Die Stimmpflicht: Zu was sie (nicht) verpflichtet und wie sie wirkt

Die Stimm­pflicht kann die Stimm­be­rech­tig­ten nicht dazu zwin­gen, ihr Stimm­recht inhalt­lich aus­zu­üben. Viel­mehr wirkt sie als blos­ser Anreiz zur inhalt­li­chen Stimm­ab­ga­be, die für einen funk­tio­nie­ren­den demo­kra­ti­schen Pro­zess nötig ist.

Die Stimm­pflicht hat in jün­ge­rer Zeit an Auf­merk­sam­keit gewon­nen. Barack Oba­ma hat sie vor dem Ende sei­ner Prä­si­dent­schaft als effek­ti­ves Mit­tel gegen den bestim­men­den Ein­fluss von Kam­pa­gnen­bud­gets auf die US-Wah­len pro­pa­giert und in Euro­pa wird die Stimm­pflicht gegen­wär­tig als Rezept gegen die über­durch­schnitt­lich erfolg­rei­che Mobi­li­sie­rung durch popu­lis­ti­sche Pro­test­be­we­gun­gen diskutiert.

Die Stimmpflicht in der Schweiz

Auf Bun­des­ebe­ne gibt es gegen­wär­tig kei­ne Stimm­pflicht. Es steht den Kan­to­nen jedoch frei, eine sol­che für eid­ge­nös­si­sche und kan­to­na­le Urnen­gän­ge vor­zu­se­hen. Von die­ser Mög­lich­keit haben etwa der Aar­gau und Obwal­den Gebrauch gemacht. Wird die Nicht­er­fül­lung einer Stimm­pflicht sank­tio­niert, wird von Stimm­zwang gespro­chen. Einen sol­chen kennt gegen­wär­tig ein­zig Schaff­hau­sen. Wer dort sei­ne Stimm­pflicht nicht erfüllt, wird mit 6 Fran­ken gebüsst.

Stimm­zwang in Schaffhausen
Art. 9 Wahl­ge­setz Schaffhausen

Die Teil­nah­me an den eid­ge­nös­si­schen, kan­to­na­len und Gemein­de­ab­stim­mun­gen und Wah­len sowie an den Gemein­de­ver­samm­lun­gen ist bis zum 65. Alters­jahr obli­ga­to­risch. Wer die­se Pflicht ohne Ent­schul­di­gung ver­säumt, hat 6 Fran­ken zu zahlen.

 Tra­di­tio­nel­le Begrün­dung der Stimm­pflicht als Organpflicht

Sowohl das Bun­des­ge­richt als auch die rechts­wis­sen­schaft­li­che Lite­ra­tur begrün­den die Stimm­pflicht gemein­hin als Organ­pflicht. Dem­nach bil­den die ein­zel­nen Stimm­bür­ger Teil des Staats­or­gans «Volk». Somit üben sie mit dem Stimm­recht nicht nur ein Indi­vi­du­al­recht, son­dern auch eine für das demo­kra­ti­sche Sys­tem zen­tra­le, öffent­li­che Organ­funk­ti­on aus: Blei­ben die Stimm­bür­ger der Urne fern, wer­den kei­ne Par­la­men­te bestellt und die Rechts­ord­nung kann kei­ne demo­kra­ti­sche Ent­wick­lung durch­lau­fen. Zur Siche­rung eines funk­tio­nie­ren­den demo­kra­ti­schen Pro­zes­ses sei es des­halb legi­tim, das Stimm­recht als Rechts­pflicht auszugestalten.

Weshalb die Stimmpflicht keine Organpflicht ist

Die Organ­the­se über­zeugt als Begrün­dung der Stimm­pflicht aber nicht. Dies weil sie nicht kon­se­quent berück­sich­tigt, zu was eine Stimm­pflicht recht­lich ver­pflich­tet. Die Stimm­pflich­ti­gen müs­sen sich nicht für eine Kan­di­da­tin bzw. für oder gegen eine Abstim­mungs­vor­la­ge ent­schei­den. Es steht ihnen auch im Fal­le einer Stimm­pflicht bzw. eines Stimm­zwan­ges frei, jeweils leer oder ungül­tig ein­zu­le­gen und damit den demo­kra­ti­schen Pro­zess zu blo­ckie­ren. Recht­lich wird ledig­lich zur for­ma­len Teil­nah­me am Urnen­gang ver­pflich­tet. Denn nur in die­ser Aus­ge­stal­tung hält die Stimm­pflicht vor der Wahl- und Abstim­mungs­frei­heit nach Art. 34 der Bun­des­ver­fas­sung stand. Die­ses Grund­recht ver­bie­tet einen Zwang zur inhalt­li­chen poli­ti­schen Stellungnahme.

Der Sank­tio­nie­rung einer recht­li­chen Pflicht zur Ent­schei­dung für einen Kan­di­da­ten oder für oder gegen eine Vor­la­ge stün­de auf einer prak­ti­schen Ebe­ne über­dies das eben­falls in Art. 34 BV ver­an­ker­te Stimm­ge­heim­nis ent­ge­gen. Wäre die Stimm­pflicht im Sin­ne der Organ­the­se wirk­lich eine recht­li­che Ver­pflich­tung der ein­zel­nen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, für die Funk­ti­ons­fä­hig­keit des demo­kra­ti­schen Pro­zes­ses besorgt zu sein, müss­te sie nicht nur zur for­ma­len Teil­nah­me am Urnen­gang, son­dern auch zur inhalt­li­chen poli­ti­schen Stel­lung­nah­me verpflichten.

Die Stimmpflicht wirkt wie ein Nudge

Statt einer Rechts­pflicht des Stimm­bür­gers, als Teil des Staats­or­gans «Volk» einen indi­vi­du­el­len Bei­trag zur Funk­ti­ons­fä­hig­keit des demo­kra­ti­schen Pro­zes­ses zu leis­ten, kann die Stimm­pflicht vor die­sem Hin­ter­grund viel mehr als Nudge gedeu­tet wer­den, also als eine Regu­lie­rung, die den Ein­zel­nen zu einer bes­se­ren Ent­schei­dung anstupst, nicht aber zwingt. Dies ver­deut­li­chen die fol­gen­den Überlegungen.

Nud­ging

Richard Tha­ler und Cass Sun­stein begrei­fen Nud­ges als Teil einer neu­en rechts­po­li­ti­schen Bewe­gung, die sie als «liber­ta­ri­an pater­na­lism» bezeich­nen. Nud­ges sol­len den Men­schen als Ver­än­de­rung der Ent­schei­dungs­ar­chi­tek­tur hel­fen, ihre sys­te­ma­ti­schen Ratio­na­li­täts­de­fi­zi­te zu über­win­den und bes­ser zu ent­schei­den. So wäh­len in der Cafe­te­ria mehr Besu­cher das gesun­de Obst anstel­le der unge­sun­den Süss­wa­ren, wenn ihnen ers­te­res auf Augen­hö­he prä­sen­tiert wird.

Pater­na­lis­tisch ist die­ser Ansatz inso­fern, als er dem Men­schen nicht zutraut, ohne Hil­fe­stel­lung für ihn güns­ti­ge Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. Des­halb will er ihn in die rich­ti­ge Rich­tung stup­sen (das eng­li­sche «to nudge» bedeu­tet so viel wie «sanft anstupsen»).

Gleich­zei­tig ist die­ser pater­na­lis­ti­sche Anstoss, der Nudge, aber so weich aus­ge­stal­tet, dass sich der Ein­zel­ne ohne wei­te­res gegen ihn ent­schei­den kann. Dies macht sei­nen liber­tä­ren Gehalt aus: «A nudge, as we will use the term, is any aspect of the choice archi­tec­tu­re that alters people’s beha­viour in a pre­dic­ta­ble way without for­bidding any opti­ons or signi­fi­cant­ly chan­ging their eco­no­mic incen­ti­ves. To count as a mere nudge, the inter­ven­ti­on must be easy and cheap to avoid. Nud­ges are not man­da­tes. Put­ting the fruit at eye level counts as a nudge. Ban­ning junk food does not.»

Grund­le­gend zur Idee des Nud­ging Thaler/Sunstein, Nudge: Impro­ving Decisi­ons about Health, Wealth, and Hap­pi­ness, 2nd ed., New York 2009.

Eine Stimm­pflicht führt, und das ist empi­risch erhär­tet, als Ände­rung der Ent­schei­dungs­ar­chi­tek­tur dazu, dass mehr Stimm­bür­ger ihr Stimm­recht inhalt­lich aus­üben. Die­ser Effekt ist auch Ziel der Stimm­pflicht. Die inhalt­li­che Aus­übung des Stimm­rechts liegt sowohl im Inter­es­se des Stimm­bür­gers, aber auch im gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Inter­es­se an einer funk­tio­nie­ren­den Demo­kra­tie. Kon­sti­tu­tiv für die regu­la­to­ri­sche Ein­ord­nung der Stimm­pflicht als Nudge ist nun, dass die Stimm­be­völ­ke­rung ohne wei­te­res auf die inhalt­li­che Inan­spruch­nah­me des Stimm­rechts ver­zich­ten kann. Somit kann sie sich also gegen jene Hand­lungs­al­ter­na­ti­ve ent­schei­den, zu wel­cher sie die staat­li­che Regu­lie­rung in pater­na­lis­ti­scher Wei­se ver­an­las­sen will. Sie kann immer auch leer bzw. ungül­tig einlegen.

Die von Tha­ler und Sun­stein gepräg­te Defi­ni­ti­on eines Nud­ges sieht vor, dass ein Nudge kei­ne Opti­on aus­schliesst. Ein sank­tio­nier­ter Stimm­zwang schliesst tech­nisch gese­hen die Opti­on aus, dass der Stimm­bür­ger völ­lig pas­siv bleibt und nicht ein­mal for­mal am Urnen­gang teilnimmt.

Damit wird der Stimm­zwang aber nicht zu einem har­ten pater­na­lis­ti­schen Zwangs­in­stru­ment, er bleibt eine wei­che pater­na­lis­ti­sche Regu­lie­rung. Dies weil der Stimm­bür­ger frei bleibt, sich mit Mini­mal­auf­wand der inhalt­li­chen Wahr­neh­mung des Stimm­rechts zu ent­zie­hen. Inso­fern funk­tio­niert auch ein Stimm­zwang, anders als es die Begriff­lich­keit zunächst ver­mu­ten lässt, wie ein Nudge.


Die­ser Bei­trag grün­det auf fol­gen­dem Arti­kel: Lukas Schaub, Die Stimm­pflicht als “Nudge”: Der Ver­such einer regu­la­to­ri­schen (Neu-) Ein­ord­nung, Schwei­ze­ri­sches Zen­tral­blatt für Staats- und Ver­wal­tungs­recht 11 (2017), 583 ff.

Foto: rawpixel.com

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