Wer sich vor einer Abstimmung mittels wissenschaftlicher Fakten informiert

Stüt­zen sich Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger vor Abstim­mun­gen auf wis­sen­schaft­li­che Fak­ten oder ver­trau­en sie der Mei­nung ande­rer? Und wel­che Eigen­schaf­ten von Per­so­nen begüns­ti­gen die Wahl von wis­sen­schaft­li­chen Fak­ten? Wir haben die­se Fra­gen mit­tels einer Befra­gung mit Stu­die­ren­den unter­sucht: Vier von fünf Per­so­nen infor­mier­ten sich durch wis­sen­schaft­lich beleg­te Fak­ten, um einen Ent­scheid zu tref­fen. Die Mei­nung ande­rer bil­de­te nur sel­ten eine Ent­schei­dungs­grund­la­ge. 

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Faktenbasierte Informationen versus Meinungen anderer

Nicht erst, seit „post­fak­tisch“ durch die Gesell­schaft für deut­sche Spra­che e. V. zum deut­schen Wort des Jah­res 2016 gekürt wur­de, wird in der Öffent­lich­keit die Fra­ge dis­ku­tiert, ob beleg­ba­re Fak­ten für die Mei­nungs­bil­dung an Bedeu­tung ver­lie­ren. Ver­ein­facht gesagt, gibt es zwei Wege, wie man sich eine Mei­nung zu einem Sach­ver­halt bil­den kann: Ent­we­der man infor­miert sich fak­ten­ba­siert selbst über die The­ma­tik oder man ver­lässt sich auf eine Emp­feh­lung einer Quel­le, der man vertraut.

Eine Form von fak­ten­ba­sier­ten Infor­ma­tio­nen stel­len Eva­lua­tio­nen dar. Eva­lua­tio­nen bewer­ten mit wis­sen­schaft­li­chen Metho­den, ob eine poli­ti­sche Mass­nah­me die beab­sich­tig­te Wir­kung erzielt, bei­spiels­wei­se ob die Ein­füh­rung einer Fett­steu­er dazu geeig­net ist, das Ess­ver­hal­ten zu ver­än­dern. Folg­lich begüns­tigt die Publi­ka­ti­on von Eva­lua­ti­ons­er­geb­nis­sen in den Medi­en, dass sich Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger ein Bild über die Kon­se­quen­zen einer Abstim­mungs­vor­la­ge machen und dadurch einen dif­fe­ren­zier­ten Ent­scheid für oder gegen die Vor­la­ge tref­fen können.

Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger kön­nen – statt sich sel­ber inten­siv mit der Abstim­mungs­vor­la­ge zu beschäf­ti­gen –  aber auch ein­fach der Mei­nung von Drit­ten ver­trau­en. Dies kann eine Poli­ti­ke­rin oder ein Poli­ti­ker sein, eine bekann­te Per­son oder auch eine Par­tei. Sol­che Ent­schei­dungs­fin­dun­gen wer­den als Heu­ris­ti­ken bezeich­net. Heu­ris­ti­ken füh­ren zwar zu ein­fa­che­ren und schnel­le­ren Ent­schei­den, doch sie kom­men qua­li­ta­tiv nicht an Ent­schei­de her­an, bei denen zuvor eine Aus­ein­an­der­set­zung sowohl mit Pro- als auch Kon­tra­ar­gu­men­ten statt­ge­fun­den hat.

Abstimmung über Fettsteuer in der Uni-Mensa

Wir haben für unse­re Unter­su­chung eine Online-Befra­gung durch­ge­führt (sie­he Info­box). Dabei lies­sen wir Stu­die­ren­de der Uni­ver­si­tät Bern über die Ein­füh­rung einer Fett­steu­er in der Men­sa abstim­men. Die­se Fett­steu­er hät­te zur Fol­ge gehabt, dass unge­sun­des Essen ver­teu­ert und gesun­des Essen ver­güns­tigt würde.

Die Stu­die­ren­den konn­ten sich vor­gän­gig umfas­send über die­se Abstim­mung infor­mie­ren. Dabei hat­ten sie die Wahl zwi­schen heu­ris­ti­schen Tex­ten, in denen die Mei­nung ande­rer dis­ku­tiert wur­de, sowie evi­denz­ba­sier­ten Tex­ten, in denen Eva­lua­ti­ons­er­geb­nis­se the­ma­ti­siert wur­den. In bei­den Fäl­len stand jeweils ein Text mit Argu­men­ten für bzw. gegen die Vor­la­ge zur Ver­fü­gung. Die Stu­die­ren­den konn­ten vor der Abstim­mung zudem den Umfang an Infor­ma­tio­nen wäh­len, das heisst, sie konn­ten ent­schei­den, ob sie nach dem ers­ten Text noch einen zwei­ten und drit­ten lesen.

Die Studierenden informieren sich mehrheitlich anhand von Texten, die sich auf Evaluationen beziehen

In unse­rer Unter­su­chung haben in der ers­ten Wahl vier von fünf teil­neh­men­den Per­so­nen Tex­te zur Infor­ma­ti­on über die Abstim­mung aus­ge­wählt, die sich auf Eva­lua­tio­nen bezie­hen. Nur eine von fünf Per­so­nen hat sich ledig­lich anhand der Mei­nung von ande­ren informiert.

Wenn es dar­um geht, sich für evi­denz­ba­sier­te Infor­ma­tio­nen zu ent­schei­den, war in unse­rer Befra­gung zunächst aus­schlag­ge­bend, ob die Mass­nah­me unmit­tel­ba­re Betrof­fen­heit aus­löst. Geht es jedoch dar­um, sich über ein The­ma zu infor­mie­ren, das einen nicht per­sön­lich betrifft, wei­sen unse­re Ergeb­nis­se dar­auf hin, dass das poli­ti­sche Enga­ge­ment eine zen­tra­le Bedeu­tung für die Wahl von evi­denz­ba­sier­ten Infor­ma­tio­nen einnimmt.

Als poli­tisch enga­giert wird eine Per­son bezeich­net, die sich für Poli­tik inter­es­siert, sich über Poli­tik infor­miert und mit­dis­ku­tiert, wenn es um Poli­tik geht. Das poli­ti­sche Enga­ge­ment hat aber noch eine zwei­te bedeu­ten­de­re Funk­ti­on: Es war in der Befra­gung match­ent­schei­dend, wenn es dar­um ging, sich aus­führ­li­cher über ein The­ma zu infor­mie­ren, das heisst in unse­rem Fall, mehr als nur einen Text zu lesen.

Politisches Engagement ist zentral für eine umfassende Meinungsbildung

Die­ser Befund ist des­halb so wich­tig, weil Stu­die­ren­de, die der Fett­steu­er gegen­über von Anfang an posi­tiv ein­ge­stellt waren, als ers­ten Zei­tungs­ar­ti­kel eher einen sol­chen aus­wähl­ten, der sich für die Ein­füh­rung einer Fett­steu­er aus­sprach, und umge­kehrt. Die­ser „con­fir­ma­ti­on bias“, also der Drang nach Bestä­ti­gung der eige­nen Hal­tung, ver­schwand beim Lesen von meh­re­ren Tex­ten. Das poli­ti­sche Enga­ge­ment sorgt gemäss unse­ren Ergeb­nis­sen dafür, dass sich die Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger ein umfas­sen­des Bild über eine Vor­la­ge machen und bil­det damit die Grund­la­ge für einen inhalt­lich abge­wo­ge­nen Entscheid.

Vor­aus­ge­setzt also, dass die Stimm­be­völ­ke­rung poli­tisch enga­giert ist und evi­denz­ba­sier­te Infor­ma­tio­nen zur Ver­fü­gung ste­hen, wird sie auf die­se zurück­grei­fen, was die Wahr­schein­lich­keit erhöht, einen fun­dier­ten Ent­scheid zu tref­fen. Befürch­tun­gen einer post­fak­ti­schen Demo­kra­tie wer­den somit nicht genährt, doch es zeigt sich, wie zen­tral die Bedeu­tung von Eva­lua­tio­nen für die direk­te Demo­kra­tie ist.

Daten­er­he­bung und Methodik
Die Online-Befra­gung wur­de im Rah­men eines  For­schungs­pro­gramms zur Rol­le von Eva­lua­tio­nen im poli­ti­schen Sys­tem der Schweiz (SNF-Pro­jekt 141893) durch­ge­führt und war als soge­nannt gega­bel­te Befra­gung (split-bal­lot sur­vey) kon­zi­piert. Eine Grup­pe wur­de zur Ein­füh­rung der Fett­steu­er in der Uni­ver­si­tät Bern und eine Grup­pe zur Ein­füh­rung der Fett­steu­er in der Uni­ver­si­tät Ros­kil­de in Däne­mark befragt.

Es haben 353 Stu­die­ren­de der Uni­ver­si­tät Bern dar­an teil­ge­nom­men. Die Stu­die­ren­den wur­den zufäl­lig auf die zwei Befra­gungs­va­ri­an­ten ver­teilt. In einem ers­ten Schritt beka­men die Teil­neh­men­den vier Titel von Medi­en­ar­ti­keln zu sehen: Eine Eva­lua­ti­ons­stu­die zeigt posi­ti­ve Aus­wir­kun­gen der geplan­ten Fett­steu­er; Eine Eva­lua­ti­ons­stu­die zeigt nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen der geplan­ten Fett­steu­er; Stu­dent Juli­an D. (Vil­lads D. für Ros­kil­de) ist gegen die Ein­füh­rung der Fett­steu­er; Stu­dent Chris­ti­an F. (Mal­t­he K. für Ros­kil­de) ist für die Ein­füh­rung einer Fettsteuer.

Nach der Aus­wahl einer die­ser Titel erschien der Arti­kel, gefolgt von der Fra­ge nach dem Bedarf nach zusätz­li­chen Arti­keln. Falls die­se bejaht wur­de, stan­den erneut vier Titel zur Aus­wahl. Nach Abga­be der Stim­me wur­den Merk­ma­le des poli­ti­schen Enga­ge­ments, der Betrof­fen­heit sowie sozio­de­mo­gra­phi­sche Daten abge­fragt. Die Unter­su­chung fand bei Stu­die­ren­den statt, wes­halb sich die Ergeb­nis­se nicht eins zu eins gene­ra­li­sie­ren las­sen. Die Befun­de geben aber wich­ti­ge Hin­wei­se zum Ver­hal­ten der all­ge­mei­nen Stimmbevölkerung.


Refe­renz:

Stucki, Iris, Lyn Ple­ger und Fritz Sager (2018). The Making of the Infor­med Voter: A Split-Bal­lot Sur­vey on the Use of Sci­en­ti­fic Evi­dence in Direct-Demo­cra­tic Cam­pai­gns, Swiss Poli­ti­cal Sci­ence Review, first online publis­hed: 2 March 2018

Bild: Pixabay.

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