Kommt die Demokratie wegen der Digitalisierung unter Druck?

Die 10. Aar­au­er Demo­kra­tietage wid­men sich unter ande­rem der Fra­ge, wie sich die Digi­ta­li­sie­rung auf die Demo­kra­tie aus­wirkt. UZH-Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Uwe Ser­dült zeigt in sei­nem Essay auf, wel­ches Poten­zi­al sie hat, unse­ren poli­ti­schen All­tag zu ver­än­dern. Er plä­diert dafür, die Chan­cen der digi­ta­len Demo­kra­tie kon­struk­tiv zu nutzen. 

10. Aarauer Demokratietage

Die Digi­ta­le Demo­kra­tie hat in der Schweiz längst Ein­zug gehal­ten in den poli­ti­schen All­tag. Immer mehr Kan­to­ne bie­ten das Abstim­men und Wäh­len per Inter­net an, Peti­tio­nen kön­nen online lan­ciert wer­den, Online-Wahl­hil­fen wie smart­vo­te wer­den rege zur Mei­nungs­bil­dung genutzt. Die For­de­rung nach einem wei­te­ren Schritt in Rich­tung Digi­ta­li­sie­rung der direk­ten Demo­kra­tie steht im Raum: das elek­tro­ni­sche Sam­meln von Unterschriften.

Wie wir­ken sich die­se Ent­wick­lun­gen auf die Demo­kra­tie in der Schweiz aus – eine Demo­kra­tie, die stark von Sach­ab­stim­mun­gen geprägt ist? Vor allem die Kom­bi­na­ti­on der genann­ten Anwen­dun­gen führt in unbe­kann­tes Ter­rain. Das Abstim­men per Inter­net mag als Sicher­heits­ri­si­ko wahr­ge­nom­men wer­den, hat per se jedoch kei­nen gros­sen Ein­fluss auf die per­sön­li­che Mei­nungs­bil­dung. Sobald es mit Online-Wahl­hil­fen ver­knüpft ist, hin­ge­gen schon. Je nach den ver­wen­de­ten Ein­stel­lun­gen und Algo­rith­men der Online-Wahl­hil­fe ent­schei­det sich, ob Kan­di­die­ren­de bei einer Wahl noch auf der Lis­te ste­hen oder knapp nicht mehr.

Für sich allei­ne mögen elek­tro­ni­sche Peti­tio­nen harm­los erschei­nen, in Kom­bi­na­ti­on mit einem Dienst für das elek­tro­ni­sche Sam­meln von Unter­schrif­ten aller­dings nicht mehr. Digi­ta­le Unter­stüt­zun­gen einer Peti­ti­on ent­spre­chen in der Schweiz poten­ti­ell elek­tro­ni­schen Unter­schrif­ten, die eine Abstim­mung aus­lö­sen kön­nen. Will heis­sen: Wir ste­hen zwar nicht mehr ganz am Anfang der Ver­än­de­rungs­pro­zes­se, müs­sen aber mit noch wei­ter­rei­chen­den Kon­se­quen­zen der Digi­ta­li­sie­rung rech­nen, sobald sich die­se Appli­ka­tio­nen über digi­ta­le Schnitt­stel­len auto­ma­tisch ver­knüp­fen lassen.

Nährboden bricht weg

Bei der Fra­ge nach den Aus­wir­kun­gen von Inter­net­an­wen­dun­gen auf das poli­ti­sche Gesche­hen und die Demo­kra­tie müs­sen wir uns vor Augen hal­ten, dass es sich hier­bei um viel­schich­ti­ge Phä­no­me­ne han­delt. Was ist kon­kret ange­spro­chen, wenn wir von Poli­tik oder Demo­kra­tie spre­chen? Sind es poli­ti­sche Mei­nungs­bil­dung oder das Erlan­gen und Aus­üben von Macht? Sind es das Agen­da Set­ting, der Ablauf poli­ti­scher Ent­schei­dungs­pro­zes­se oder mei­nen wir gar die Spiel­re­geln der Demo­kra­tie? Abhän­gig davon stel­len sich die bren­nen­den Fra­gen jeweils ganz anders.

Für die For­schung ist die Lage in jedem Fall kom­pli­ziert. Einer­seits gilt es Per­sön­lich­keits­rech­te und Daten­schutz zu respek­tie­ren, ande­rer­seits gehö­ren die im Inter­net hin­ter­las­se­nen Spu­ren zu einem gros­sen Teil pri­va­ten Unter­neh­men. Bis anhin lag der Fokus der öffent­li­chen und wis­sen­schaft­li­chen Dis­kus­si­on bei den staat­li­chen Instan­zen, den Medi­en und dem ein­zel­nen Bürger.

Noch wenig Beach­tung fin­det die Fra­ge, was das Inter­net an den Schar­nie­ren einer demo­kra­ti­schen Gesell­schaft bewirkt. In einer voll aus­ge­bau­ten digi­ta­len Demo­kra­tie droht der gan­ze inter­me­diä­re Sek­tor der orga­ni­sier­ten Inter­es­sens­ver­mitt­lung weg­zu­bre­chen. Dabei bil­den Par­tei­en, Ver­ei­ne, Ver­bän­de, Stif­tun­gen und Genos­sen­schaf­ten den eigent­li­chen Nähr­bo­den einer Demokratie.

Sie wür­den ihre Bedeu­tung ver­lie­ren, denn im Inter­net sind Traf­fic, Klicks und elek­tro­ni­sche Adres­sen die eigent­li­chen Wäh­run­gen. In einer Inter­net-Demo­kra­tie sind Web­sei­ten mit hohen Besu­cher­fre­quen­zen die neu­en ein­fluss­rei­chen, poli­ti­schen Akteu­re, nicht Par­tei­en und Ver­bän­de. Wenn einem als poli­ti­sche Grup­pie­rung bei­spiels­wei­se Ver­kehrs­po­li­tik ein wich­ti­ges Anlie­gen ist, kauft man sich am bes­ten einen Zugang zu einer popu­lä­ren Web­sei­te eines Auto­händ­lers. Dort las­sen sich elek­tro­ni­sche Unter­schrif­ten direkt sam­meln oder man führt die Besu­chen­den von dort zu einer e‑Collecting Web­sei­te. Poli­ti­sche Mobi­li­sie­rung fin­det dort statt, wo die Men­schen sind, und die sind in einer digi­ta­len Demo­kra­tie auf Web­sei­ten effi­zi­en­ter ansprech­bar als auf der Strasse.

Staat abschaffen oder stärken?

Digi­ta­le Demo­kra­tie kann auch als poli­ti­sche Stra­te­gie inter­es­sant sein, vor allem für die­je­ni­gen, die den Staat und gleich die gan­ze eta­blier­te Poli­tik mit Par­tei­en, Ver­bän­den und Inter­es­sen­or­ga­ni­sa­tio­nen so weit wie mög­lich zurück­bin­den oder ganz ent­sor­gen möch­ten. Ange­strebt wird eine noch direk­te­re direk­te Demo­kra­tie. Eine for­cier­te Digi­ta­li­sie­rung kann zudem weni­ger Inter­net-affi­ne Par­tei­en benach­tei­li­gen. Umge­kehrt gibt es aber auch Befür­wor­ter digi­ta­ler Demo­kra­tie, die mit Inter­net-basier­ten Anwen­dun­gen dem Staat zu inhalt­lich oder demo­kra­tisch bes­se­ren Ent­schei­den ver­hel­fen möch­ten – etwa, indem die Weis­heit der Mas­se genutzt wird.

Die Inter­es­sen­la­gen könn­ten also unter­schied­li­cher nicht sein. Wäh­rend die einen mit einer for­cier­ten Digi­ta­li­sie­rung der Poli­tik den Staat am liebs­ten abschaf­fen möch­ten, wol­len ihn ande­re zusätz­lich befä­hi­gen und stützen.

Um die neu­en Mög­lich­kei­ten einer digi­ta­len Demo­kra­tie kon­struk­tiv nut­zen zu kön­nen, muss man aus­ge­tre­te­ne Pfa­de ein Stück weit ver­las­sen und über den Tel­ler­rand hin­aus­bli­cken. Demo­kra­ti­sche Pro­zes­se der ana­lo­gen Welt eins zu eins digi­tal abzu­bil­den, führt nicht sehr weit. Hier sei­en drei Mög­lich­kei­ten angerissen:

  • Um einer Ero­si­on der orga­ni­sier­ten Inter­es­sens­ver­mitt­lung durch die Digi­ta­li­sie­rung etwas ent­ge­gen­stel­len zu kön­nen, müss­te der inter­me­diä­re Sek­tor selbst Ideen ent­wi­ckeln. Orga­ni­sa­tio­nen mit ähn­li­chem Pro­fil könn­ten sich unter­ein­an­der auto­ma­tisch ver­net­zen und der Bevöl­ke­rung mit ähn­li­chen Inter­es­sen Akti­vi­tä­ten anbie­ten, die im rea­len Leben statt­fin­den (Stich­wort: Event-Based Social Net­works, EBSN).
  • War­um muss eine Unter­schrif­ten­samm­lung immer gleich zu einer Volks­ab­stim­mung füh­ren? Wie in eini­gen Län­dern bereits Usus und etwa in Finn­land durch­aus erfolg­reich, las­sen sich Initia­ti­ven auf Online-Platt­for­men lan­cie­ren, unter­stüt­zen und auch unter Ein­be­zug von Exper­ten dis­ku­tie­ren, bevor sie wie eine par­la­men­ta­ri­sche Vor­la­ge im Par­la­ment behan­delt wer­den müs­sen (Stich­wort: Crowd-Fun­ding Legislation).
  • Der Ein­satz von Block­chain-Tech­no­lo­gie steht noch am Anfang, hat aber viel Poten­ti­al, Pro­ble­me in den Griff zu bekom­men, für die man in Demo­kra­tien bis­her kei­ne über­zeu­gen­de, oder nur sehr büro­kra­ti­sche Lösun­gen anbie­ten konn­te. So lies­se sich etwa eine sepa­ra­te Kam­pa­gnen­wäh­rung schaf­fen, bei der alle Trans­ak­tio­nen nach­voll­zieh­bar sind und deren Wert sogar an einer Bör­se gehan­delt wer­den könnte.

Wie ver­än­dert das Inter­net unse­re Gesell­schaft? Wie ver­än­dert es unse­ren Staat? Kon­se­quent umge­setzt machen digi­ta­le Anwen­dun­gen die Poli­tik in einem Umfeld sozia­ler Medi­en ins­ge­samt unbe­re­chen­ba­rer und offe­ner für Ein­flüs­se von aus­sen. Wäh­rend die Demo­kra­tie an Natio­nal­staa­ten oder ande­re Ter­ri­to­ri­en gebun­den ist, gilt das für das Inter­net nicht.

Wir soll­ten den nega­ti­ven Ent­wick­lun­gen ent­ge­gen­tre­ten und die Chan­cen einer digi­ta­li­sier­ten Poli­tik nut­zen. Dazu gilt es, sich über gewis­se Fra­gen zu ver­stän­di­gen – wie es die Digi­tal Socie­ty Initia­ti­ve der Uni­ver­si­tät Zürich in einem Mani­fest for­dert. Ins­be­son­de­re ist zu fra­gen: Was soll der Staat, was soll die Zivil­ge­sell­schaft tun und was über­las­sen wir dem Markt?

Die 10. Aar­au­er Demokratietage
Die Aar­au­er Demo­kra­tietage des Zen­trums für Demo­kra­tie Aar­au (ZDA) fei­ern ihr zehn­jäh­ri­ges Jubi­lä­um. Dazu fin­den unter dem Titel «Forum Direk­te Demo­kra­tie» von Janu­ar bis März Ver­an­stal­tun­gen in ver­schie­de­nen Städ­ten des Kan­tons Aar­gau statt (Pro­gramm). Der nächs­te Event am Don­ners­tag, 1. Febru­ar in Brugg ist dem The­ma Digi­ta­le Demo­kra­tie: not­wen­di­ge Ent­wick­lung oder gefähr­li­ches Spiel­zeug? gewid­met. Dabei wird auch Uwe Ser­dült referieren.

Die wei­te­ren Veranstaltungen:

1. März 2018 (Baden): Gemein­de­fu­sio­nen: Chan­ce oder Gefahr für eine leben­di­ge Demokratie?

5. März 2018 (Aar­au): Mit­spra­che der Genera­ti­on Y: Stadt und Land

15. März 2018 (Aar­au): Forum Direk­te Demo­kra­tie: Hot­spots im Aargau

16. März 2018 (Aar­au): Demo­kra­tie und Popu­lis­mus (wis­sen­schaft­li­che Tagung)


Hin­weis: Der Essay wur­de erst­mals am 29. Janu­ar 2018 in den UZH NEWS veröffentlicht.

Bild: rawpixel.com

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