Medien sind zu stark auf extravertierte Bürgerinnen und Bürger und zu wenig auf verträgliche ausgerichtet

In sei­nem soeben erschie­ne­nen Werk ana­ly­siert Mar­kus Frei­tag, Pro­fes­sor für Poli­ti­sche Sozio­lo­gie an der Uni­ver­si­tät Bern, erst­mals die Per­sön­lich­keits­merk­ma­le der Medi­en­nut­zen­den in der Schweiz. Sei­ne Befun­de soll­ten zu den­ken geben.

Alex­an­der Nix, CEO des bri­ti­schen Unter­neh­mens Cam­brid­ge­Ana­ly­ti­ca, fass­te am dies­jäh­ri­gen Schwei­zer Mar­ke­ting­tag den dis­rup­ti­ven Wan­del in der Bran­che wie folgt zusam­men: Frü­her habe man ver­sucht, mit ori­gi­nel­len Bot­schaf­ten von genia­len Wer­bern zu über­zeu­gen. Heu­te gehe Wer­bung vom Kun­den aus und suche die Nähe zu des­sen Persönlichkeit. 

Für genau die­se inter­es­siert sich Mar­kus Frei­tag, Pro­fes­sor für Poli­ti­sche Sozio­lo­gie an der Uni­ver­si­tät Bern, in sei­nem neu­en Buch Die Psy­che des Poli­ti­schen. Sei­ne The­se ist, dass Per­sön­lich­keits­merk­ma­le der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger den Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis des heu­ti­gen Den­kens und Han­delns bil­den. Poli­ti­sche Ideo­lo­gien, Par­teib­in­dun­gen und The­men­prä­fe­renz schliesst er zwar nicht expli­zit aus, doch ihn inter­es­siert vor allem das addi­ti­ve Modul, das ver­fei­ner­te psy­cho­lo­gi­sche Model­le heu­te gegen­über dem Vor­ge­hen der AnnAr­bor-For­schung lie­fern können.

Big Five in der Schweiz

Welt­weit erprobt und ein­ge­setzt wird in die­sem Sin­ne das soge­nann­te Fünf-Fak­to­ren-Modell der Per­sön­lich­keits­psy­cho­lo­gie, bekannt als die Big Five. Es umfasst die fünf Haupt­di­men­sio­nen der mensch­li­chen Per­sön­lich­keit und wird auch als OCE­AN-Modell bezeich­net (ent­spre­chend den jewei­li­gen Anfangs­buch­sta­ben der eng­li­schen Begriffe):

  • Open­ness (Offen­heit für neue Erfahrungen), 
  • Con­sci­en­tious­ness (Gewis­sen­haf­tig­keit),
  • Extra­ver­si­on (Aus­sen­ori­en­tie­rung),
  • Agree­ab­leness (Ver­träg­lich­keit),
  • Neu­ro­ti­cism (emo­tio­na­le Instabilität).

Vier gros­se Umfra­gen bei Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zern aus den letz­ten fünf Jah­ren legen nahe: Ver­brei­tet sind nament­lich Gewis­sen­haf­tig­keit (46–56%), Ver­träg­lich­keit (28–39%) und Offen­heit (16–27%).

Aus­sen­ori­en­tie­rung (14–19%) und emo­tio­na­le Insta­bi­li­tät (2–4%) kom­men dage­gen weni­ger häu­fig vor. Dabei ist es durch­aus denk­bar, dass eine Per­son mehr als einen deut­li­chen Per­sön­lich­keits­zug hat.

Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit und Medien-/Werbenutzung

Der wich­tigs­te Befund lau­tet: Ver­träg­li­che Men­schen nut­zen vie­le Quel­len, die poli­tisch infor­mie­ren oder wer­ben, signi­fi­kant unter­durch­schnitt­lich. Ein­zig was aus dem eige­nen Brief­kas­ten kommt, wird beach­tet. Zudem ste­hen die­se Men­schen vie­len Titeln aus dem Tages­zei­tungs­ge­schäft deut­lich distan­zier­ter gegen­über als der Durch­schnitt. Dies gilt auch für Medi­en­gat­tun­gen wie Gra­tis­zei­tun­gen oder Social Media. Zudem trifft die­se Distan­ziert­heit expli­zit auf alles zu, was par­tei­li­chen Cha­rak­ter hat.

Das Per­sön­lich­keits­merk­mal, das Medi­en­nut­zung ein­deu­tig posi­tiv beein­flusst, ist Aus­sen­ori­en­tie­rung. Extra­ver­tiert­heit führt zu einer signi­fi­kant höhe­ren Nut­zung aller Medi­en­gat­tun­gen. Bezo­gen auf ein­zel­ne Medi­en­ti­tel ist nament­lich die star­ke Über­ver­tre­tung des Bou­le­vards erwäh­nens­wert. Mit dem Inter­net und sozia­len Medi­en wächst gera­de für die­ses Per­sön­lich­keits­merk­mal eine rele­van­te Medi­en­kon­kur­renz heran.

Inten­si­ve Medi­en­nut­zung hängt auch mit dem Cha­rak­ter­zug Offen­heit für neue Erfah­run­gen zusam­men. Das zeigt sich an der Prä­senz die­ses Per­sön­lich­keits­merk­mals in allen Medi­en­gat­tun­gen. Spe­zi­ell erwähnt sei es auch in Bezug auf die Nut­zung von Qualitätsmedien.

Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, die offen für Neu­es sind, fin­den sich auch ver­mehrt im Inter­net. Sie sind auch in den Kanä­len der sozia­len Medi­en aktiv und man fin­det sie an Stand­ak­tio­nen in der Öffentlichkeit.

Medi­en­nut­zung kann man­chen­orts heu­te noch auf eine rela­ti­ve Sta­bi­li­tät zäh­len, weil der am wei­tes­ten ver­brei­te­te Cha­rak­ter­zug der Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer, die Gewis­sen­haf­tig­keit, die Nut­zung der meis­ten Medi­en­gat­tun­gen – letzt­lich alle aus­ser den Social Media-Kanä­len – eher beför­dert denn verhindert.

Als letz­ter Wesens­zug bleibt die emo­tio­na­le Insta­bi­li­tät. Für die­se Men­schen zei­gen die Ana­ly­sen eine Nähe zu Social Media und bei den Medi­en­ti­teln zum Blick. Poli­ti­sche Wer­bung nimmt man, so dis­po­niert, nament­lich via Pla­ka­te über­durch­schnitt­lich wahr.

Verträgliche Menschen werden unzureichend angesprochen

Poli­ti­sche Infor­ma­ti­ons­auf­nah­me mit­tels Per­sön­lich­keits­merk­ma­len erklä­ren zu wol­len, ist um eini­ges schwie­ri­ger, als Zusam­men­hän­ge mit dem ideo­lo­gi­sier­ten Den­ken auf­zu­zei­gen. Den­noch, knapp die Hälf­te der hypo­the­tisch pos­tu­lier­ten Zusam­men­hän­ge las­sen sich empi­risch selbst mit ein­fa­chen Kon­zep­ten bestätigen.

Frei­tags Ana­ly­sen zei­gen vor allem, dass die Medi­en das poli­tisch inter­es­sier­te Publi­kum ziem­lich selek­tiv anspre­chen. Bei Wer­be­ka­nä­len und Medi­en­ti­teln über­rascht dies nicht, denn es hat mit der anhal­ten­den Dif­fe­ren­zie­rung auf dem Kon­summ­edi­en­markt zu tun. Bei den Medi­en­gat­tun­gen stimmt der nach­weis­lich star­ke Zusam­men­hang jedoch nach­denk­li­cher. Denn aus­ser der Extra­ver­si­on bedient das heu­ti­ge Medi­en­sys­tem kein Per­sön­lich­keits­merk­mal mehr sys­te­ma­tisch über dem Durchschnitt.

Man könn­te gar von einer eigent­li­chen Abwen­dung der Medi­en von ver­träg­lich dis­po­nier­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­gern spre­chen. Demo­kra­tie­po­li­tisch ist dies inso­fern pro­ble­ma­tisch, als dass genau die­ser Men­schen­schlag den poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen am ver­trau­ens­volls­ten gegen­über­steht, was eine wesent­li­che Grund­la­ge einer jeden Kon­sens­de­mo­kra­tie ist.

Nix, der CEO von Cam­brid­ge­Ana­ly­ti­ca, pro­pa­giert das von sei­ner Fir­ma benutz­te Sche­ma viel­leicht zu unkri­tisch. For­scher Frei­tag bie­tet noch mehr Stoff zum Nach­den­ken: Gera­de die Des­in­vol­vie­rung ver­träg­li­cher Men­schen aus dem Medi­en­sys­tem soll­te der Poli­tik, aber auch dem Jour­na­lis­mus und dem Mar­ke­ting zu den­ken geben – jeden­falls dem gewis­sen­haf­ten Teil davon.

Daten
Vier reprä­sen­ta­ti­ve Umfra­gen mit ver­schie­de­nen Metho­den die­nen als Basis für die Stu­die von Mar­kus Frei­tag. Total umfas­sen sie 14’000 Befrag­te. Aus­ge­wer­tet wur­den die Daten mit mul­ti­no­mi­na­len Regres­si­ons­ana­ly­sen. Berich­tet wer­den hier nur signi­fi­kan­te Merk­ma­le, kon­trol­liert durch übli­che Merk­ma­le der poli­ti­schen Sozio­lo­gie resp. poli­ti­schen Ein­stel­lungs­for­schung (vgl. Tabel­le 4.1, Frei­tag (2017))

freitag


 
Quel­le: Frei­tag, Mar­kus (2017). Die Psy­che des Poli­ti­schen. Was der Cha­rak­ter über unser poli­ti­sches Den­ken und Han­deln ver­rät. Zürich: NZZ Libro.

Illus­tra­ti­on: Pixabay.

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