der wichtigste Erfolgsfaktor, um ins Parlament gewählt zu werden: man sitzt schon drin. Der Bisherigenbonus ist gross. Rund vier von fünf Bisherigen werden jeweils wiedergewählt. Die Kandidaten, die nicht wiedergewählt werden, stolpern vor allem über Sitzverluste ihrer Partei. Die parteiinterne Konkurrenz ist selten ausschlaggebend.

Riesiger Andrang in den Nationalrat

Der Andrang in den Nationalrat ist auch 2015 riesig: über 3800 Kandidierende buhlen um einen der 200 Sitze. Das sind 19 Kandidaturen pro Sitz, so viele wie noch nie zuvor. Die meisten Kandidierenden haben keine Chance und wissen dies auch. Doch es gibt Hunderte, die sich Hoffnungen machen und eine aktive Kampagne führen. Allerdings sind die Wahlchancen alles andere als gleich verteilt: Die mit grossem Abstand besten Wahlchancen haben diejenigen Kandidierenden, die bereits im Parlament sitzen.

Wie in anderen Ländern ist in der Schweiz der Bonus, den Bisherige geniessen, enorm. Dies zeigt eine Auswertung der eidgenössischen Wahlen von 1995 bis 2011. 1995 wurden von 151 Bisherigen, die wieder antraten, 132 Personen (87%) wiedergewählt. Dieser Anteil fiel 1999 auf 79 Prozent, lag aber in den Folgewahlen immer über 80 Prozent. Dies wird auch 2015 kaum anders sein. Die allermeisten der 174 Bisherigen haben sehr gute Chancen, auch in der nächsten Legislatur wieder im Parlament zu sitzen.

Ergebnis der Bisherigen bei den Nationalratswahlen 1995-2011

Quelle: Bundesamt für Statistik, eigene Berechnungen

Zwei Gründe für die Abwahl

Es gibt nur zwei Gründe für eine Abwahl: entweder verliert die Partei einen Sitz oder eine Kandidatin bzw. ein Kandidat wird innerhalb der Parteiliste von jemand anderem überholt. Der Bisherigenbonus ist noch eindrücklicher, wenn man die Gründe für Abwahlen genauer untersucht.

INFOBOX: Die zwei Gründe einer Abwahl

  • Ein Bisheriger verliert den Sitz an einen Parteikollegen. Das passiert, wenn innerhalb der gleichen Liste ein neu Kandidierender mehr Kandidatenstimmen macht als Bisherige. Dies ist dann der Fall, wenn die neue Person häufiger kumuliert oder panaschiert bzw. weniger häufig von der Liste gestrichen wird.

  • Die Partei eines Bisherigen verliert einen oder mehrere Sitze. In diesem Fall ist eine Abwahl nicht durch die Konkurrenz zwischen den Kandidierenden der gleichen Partei bedingt. Die Sitzgewinne der Partei hängen von der allgemeinen politischen Konjunktur und dem Parteienwahlkampf zusammen. Einzelne Kandidierende können den Wahlerfolg einer Partei nur ganz selten beeinflussen.

Sitzverlust entscheidender als interner Konkurrenz

Ein Blick auf die vergangenen nationalen Wahlen zeigt, dass die Kandidierenden weniger die Konkurrenz innerhalb der Partei, sondern den Sitzverlust ihrer Parteiliste fürchten müssen. Von den insgesamt 129 abgewählten Parlamentsmitgliedern zwischen 1995 und 2011 verloren zwei Drittel ihr Mandat, weil ihre Partei einen Sitzverlust erleiden musste. Nur einer von drei Abgewählten wurde von einem Parteifreund auf der gleichen Liste aus dem Parlament verdrängt.

Dabei gibt es allerdings Schwankungen von Wahl zu Wahl. 1995 unterlag nur ein einziger CVPler einem Mitbewerber auf der gleichen Liste. 1999 und 2011 waren es hingegen je zwölf Bishierge, die intern überrundet wurden. 2011 stammten von den zwölf Bisherigen, die durch Parteifreunde ausgebootet wurden, sieben von der SVP. 2011 gab es innerhalb der SVP in Erwartung eines weiteren Wahlgewinns einen harten Konkurrenzkampf um die zusätzlich erhofften Sitze. Dies hatte zur Folge, dass es mehrere neu Kandidierende schafften, Bisherige zu überflügeln. So wurden Ernst Schibli und Ulrich Schlüer in Zürich von Hans Egloff und Christoph Blocher verdrängt, in Bern überholten Albert Rösti und Nadja Pieren die Bisherigen Thomas Fuchs und den Bern-Jurassier Jean-Pierre Graber.

Warum sitzen Bisherige so sicher im Sattel?

Warum haben es Bisherige so viel einfacher? Eine schmeichelnde Erklärung wäre, dass die bisherigen Parlamentsmitglieder im Parlament solide politische Arbeit geleistet haben, die beim nächsten Urnengang von den Wählerinnen und Wählern honoriert wird. In der Realität spielt das nur eine untergeordnete Rolle. Es mag zwar sein, dass viele Parlamentsmitglieder gute Arbeit leisten, allerdings ist kaum anzunehmen, dass eine Mehrheit der Wählenden die Qualität der politischen Arbeit auch beurteilen kann und auf dieser Basis einen Wahlentscheid trifft.

Bekanntheit und Netzwerk entscheiden über Wahl

Naheliegender ist, dass bisherige Kandidierende aus zwei zentralen Gründen einen Startvorteil haben. 

INFOBOX: Der Bisherigenbonus

  • Bisherige sind bereits bekannt. Bisherige bekommen während einer ganzen Legislatur viel Aufmerksamkeit durch die Medien. Bekanntheit ist die wichtigste Währung, um eine Wahl zu gewinnen. Dies gilt in besonderem Masse für Wahlen, in der hauptsächlich die Kandidierenden der gleichen Liste gegeneinander antreten und die Wählerinnen und Wähler die politischen Positionen einzelner Kandidaten kaum unterscheiden können.

  • Bisherige profitieren von einer guten Vernetzung. Die Verflechtungen zwischen Mitgliedern des Parlamentes und Interessengruppen sind in der Schweiz vielfältig und ausgeprägt. Dies ist eine win-win Situation für beide: Interessengruppen erhalten direkten Zugang zu politischen Entscheidungsträgern und setzen sich dafür ein, dass eine bereits aufgebaute Beziehung möglichst erhalten bleibt. Parlamentsmitglieder erhalten dafür neben Ressourcen für ihre politische Arbeit Zugang zu Unterstützung für ihren Wahlkampf, sei es finanziell oder in Form von Empfehlungen an die Mitglieder, die wichtige Zusatzstimmen bringen. Bisherigen gelingt es deshalb auch, im Durchschnitt mehr Geld für ihre Wahlkämpfe zu sammeln als neu Kandidierende.

 Ist der Bisherigenbonus ein Problem?

Auf den ersten Blick betrachtet ist der Bisherigenbonus kein grosses Problem. Die Wählerinnen und Wähler sind in ihrer Wahl frei und es kommt auch immer wieder zu Abwahlen. Jedoch sollte bei den Wahlen auch eine Beurteilung der geleisteten Arbeit stattfinden könne. Dazu sind hingegen die allerwenigsten Wählerinnen und Wähler sind in der Lage.

Entsprechend wird in der Realität die Erneuerung des politischen Personals nur geringfügig durch die Wählerinnen und Wähler bestimmt. Viel mehr hängt sie davon ab, ob ein Parlamentsmitglied selber noch einmal antreten will oder nicht. Auch den Parteispitzen gelingt es kaum, Einfluss darauf zu nehmen, wer nochmals antritt und wer nicht. Mögliche Massnahmen wie eine schlechte Platzierung auf der Liste haben wenig Einfluss auf den Wahlerfolg. Die Bisherigen haben Kraft ihres Mandates auch eine starke Stellung innerhalb der Partei und es gelingt neuen oder jüngeren Kräften nur in Einzelfällen, genügend Druck auszuüben, damit Bisherige zurücktreten.


Referenzen:

  • Milic, Thomas (2014). Gekommen um zu bleiben – der Amtsinhaberbonus bei kantonalen Exekutivwahlen. Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft 20(3), 427-452.

  • Heinsohn, Till und Markus Freitag (2012). Institutional Foundations of Legislative Turnover: A Comparative Analysis of the Swiss Cantons. Swiss Political Science Review (2012) Vol. 18(3): 352–370.

Foto: DeFacto