Die Tessinerinnen und Tessiner vertrauen der Schweizer Regierung – auch ohne eigenen Bundesratssitz

Die feh­len­de Ver­tre­tung in der Lan­des­re­gie­rung sowie die zuwei­len abwei­chen­de Mei­nung bei eid­ge­nös­si­schen Abstim­mun­gen schei­nen sich für Tes­si­ne­rin­nen und Tes­si­ner nicht nega­tiv auf das Ver­trau­en in den Bun­des­rat aus­zu­wir­ken. Sie ver­trau­en dem Bun­des­rat eben­so sehr wie Stimm­be­rech­ti­ge aus der Deutsch­schweiz und der Roman­die. Oft lie­gen die Ver­trau­ens­wer­te im Tes­sin sogar ein biss­chen über dem Durch­schnitt. Das zeigt eine Ana­ly­se von FORS, dem Schwei­ze­ri­schen Kom­pe­tenz­zen­trum Sozi­al­wis­sen­schaf­ten in Lausanne.

Ver­si­on fran­çai­se / Ver­sio­ne italiana

Anläss­lich der Bun­des­rats­wahl vom 20. Sep­tem­ber 2017 stellt sich aber­mals die Fra­ge nach der ange­mes­se­nen Ver­tre­tung der Sprach­re­gio­nen in der Exe­ku­ti­ve. Die Ein­bin­dung der sprach­li­chen Min­der­hei­ten in die Regie­rung hat in der Schweiz Tra­di­ti­on. Sie ist nicht nur wich­tig für den Zusam­men­halt des kul­tu­rell diver­sen Lan­des, son­dern auch eine Vor­aus­set­zung für die Kon­kor­danz. Über­dies schreibt die Bun­des­ver­fas­sung seit 1999 vor, dass die Lan­des­ge­gen­den und Sprach­re­gio­nen ange­mes­sen im Bun­des­rat ver­tre­ten sein sollen.

Hohes Regierungsvertrauen im Tessin

Gemein­hin kann ange­nom­men wer­den, dass sich Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger bes­ser reprä­sen­tiert füh­len, wenn jemand aus ihrer Regi­on in der Regie­rung Ein­sitz hat. Eine Ana­ly­se des Regie­rungs­ver­trau­ens nach Sprach­re­gio­nen lie­fert indes erstaun­li­che Ergeb­nis­se. Obwohl das Tes­sin seit 18 Jah­ren nicht mehr im Bun­des­rat ver­tre­ten ist, ver­trau­en Per­so­nen aus der ita­lie­ni­schen Schweiz dem Bun­des­rat im Durch­schnitt eben­so sehr wie ihre deutsch- und fran­zö­sisch­spra­chi­gen Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­ger, oft sogar noch ein biss­chen mehr.

Abbildung: Anteil Befragte mit Vertrauen in den Bundesrat (in %)

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Quelle: Voxit, eigene Darstellung

Der Ver­lauf des Regie­rungs­ver­trau­ens der ita­lie­nisch­spra­chi­gen Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger folgt ziem­lich genau dem Ver­lauf der übri­gen Schweiz. In der obi­gen Gra­fik sind neben den Kur­ven für das Ver­trau­en in den Bun­des­rat auch die ent­spre­chen­den Unsi­cher­heits­be­rei­che dar­ge­stellt. In der 30-jäh­ri­gen Mess­pe­ri­ode war das Regie­rungs­ver­trau­en im Tes­sin in 15 Jah­ren signi­fi­kant höher als in der rest­li­chen Schweiz. Zu beob­ach­ten ist dies in sämt­li­chen Jah­ren, in denen sich die schat­tier­ten Unsi­cher­heits­be­rei­che nicht überschneiden.

Von 1987 bis 1999 war mit Fla­vio Cot­ti (CVP) das letz­te Mal ein Tes­si­ner im Bun­des­rat ver­tre­ten. In die­sen zwölf Jah­ren wie­sen die ita­lie­nisch­spra­chi­gen Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer stets ein leicht über­durch­schnitt­li­ches Regie­rungs­ver­trau­en aus. Nach einem kur­zen Ein­bruch im Jahr 1999, dem Rück­tritts­jahr Cot­tis, erhol­te sich das Regie­rungs­ver­trau­en der ita­lie­nisch­spra­chi­gen Min­der­heit rela­tiv schnell und erreich­te auch in den Fol­ge­jah­ren meist über­durch­schnitt­li­che Werte.

Das Tessin entscheidet an der Urne häufig anders als die Mehrheit

In Anbe­tracht der lan­gen Peri­ode ohne eige­nen Bun­des­rat mag es erstau­nen, dass das Tes­sin der Schwei­zer Lan­des­re­gie­rung glei­cher­mas­sen stark ver­traut wie der Rest der Schweiz, bezie­hungs­wei­se oft noch mehr. Die­ser Befund ist aus einem wei­te­ren Grund bemer­kens­wert. Das Tes­sin tickt näm­lich anders – so oder ähn­lich hört man es zuwei­len nach eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mun­gen, wenn das Tes­si­ner Stimm­volk anders ent­schei­det als die Rest­schweiz. Bei­spiels­wei­se in der Sozi­al­po­li­tik wur­de das Tes­sin in der Ver­gan­gen­heit schon öfter über­stimmt und dem­nach min­o­ri­siert. So fan­den bei­spiels­wei­se die Vor­la­gen zur Ein­füh­rung der Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung (1999), zur Her­ab­set­zung des Ren­ten­al­ters (2000) und zur Erhö­hung der AHV-Ren­ten (2016) Unter­stüt­zung im Süd­kan­ton, wäh­rend sie gesamt­schwei­ze­risch von einer deut­li­chen Mehr­heit ver­wor­fen wurden.

Auch in der Aus­sen­po­li­tik ent­schei­den die Tes­si­ner Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger häu­fig anders als der gesamt­schwei­ze­ri­sche Tenor. Das Tes­sin lehn­te im Jahr 2000 die bila­te­ra­len Ver­trä­ge mit der EU ab, 2002 den Bei­tritt zur UNO sowie 2005 und 2009 die Aus­deh­nung der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit. In der jüngs­ten Ver­gan­gen­heit votier­te das Tes­si­ner Stimm­volk bei aus­län­der- und migra­ti­ons­po­li­ti­schen Vor­la­gen zwar meist im Ein­klang mit den ande­ren Kan­to­nen, die Mei­nun­gen fie­len im Süd­kan­ton aller­dings pro­non­cier­ter aus als in der übri­gen Schweiz. So unter­stütz­ten die Tes­si­ne­rin­nen und Tes­si­ner bei­spiels­wei­se die Mas­sen­ein­wan­de­rungs­in­itia­ti­ve (2014) mit einem Ja-Anteil von 68 Pro­zent am stärksten.

Die grös­se­re Skep­sis gegen­über Aus­län­dern und Immi­gran­ten im Tes­sin ist ins­be­son­de­re dar­auf zurück­zu­füh­ren, dass der Süd­kan­ton stär­ker von aktu­el­len poli­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen, wie der Migra­ti­ons­kri­se, der Grenz­gän­ger-Pro­ble­ma­tik und von Lohn­dum­ping, betrof­fen ist als ande­re Kan­to­ne. Für poli­ti­schen Zünd­stoff sorgt aber auch die geo­gra­fi­sche Lage des Tes­sins. Im Abstim­mungs­kampf über den Bau einer zwei­ten Gott­hardröh­re war die jah­re­lan­ge Abge­schnit­ten­heit des Tes­sins vom natio­na­len Stras­sen­netz wäh­rend der Sanie­rung des bestehen­den Tun­nels ein zen­tra­les Argu­ment.

Vertretung im Bundesrat hat wohl keine direkten Auswirkungen auf das Regierungsvertrauen

Den gele­gent­li­chen Abwei­chun­gen von der Mehr­heits­mei­nung und der feh­len­den Ver­tre­tung des Tes­sins im Bun­des­rat zum Trotz – die ita­lie­nisch­spra­chi­gen Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­ger ver­trau­en der Schwei­zer Lan­des­re­gie­rung. Die zukünf­ti­gen Abstim­mungs­ana­ly­sen wer­den zei­gen, inwie­fern sich die­ses Ver­trau­en durch die all­fäl­li­ge Wahl des Tes­si­ners Igna­zio Cas­sis in den Bun­des­rat ver­än­dern wird. Wenn man die ver­gan­ge­nen 30 Jah­re betrach­tet, ist es aber unwahr­schein­lich, dass sie sich ent­schei­dend auf das Regie­rungs­ver­trau­en der Tes­si­ne­rin­nen und Tes­si­ner aus­wir­ken wird.

Daten und Methoden
Seit über 30 Jah­ren wird im Nach­gang zu eid­ge­nös­si­schen Abstim­mun­gen (frü­her VOX‑, heu­te VOTO-Umfra­gen) das Ver­trau­en der Schwei­zer Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger in den Bun­des­rat erho­ben. Die Ana­ly­se die­ser Fra­ge lie­fert auf­schluss­rei­che Erkennt­nis­se dar­über, was die Stimm­be­rech­tig­ten von der Lan­des­re­gie­rung halten.

Daten:

Der Voxit-Daten­satz kom­bi­niert alle VOX-Umfra­gen. Dies sind Abstim­mungs­nach­be­fra­gun­gen zu 297 Vor­la­gen von 1981 bis 2016. Seit 1987 wer­den auch Tes­si­ne­rin­nen und Tes­si­ner sys­te­ma­tisch befragt, wes­halb eine Auf­tei­lung nach Sprach­re­gi­on erst ab die­sem Jahr mög­lich ist.

Fra­ge:

In den VOX-Umfra­gen wur­de das Regie­rungs­ver­trau­en der inter­view­ten Per­son mit­tels der Fra­ge, wel­cher der bei­den fol­gen­den Mei­nun­gen man am ehes­ten zustim­me, ermittelt:

Mei­nung 1: Ich kann mich meis­tens auf die Regie­rung im Bun­des­haus ver­las­sen. Sie han­delt nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen, zum Woh­le aller.

Mei­nung 2: Im Bun­des­haus wird immer mehr gegen und immer weni­ger für das Volk ent­schie­den. Die Regie­rung kennt unse­re Sor­gen und Wün­sche nicht mehr.


Für wei­te­re Aus­künf­te: Lukas Laue­ner, FORS: +41 (0)21 692 46 71

Foto: Luga­no, Piaz­za Riforma 

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