Föderale Vielfalt im Schweizer Parlament

Die Schweiz wird oft als Para­de­bei­spiel gesell­schaft­li­cher Viel­falt ange­führt. Mit vier offi­zi­el­len Lan­des­spra­chen ist sie eines der weni­gen mul­ti­lin­gua­len Län­der Euro­pas. Wie äus­sert sich das kon­kret in Insti­tu­tio­nen der natio­na­len Ein­heit wie etwa dem Schwei­zer Parlament? 

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Die Schweiz ist ein Land der Viel­falt. Neben Deutsch zäh­len Fran­zö­sisch, Ita­lie­nisch und Räto­ro­ma­nisch zu den vier Lan­des­spra­chen. Dazu kom­men meh­re­re Glau­bens­rich­tun­gen, Städ­te und abge­le­ge­ne Täler, Flach­land und Berg­spit­zen sowie Land­wirt­schaft, Indus­trie und ein nicht unbe­deu­ten­der Dienst­leis­tungs­sek­tor. Wahr­lich ein euro­päi­scher Mikro­kos­mos. Aber wie gut wird die­ser Mikro­kos­mos im Schwei­zer Par­la­ment abge­bil­det, die­ser for­mell „obers­ten Gewalt im Bund“ (BV 1999, Art. 148.1)? Die Viel­falt der Schwei­zer Gesell­schaft und die Tätig­keit des Par­la­men­tes mit all sei­nen Kom­mis­sio­nen, Motio­nen, Dis­kus­sio­nen und Inter­ak­tio­nen (Büti­ko­fer 2014) kön­nen kaum in ihrer Gesamt­heit erfasst wer­den. Des­halb beschrän­ken wir uns hier auf die Ple­nar­de­bat­ten und erfas­sen alle Wort­mel­dun­gen in den bei­den Par­la­ments­kam­mern zwi­schen Win­ter 1999 und Som­mer 2017. Ins­ge­samt han­delt es sich dabei um 110’000 Reden.

Alle Kantone sind gleich, aber einige gleicher

Als Ers­tes schlüs­seln wir die Anzahl Wort­mel­dun­gen nach Kan­ton der spre­chen­den Per­son und Par­la­ments­kam­mer auf. Die ers­te Erwar­tung hier­zu ist, dass die Anzahl Reden pro­por­tio­nal zur Anzahl Abge­ord­ne­ter ist. Weil der Stän­de­rat mit Aus­nah­me der sechs ehe­ma­li­gen Halb-Kan­to­ne allen zwei Sit­ze zuteilt, schau­en wir uns die­se Kam­mer bevor­zugt an. Sor­tiert nach ihrem Anteil am Total der stän­de­rät­li­chen Wort­mel­dun­gen zeigt Gra­fik 1, dass Ver­tre­te­rIn­nen aus St. Gal­len, Luzern, Zug und Grau­bün­den hier zu den aktivs­ten gehören.

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Dies wider­spricht der zwei­ten Erwar­tung, dass vor allem klei­ne Kan­to­ne den Stän­de­rat nut­zen. Statt­des­sen sind mit dem Aar­gau und Bern sowie der Waadt und Zürich jene Kan­to­ne in den Top Ten bzw. in der vor­de­ren Hälf­te, die auch im Natio­nal­rat zu den Prä­sen­tes­ten gehö­ren. Immer­hin bie­tet der Stän­de­rat den klei­nen Kan­to­nen tat­säch­lich eine Gele­gen­heit, ihr grös­sen­mäs­sig beding­tes Natio­nal­rats­de­fi­zit auf­zu­bes­sern: Neben Zug fällt auch für Gla­rus, Schwyz, Uri und den Jura die Dif­fe­renz zwi­schen den bei­den Antei­len durch­wegs zu Guns­ten der Kan­tons­kam­mer aus. Umge­kehrt kön­nen sich Basel-Land­schaft und Genf dank ihrer Bevöl­ke­rungs­grös­se von den hin­ters­ten Rän­gen im Stän­de­rat auf die Plät­ze 7 und 6 im Natio­nal­rat hie­ven. Am wenigs­ten Wort­mel­dun­gen ins­ge­samt kom­men aus Nid- und Obwal­den sowie den bei­den Appen­zell, die ja auch in bei­den Kam­mern über ledig­lich je einen Sitz ver­fü­gen. Die Anzahl Ver­tre­te­rIn­nen erklärt also vie­les, aber nicht alles.

Parlez-vous schweizerisch?

Wie gut ent­spre­chen die par­la­men­ta­ri­schen Wort­mel­dun­gen der sprach­li­chen Zusam­men­set­zung der Schwei­zer Bevöl­ke­rung? Im Jahr 2015 spra­chen unter der stän­di­gen Wohn­be­völ­ke­rung ab 15 Jah­ren mit Schwei­zer Pass 73% Deutsch, 23% Fran­zö­sisch, 6% Ita­lie­nisch und 0.7% Räto­ro­ma­nisch als Haupt­spra­che (BFS 2017). Gra­fik 2 schlüs­selt alle Reden in den bei­den Kam­mern nach ihrer Spra­che auf und zeigt, wie Fran­zö­sisch im Natio­nal­rat und Deutsch im Stän­de­rat prak­tisch durch­wegs über­re­prä­sen­tiert waren. Ita­lie­nisch und Räto­ro­ma­nisch dage­gen sind in bei­den Räten immer deut­lich untervertreten.

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Aber viel­leicht kom­pen­sie­ren die Unter­ver­tre­te­nen ihr anteil­mäs­si­ges Man­ko ja dadurch, dass sie län­ger reden? Wenn wir dies mit Hil­fe der Anzahl gebrauch­ter Zei­chen pro Spra­che und Rat mes­sen, könn­te tat­säch­lich etwas dran sein, wie Gra­fik 3 nahe­legt. Die ita­lie­ni­schen Wort­mel­dun­gen im Natio­nal­rat zum Bei­spiel sind häu­fig län­ger als jene auf Fran­zö­sisch oder Deutsch. Hin­ge­gen fal­len die weni­gen ita­lie­ni­schen Reden im Stän­de­rat kür­zer aus als ihre Pen­dants auf Deutsch und Französisch.

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Die Kantone als Sprachenschutzschild?

Zum Schluss inter­es­siert uns die Ver­tei­lung der sprach­li­chen Inter­ven­tio­nen auf die Kan­to­ne. Die Schweiz kennt ja bekannt­lich kei­ne expli­zi­te Spra­chen­quo­te für Par­la­ments­wah­len (Sto­ja­no­vić 2013). Dafür bil­den die 26 Kan­to­ne die Wahl­krei­se für bei­de Kam­mern, und immer­hin sind deren 22 ein­spra­chig. Des­we­gen wür­de man erwar­ten, dass sich die lin­gu­is­ti­sche Viel­falt wei­test­ge­hend den kan­to­na­len Gepflo­gen­hei­ten anlehnt. Dass dies gröss­ten­teils der Fall ist, zeigt Gra­fik 4.

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Ange­ord­net nach der Häu­fig­keit deut­scher Reden aus dem Kan­tonsto­tal, sehen wir ganz oben mit den tiefs­ten Antei­len Neu­châ­tel und Jura. Am unte­ren Ende befin­den sich die offi­zi­ell deutsch­spra­chi­gen Kan­to­ne. Ver­ein­zelt kommt es aber auch durch Abge­ord­ne­te die­ser Kan­to­ne (vor allem St. Gal­len, Zürich oder Basel-Land­schaft) zu Wort­mel­dun­gen auf Fran­zö­sisch. Eben­so äus­sern sich Par­la­men­ta­rie­rIn­nen vom Lac Léman gele­gent­lich auf Deutsch. Zwi­schen die­sen bei­den Blö­cken fin­den sich wie erwar­tet die zwei­spra­chi­gen Kan­to­ne Bern, Frei­burg und Wal­lis: Deren Sprach­an­tei­le im Par­la­ment ent­spre­chen mehr oder weni­ger ihrer jewei­li­gen Kan­tons­be­völ­ke­rung.[1] Dage­gen hat das drei­spra­chi­ge Grau­bün­den (75% Deutsch, 16% Räto­ro­ma­nisch, 13% Ita­lie­nisch) fast nur deut­sche Reden vor­zu­wei­sen. Auf­fal­lend ist aber vor allem das Tes­sin: Hier domi­niert, völ­lig uner­war­tet, das Fran­zö­si­sche, gefolgt nicht etwa vom Ita­lie­ni­schen, son­dern ein­mal mehr dem Deutschen.

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Die Tes­si­ner Bun­des­de­le­gier­ten spre­chen also eher zwei ande­re als ihre eige­ne Spra­che. Wohl auch, weil sie wis­sen, dass unter den ande­ren Par­la­men­ta­rie­rIn­nen nur weni­ge des Ita­lie­ni­schen mäch­tig sind und Simul­tan­über­set­zun­gen ein­zig im Natio­nal­rat ange­bo­ten wer­den. Gra­fik 5 zeigt für jede unter­such­te Legis­la­tur­pe­ri­ode, wie oft fol­gen­de unge­schrie­be­ne Regel Anwen­dung fin­det: «Un dépu­té italo­pho­ne […] par­le ita­li­en au Par­le­ment lorsqu’il s’adresse à ses élec­teurs, fran­çais quand il veut qu’on l’écoute, et alle­mand quand il veut qu’on le com­pren­ne.» (zit. in Schwab 2014, 4–5).

Abbild oder Vorbild der Gesellschaft?

Ist das par­la­men­ta­ri­sche Glas in Sachen Viel­falt nun halb­voll oder halb­leer? Aus Sicht der gros­sen Deutsch­schwei­zer Kan­to­ne wahr­schein­lich Ers­te­res, für die klei­nen fran­zö­sisch­spra­chi­gen Kan­to­ne und das Tes­sin dage­gen wohl eher Letz­te­res – zumin­dest, wenn man davon aus­geht, immer und über­all sei­ne Mut­ter­spra­che reden zu wol­len. Natür­lich kann die sprach­li­che Viel­falt der Schweiz auch anders­wo sei­ne Gel­tung ent­fal­ten, zum Bei­spiel in Lite­ra­tur, Film oder der SRG. Auch besteht mit dem nicht-zen­tra­li­sier­ten Föde­ra­lis­mus ein her­vor­ra­gen­des Mit­tel, damit die Kan­to­ne ihre eige­nen Prä­fe­ren­zen fest- und umset­zen kön­nen. Dem Anspruch, allen vier Lan­des­spra­chen ihrem Gewicht ent­spre­chend eine ein­heit­li­che demo­kra­ti­sche Platt­form zu bie­ten, kom­men aber zumin­dest die par­la­men­ta­ri­schen Ple­nar­de­bat­ten der Jah­re 1999–2017 nur bedingt nach. Umso erstaun­li­cher ist des­halb der Umstand, dass der Natio­nal­rat gera­de eben die Ein­set­zung einer aus­ser­par­la­men­ta­ri­schen „Kom­mis­si­on für Spra­chen­fra­gen“ abge­lehnt hat.

Infos
Die hier ana­ly­sier­ten Daten ent­sprin­gen einer For­schungs­ko­ope­ra­ti­on zwi­schen dem Année Poli­tique Suis­se, das am Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Bern ange­sie­delt ist, und dem Zür­cher Sozi­al­for­schungs­un­ter­neh­men Grü­nen­fel­der Zum­bach. Eine ers­te Ver­si­on die­ses Bei­tra­ges wur­de an der Ber­ner Nacht der For­schung im Sep­tem­ber 2017 vor­ge­stellt.

[1] Fran­zö­sisch als Haupt­spra­che in Frei­burg und Wal­lis: 68%; Bern: 10% (Mehr­fach­nen­nun­gen mög­lich; Quel­le: BFS 2017).

Die Autoren dan­ken Marc Bühl­mann, Pir­min Bun­di, Anja Hei­del­ber­ger und Max Schubi­ger für ihr Feedback. 

Lite­ra­tur:

Foto: Stän­de­rat­saal, Parlamentsdienste.

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