Der Brunner-Effekt ist abgeflaut

Vor 25 Jah­ren wur­de Chris­tia­ne Brun­ner, die offi­zi­el­le SP-Bun­des­rats­kan­di­da­tin, vom Par­la­ment nicht gewählt. Vie­le Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer emp­fan­den die­se Nicht­wahl als empö­rend. In der Fol­ge stieg der Frau­en­an­teil in Par­la­men­ten und Regie­run­gen auf eid­ge­nös­si­scher, kan­to­na­ler und kom­mu­na­ler Ebe­ne. Doch mitt­ler­wei­le ist die­ser soge­nann­te “Brun­ner-Effekt” abgeflaut.

Der 3. März 1993 ist ein wich­ti­ger Mei­len­stein in der Geschich­te der Schwei­zer Frau­en­be­we­gung. An die­sem Mitt­woch­mor­gen wähl­te die Ver­ei­nig­te Bun­des­ver­samm­lung nach einer bei­spiel­lo­sen Schlamm­schlacht anstel­le der offi­zi­el­len SP-Kan­di­da­tin Chris­tia­ne Brun­ner den Neu­en­bur­ger SP-Regie­rungs- und Natio­nal­rat Fran­cis Mat­they in den Bun­des­rat. Die Empö­rung über die ver­let­zen­de Behand­lung von Chris­tia­ne Brun­ner in Poli­tik und Medi­en einer­seits und über die erneu­te Nicht­wahl einer Frau in den Bun­des­rat ande­rer­seits war gross und strahl­te weit über die SP hinaus.

Anders als knapp zehn Jah­re zuvor, als im Dezem­ber 1983 die Bun­des­ver­samm­lung anstel­le der offi­zi­el­len SP-Kan­di­da­tin Lili­an Uch­ten­ha­gen Otto Stich in den Bun­des­rat wähl­te, signa­li­sier­te die SP-Lei­tung unmiss­ver­ständ­lich, dass sie eine Frau in den Bun­des­rat dele­gie­ren wol­le. Fran­cis Mat­they nahm schliess­lich eine Woche spä­ter die Wahl nicht an, und die Ver­ei­nig­te Bun­des­ver­samm­lung wähl­te unter gros­ser Anteil­nah­me von gut 10’000 Per­so­nen auf dem Bun­des­platz die Gewerk­schafts­se­kre­tä­rin Ruth Drei­fuss zur Bundesrätin.

Nur wenige Frauen in den Achtzigerjahren

1983, als Lili­an Uch­ten­ha­gen nicht in den Bun­des­rat gewählt wor­den war, sah es mit der Frau­en­ver­tre­tung in den poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen durch­wegs schlecht aus. Auch zwölf Jah­re nach der Ein­füh­rung des Frau­en­stimm und ‑wahl­rechts gab es noch kei­ne Frau im Bun­des­rat, eine ein­zi­ge in den kan­to­na­len Regie­run­gen und gera­de drei im Stän­de­rat. In den kan­to­na­len Par­la­men­ten mach­ten die Frau­en zehn Pro­zent aus, im Natio­nal­rat elf Prozent.

Knapp zehn Jah­re spä­ter prä­sen­tier­te sich die Situa­ti­on nur ein wenig bes­ser: Der Bun­des­rat war nach dem Rück­tritt der ers­ten Bun­des­rä­tin, der Zür­cher Frei­sin­ni­gen Eli­sa­beth Kopp, wie­der ein rei­nes Män­ner­gre­mi­um und in den Kan­to­nen regier­ten gera­de fünf Frau­en (und 161 Män­ner). Im Stän­de­rat hat­ten vier Frau­en Ein­sitz. In den kan­to­na­len Par­la­men­ten mach­ten die Frau­en 15 Pro­zent aus, im Natio­nal­rat 17 Pro­zent. Auf die­sen Miss­stand hat­te unter ande­rem auch der viel­be­ach­te­te natio­na­le Frau­en­streik vom 14. Juni 1991 hingewiesen.

Dynamik durch «Brunner-Effekt»

Die Nicht­wahl von Chris­tia­ne Brun­ner führ­te nicht nur zu einer brei­ten Mobi­li­sie­rung in der Zivil­ge­sell­schaft. Auch die media­le Bericht­erstat­tung wid­me­te sich in der Fol­ge ver­mehrt der Unter­ver­tre­tung der Frau­en in den poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen. Befeu­ert wur­de die­se Dis­kus­si­on durch meh­re­re par­la­men­ta­ri­sche Vor­stös­se und Volks­in­itia­ti­ven für die Ein­füh­rung einer Geschlechterquote.

Ers­te Erfol­ge stell­ten sich umge­hend ein: Bei den kan­to­na­len Par­la­ments­wah­len im März und April 1993 schnell­te der Frau­en­an­teil förm­lich nach oben: Im Aar­gau stieg die Zahl der gewähl­ten Frau­en von 37 auf 63, in Solo­thurn von 16 auf 50 und in Neu­en­burg von 16 auf 32. Damit kamen die Frau­en in den Kan­tons­par­la­men­ten auf einen für die dama­li­ge Zeit hohen Anteil zwi­schen 28 (NE) und 35 Pro­zent (SO). Am stärks­ten pro­fi­tier­ten von die­sen Ver­än­de­run­gen die SP-Frau­en: Im Aar­gau stei­ger­ten sie sich von 11 auf 29, in Solo­thurn von 6 auf 19 und in Neu­en­burg von 8 auf 16. Im Aar­gau und in Solo­thurn waren die Frau­en in der SP-Dele­ga­ti­on in der Mehr­heit. Auch wenn die SP-Män­ner bei die­sen Wah­len zwi­schen 10 und 14 Man­da­te ver­lo­ren, ging die SP ins­ge­samt gestärkt aus die­sen Wah­len hervor.

Frauen in politischen Institutionen 1971–2015/17

Starker Vormarsch der Frauen in den Neunzigerjahren

Der Vor­marsch der Frau­en ging in den Neun­zi­ger­jah­ren nicht mehr im sel­ben rasan­ten Tem­po wei­ter wie unmit­tel­bar nach dem 3. März 1993. Trotz­dem waren die fol­gen­den zehn Jah­re für die Ver­bes­se­rung der Gleich­stel­lung der Frau­en in der Poli­tik die frucht­bars­ten. Die Frau­en­ver­tre­tung ver­bes­ser­te sich in sämt­li­chen poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen. 2003 gab es im Bun­des­rat zwei Frau­en (Ruth Drei­fuss, Ruth Metz­ler), in den Kan­tons­re­gie­run­gen betrug der Frau­en­an­teil fast 22 Pro­zent, im Stän­de­rat und in den Kan­tons­par­la­men­ten je rund 24 Pro­zent und im Natio­nal­rat 26 Pro­zent. Aller­dings sei auch dar­an erin­nert, dass am 10. Dezem­ber 2003 die CVP-Bun­des­rä­tin Ruth Metz­ler (und nicht ihr Par­tei­kol­le­ge Joseph Deiss) abge­wählt und durch Chris­toph Blo­cher ersetzt wurde.

Die gewähl­ten Frau­en gehör­ten jedoch nicht allen Par­tei­en glei­cher­mas­sen an. Im Natio­nal­rat und in den kan­to­na­len Par­la­men­ten waren die Frau­en der rot-grü­nen Par­tei­en rela­tiv stark ver­tre­ten. Im Stän­de­rat und in den Kan­tons­re­gie­run­gen stell­ten dage­gen SP und FDP die meis­ten Frau­en. Von den 34 Frau­en, die 2003 in einer kan­to­na­len Regie­rung sas­sen, gehör­ten 11 der SP an und 12 der FDP (bzw. 15, wenn die Libe­ra­len zur FDP gezählt wer­den). Ähn­lich prä­sen­tier­te sich die Situa­ti­on im Stän­de­rat: Von den 11 Stän­de­rä­tin­nen gehör­ten 4 der SP an, 2 der CVP und 5 der FDP.

Vorübergehende Frauenmehrheit im Bundesrat

Die­ser Effort hob den Schwei­zer Frau­en­an­teil auf ein Niveau, das im Ver­gleich mit den natio­na­len Par­la­men­ten in Euro­pa sogar über­durch­schnitt­lich hoch war. Damit war die Schweiz in Sachen poli­ti­scher Frau­en­re­prä­sen­ta­ti­on kein euro­päi­scher Son­der­fall mehr. Als im fol­gen­den Jahr­zehnt der Zuwachs der Frau­en­ver­tre­tung abflach­te und im Stän­de­rat gar rück­läu­fig war, war dies in der Öffent­lich­keit kein Grund zur Beun­ru­hi­gung: Immer­hin waren die Frau­en 2010 im Bun­des­rat erst­mals in der Mehr­heit (2 SP, 1 CVP, 1 BDP) und die Prä­si­di­en von National‑, Stän­de- und Bun­des­rat waren alle in Frauenhand.

Allgemein abgeflachter Schwung

2011 gab es bei den Wah­len in den Natio­nal­rat erst­mals einen leich­ten Rück­schlag. Die­ser konn­te aber bei den Wah­len 2015 wie­der wett­ge­macht wer­den (32 Pro­zent). Stark rück­läu­fig war dage­gen die Frau­en­ver­tre­tung im Stän­de­rat: Sie schmolz von 24 Pro­zent (2003) auf 15 Pro­zent. Die­ser Rück­gang hing nament­lich mit den FDP-Stän­de­rä­tin­nen zusam­men, deren Zahl um sechs auf 1 zurück­ging. Damit wur­de im Stän­de­rat der «Brun­ner­ef­fekt» der Neun­zi­ger­jah­re wie­der rück­gän­gig gemacht.

In den kan­to­na­len Par­la­men­ten ver­lief die Ent­wick­lung der Frau­en­ver­tre­tung ähn­lich wie im Natio­nal­rat. Nach einer län­ge­ren Sta­gna­ti­on beträgt er zur Zeit 27 Pro­zent. In den Kan­tons­re­gie­run­gen bewegt sich der Frau­en­an­teil seit eini­gen Jah­ren – nach einem leich­ten Rück­gang auf unter 20 Pro­zent (2007) – um 24 Prozent.

Symbolisch wichtige Frauenvertretung im Bundesrat

Wäh­rend der ver­lo­re­ne Schwung der letz­ten Jah­re nicht beson­ders zur Kennt­nis genom­men wur­de, erreg­te in letz­ter Zeit die Vor­stel­lung, dass nach einem Rück­tritt von Doris Leu­thard im Bun­des­rat nur noch eine Frau ver­tre­ten sein könn­te (Simo­net­ta Som­ma­ru­ga), grös­se­res Auf­se­hen und es wur­de – wie in den Neun­zi­ger­jah­ren – vor­ge­schla­gen, eine ange­mes­se­ne Frau­en­ver­tre­tung mit Quo­ten abzu­si­chern. Die Fron­ten zu die­ser For­de­rung dürf­ten wie­der ähn­lich ver­lau­fen wie damals: Die Lin­ken und Grü­nen, wel­che bei­de eine pari­tä­ti­sche Geschlech­ter­ver­tre­tung in den poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen auf­wei­sen, begrüs­sen sol­che Mass­nah­men, wäh­rend die Bür­ger­li­chen und Rech­ten nichts davon wis­sen wol­len. In den Neun­zi­ger­jah­ren haben CVP und vor allem die FDP gezeigt, dass sie über genü­gend geeig­ne­te Frau­en ver­fü­gen und die­se auch in Regie­run­gen und Par­la­men­te brin­gen kön­nen. Die Par­tei­en müss­ten aber wollen.


Bibliografische Angaben:
  • Dutt­wei­ler, Cathe­ri­ne (1993). Adieu, Mon­sieur. Chro­no­lo­gie einer tur­bu­len­ten Bun­des­rats­wahl. Mit einer ergän­zen­den Ana­ly­se von Clau­de Long­champ. Zürich: Werd Verlag.
  • Gysin, Nico­le (2007). Angst vor Frau­en­quo­ten? Die Geschich­te der Quo­ten­in­itia­ti­ve 1993–2000. Bern/Wettingen: eFeF-Verlag.
  • Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft. Année Poli­tique Suis­se (v.a. 1993); sie­he wei­ter auch die Stich­wor­te «„Frau­en“ und „Wah­len“. Bern.
  • Seitz, Wer­ner (1994). «Die Frau­en bei den Natio­nal­rats­wah­len 1971–1991 aus sta­tis­ti­scher Sicht», in Schwei­ze­ri­sche Ver­ei­ni­gung für Poli­ti­sche Wis­sen­schaft (Hg.), Schwei­ze­ri­sches Jahr­buch für Poli­ti­sche Wis­sen­schaft, Band 34: Frau­en und Poli­tik. Bern: Ver­lag Paul Haupt, S. 225–249.
  • Seitz, Wer­ner (2016). «Die Frau­en bei den eid­ge­nös­si­schen Wah­len 2015: Der Schwung ist weg. Mit einem Exkurs zu den Frau­en bei den Wah­len in die kan­to­na­len Par­la­men­te und Regie­run­gen 2012/2015», in Eidg. Kom­mis­si­on für Frau­en­fra­gen (Hg.), Frau­en­fra­gen / Ques­ti­ons au fémi­nin / Pro­ble­mi al Femmi­ni­le. Bern, S. 44 – 56.

Hin­weis: Bei die­sem Text han­delt es sich um eine leicht redi­gier­te Fas­sung des Tex­tes «Vor 25 Jah­ren: Der ‚Brun­ner-Effekt‘», der am 27.02.2018 in der Online-Zei­tung Journal21 erschie­nen ist.

Bild: Ruth Drei­fuss und Chris­tia­ne Brun­ner (1995), Copy­right Foto: Schweiz. Sozialarchiv. 

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